Der Affekt des Staunens und der Blick für das Andere

Neue Fundstücke aus dem Nachlass von Hans Blumenberg

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits zu seinen Lebzeiten galt der Phänomenologe Hans Blumenberg (1920–1996) als interdisziplinär anerkannter, eigenständiger, auch eigensinniger Philosoph. Akademisch etabliert, an den Universitäten in Gießen, Bochum und zuletzt in Münster tätig, publizierte Blumenberg weit über die Philosophie hinaus beachtete Bände wie Die Legitimität der Neuzeit (1966) und die Arbeit am Mythos (1979). Er veröffentlichte Beobachtungen und Erkundungen zu Johann Sebastian Bach, Johann Wolfgang von Goethe, Ernst Jünger und Theodor Fontane. Der philosophische Grenzgänger verband hohe Sachkenntnis mit einer sensiblen Wahrnehmung. Noch immer – und dies zeigt auch der vorliegende, umfangreiche Band Phänomenologische Schriften – finden sich kleine Schriften und Fragmente in dem reichhaltigen Nachlass, die sorgfältig ediert dem Publikum zugänglich gemacht werden und lesenswert sind.

Die im Titel genannten Jahresziffern bezeichnen den Horizont der Zeit, vor dem das nun veröffentlichte Konvolut an Texten entstanden ist, und zugleich die philosophische Hinordnung der Arbeiten, in denen Gegenstände der Philosophie weniger analysiert und methodisch dargelegt, sondern nachvollzogen, geordnet und manchmal nur schlicht wahrgenommen werden. Blumenbergs Denken fußt auf den Überlegungen eines anderen Solitärs in der deutschen Philosophie. Seine Arbeiten verweisen zuweilen diskret, mitunter explizit auf Resonanzräume in den Werken Edmund Husserls. Darüber hinaus verfügt Blumenberg über Bezüge zu Martin Heidegger, ohne sich jedoch dessen existenzphilosophischen Duktus des Nachdenkens und Sprechens über Philosophie anzueignen. Blumenberg fand eine eigene philosophische Sprache, die zwar Sympathie und geistige Verwandtschaft mit Husserl und Heidegger, aber auch literarische Dimensionen aufweist.

Die in diesem Band zusammengestellten Texte zeigen die gedankliche Weite von Blumenbergs philosophischen Arbeiten. Er möchte kennenlernen, beschreiben, verstehen, zur Vertrautheit mit der Welt einladen. So nennt er, trotz nuanciert vorgebrachter kritischer Anfragen, Immanuel Kant einen „Glücksfall“ und widerspricht auch einer pessimistisch getönten philosophischen Weltanschauung. Wir bräuchten denkend „nicht unzufrieden zu sein“:

Man hat sich immer mit dem arrangiert, was man zu wissen glaubte, und wäre nur daran verzweifelt, den Grad der Unwissenheit zu kennen, den die Späteren jenen Früheren zuzuschreiben instand gesetzt wurden.

Kant habe dann geholfen, „uns klarer sehen zu lassen, welches die Probleme sind, die wir uns nicht willkürlich stellen oder bei Überdruß an ihrem Lösungsverzug abschalten können.“ Blumenberg deutet auf die Offenheit hin, die ermöglicht, sich phänomenologisch in der Welt zu orientieren. Die Phänomenologie sei eine „elastische Methode der Beschreibung“. Er verweist auf die Verflechtungen von Philosophie und Zeit, zuweilen mit einem durchaus vornehmen, zurückhaltenden Ton, der respektvolle Referenz gegenüber anderen Denkern erkennen lässt. Blumenberg nimmt das Moment der Subjektivität wahr, die zwar eine „Störung“ sei, wenn der Erkennende nach Objektivität strebe und diese doch durch philosophische Reflexion nicht gänzlich aufheben könne: „Subjektivität ist dabei die Störung, die nicht ausgeschaltet, aber domestiziert werden kann. Mit ihr ist dann zu leben wie mit dem Odium, der Störung die Zuneigung nicht entziehen zu können.“

Blumenberg vermochte Denkmuster zu variieren und mit behutsamen Andeutungen vertraute Gewohnheiten der Philosophie zu befragen. Die „Überraschung“, eher nicht das Staunen, bezeichnet er als „Elementarerlebnis“. Er scheint den philosophischen Affekt des Staunens über die Beschaffenheit der Welt geradezu umzuwenden oder auch zu relativieren, wenn er feststellt, dass die menschliche Einbildungskraft auch andere Gebilde erdenken könne, während „die Welt nicht so fremdartig und chaotisch für unsere Fassungskraft ist, wie unsere Vernunft sie noch zu denken vermag“. Die phänomenologische Arbeit kennzeichne sich zudem durch die „Großzügigkeit“ in Hinsicht auf die „Grauzonen“ aus, zudem dadurch, dass mögliche Konflikte, die nicht wesentlich seien, auch vermieden würden. Hans Blumenberg bestimmt als Vorzug einer Theorie, vorausschauend zu operieren, also den Widerspruch zu erwarten, aber nicht vor diesem zu kapitulieren: „Das Beste, was eine Theorie dabei überhaupt leisten kann, ist die Voraussage einer bestimmten Art von Widerspruch und dessen vorgreifende Umorientierung zur zusätzlichen Bestätigung der Theorie.“ Die integrative Kraft der Theorie, die das Widerstreitende, auch das bewusst der Theorie zuwiderlaufende Denken scheinbar antizipierend voraus nimmt, erscheint gleichwohl wie eine eigenartige Konstruktion. Bleibt eine phänomenologische Theorie somit beliebig erweiterungsfähig? Oder, auf andere philosophische Denksysteme gewendet, bestärkt Georg Wilhelm Friedrich Hegels Widerspruch gegenüber Kants kritischer Philosophie wirklich dessen Denken? Blumenbergs Erwägungen ließen sich so fortsetzen, dass eine Zurückhaltung sachgemäß sein könnte, dass also die theoretische Formung so offen angelegt ist, dass das zunächst Widerspruchsvolle sich doch als Ergänzung und Bestätigung erweisen kann.

Die phänomenologische Vorstellung der „Lebenswelt“ gehört nach Blumenberg zweifellos hierzu. Er möchte nicht von einer „Konstruktion“ der „Lebenswelt“, sondern von einer Form der „Restitution“ sprechen. Die Konstruktion wäre hermeneutisch vom Horizont des Subjekts aus zu begreifen und hierdurch zugleich begrenzt. Zur „Thematisierung der Lebenswelt“ gehöre der „Verzicht aufs Urteilen“. Die „Lebenswelt“ sei zugleich die „Sphäre des ungekannten Interesses“ und reiche über den Denkakt des Subjekts hinaus. In ihr gebe es das „Absolute im Plural“, das im Raum der „Intersubjektivität“ gegenwärtig sei, als eine wahrnehm- und erfahrbare Vielfalt von Absolutheiten. Der Blick für den Anderen und das Andere öffnet sich in dieser Konstellation: „Durch Intersubjektivität findet die funktionale Zuordnung des Menschen in der Welt zur absoluten Subjektivität statt. Sie gibt ihm das Recht, durch Reflexion zum Zentrum einer Evidenz vorzudringen, die mit seiner empirischen Existenz als der eines faktischen Daseins unvereinbar zu sein scheint.“ Der Andere, das Andere wird beschreibbar, sichtbar, dem phänomenologisch wahrnehmenden Ich gegenwärtig. Zur Erhellung dieser fragmentarisch bleibenden Überlegungen müssen jedoch auch Lektüren anderer Schriften des Autors erfolgen, die über diesen Band hinausreichen. Mitunter scheinen Blumenbergs Reflexionen auch zu einer kontemplativ-meditativen Lektüre, zu einer dennoch säkularen, philosophischen Vergegenwärtigung anzuregen. Innerhalb der Geschichte wissenschaftlichen Denkens habe sich ein „Bruch mit der Lebenswelt“ vollzogen. Blumenberg denkt, mit Husserl und Heidegger im Gespräch, über das „freie Schweben“ und die „Bodenlosigkeit“ nach. Die Philosophie müsse erst den Boden erreicht haben, um abheben, um in freier Sphäre schweben zu können. Doch solle die Philosophie auch Bodenhaftung gewinnen: „Der Boden ist nicht nur, worauf man steht, geht und liegt, sondern auch und vor allem, worin man wurzelt. Bodenständigkeit ist nicht nur das Aufliegen und Aufruhen auf dem Boden, sondern das Hineinreichen in ihm und das Sichnähren aus ihm.“

Dies ernsthaft bedenkend, scheint das Denken mit Blumenberg, die Rezeption der phänomenologischen Methode, die Grundlagen zu beschreiben, auf denen wir uns lebensweltlich bewegen. Zu abschließenden philosophischen Erkenntnissen müssen wir dabei nicht gelangen, aber die Lektüre der Schriften von Hans Blumenberg weckt das Interesse, sich phänomenologisch neu in der Welt zu orientieren. Der Versuch, die Welt der Erfahrungen wahrhaft zu verstehen, beginnt mit der Wahrnehmung und der sorgfältigen Beschreibung, vielleicht auch noch immer – trotz Blumenbergs Vorbehalt – mit dem Affekt des Staunens.

Titelbild

Hans Blumenberg: Phänomenologische Schriften. 1981-1988.
Herausgegeben von Nicola Zambon.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
519 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587218

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