Geschwisterähnlichkeiten

Nach über 20 Jahren erscheint der Wittgensteinsche Familienbriefwechsel als ergänzte Ausgabe

Von Nico Schulte-EbbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nico Schulte-Ebbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Lesen von Briefen, die nicht für einen selbst, geschweige denn für eine breite Öffentlichkeit bestimmt sind, umgibt eine Aura des Verbotenen; man bricht in die Privatsphäre, in Gedanken und Gefühle anderer Menschen ein wie in eine Bank oder ein Haus. Warum sollte man das tun? Warum sollte man das Briefgeheimnis verletzen? Aus purem Voyeurismus? Oder doch eher aus Forscherinteresse, das in den Briefen einen unmittelbaren biografischen Wert sieht? Antworten auf derartige Fragen liegen im Status der Briefeschreiber. So stellte Émile Zola in einem Aufsatz anlässlich des 1876 veröffentlichten Briefwechsels Honoré de Balzacs fest:

Gewöhnlich erweist man den berühmten Männern mit der Veröffentlichung ihres Briefwechsels einen sehr schlechten Dienst. Sie wirken darin fast immer egoistisch und kalt, berechnend und eitel. Man sieht darin den großen Mann im Schlafrock, ohne Lorbeerkranz, außerhalb der offiziellen Pose; und oft ist dieser Mann kleinlich, ja sogar schlecht. Nichts dergleichen bei Balzac. Im Gegenteil, sein Briefwechsel erhöht ihn. Man konnte in seinen Schubladen stöbern und alles veröffentlichen, ohne ihn auch nur um einen Zoll zu verkleinern. Er geht aus dieser schrecklichen Bewährungsprobe tatsächlich sympathischer und größer hervor.

Man kann sich also weiter fragen: Erhellt die Korrespondenz, diese „schreckliche Bewährungsprobe“, die musikalisch-künstlerischen, philosophisch-schriftstellerischen oder wissenschaftlichen Werke der Korrespondierenden, gibt sie also Zeugnis über Abläufe hinter den (persönlichen und soziokulturellen) Kulissen, oder findet sich in ihnen nur Belangloses, Intimes, Kompromittierendes? Im letzteren Falle müssten wir als unbekannte, unbeabsichtigte Adressaten ein neues Vertrauensverhältnis aufbauen und respektvoll mit diesen Informationen umgehen.

Bei dem in Innsbruck ansässigen, auf Belletristik und Krimis spezialisierten Haymon Verlag ist nun ein Band erschienen, dessen Titel zunächst überrascht: Wittgenstein. Eine Familie in Briefen. (Zuvor hatte Haymon bereits 1994 den Briefwechsel Ludwig Wittgensteins mit Ludwig Hänsel, 2000 denjenigen mit Rudolf Koder und 2006 die Korrespondenz Wittgenstein – Engelmann veröffentlicht.) Schnell wird jedoch klar – nicht zuletzt aufgrund des Schutzumschlages, auf dem prominent das Porträt des berühmten Philosophen als Fellow des Trinity College abgedruckt ist –, dass es sich bei dieser Sammlung um Briefe handelt, die zwischen Ludwig Wittgenstein und dessen Geschwistern kursierten, und zwar zwischen 1908 und 1951, Ludwigs Todesjahr; Briefe, die seine Geschwister untereinander ausgetauscht haben – inklusive der Brüder Johannes (vermisst, 1902), Rudolf (Suizid, 1904) und Konrad (Suizid, 1918) –, Briefe, die an die Eltern oder andere Verwandte gerichtet sind, findet man hingegen nicht. „Die hier veröffentlichten Briefe“, erklärt der inzwischen 91-jährige Mitherausgeber und Doyen der Wittgenstein-Forschung Brian McGuinness, „vermitteln nicht nur eine gewisse Vorstellung von den Ähnlichkeiten innerhalb der Familie, sondern auch von den objektiven und subjektiven Verschiedenheiten, die das Leben Ludwigs vielleicht nicht weniger prägten.“

Eine andere Art der ‚Familienähnlichkeit‘ kann anhand der Publikation selbst festgemacht werden, denn, so McGuinness weiter, „der Briefwechsel zwischen den Angehörigen wurde in einer früheren Ausgabe des vorliegenden Bands zum ersten Mal veröffentlicht.“ Diese inzwischen vergriffene Ausgabe ist 1996 als 23. Band der Schriftenreihe der Wittgenstein-Gesellschaft unter dem Titel Wittgenstein Familienbriefe beim heutigen Schulbuchverlag Hölder-Pichler-Tempsky in Wien erschienen und weist einige kleinere, doch nicht unwichtige Unterschiede zur jetzigen Haymon-Ausgabe auf: Zunächst wird in der Neuausgabe auf den Abdruck der jeweiligen ÖNB-Referenznummern der Briefe vor 1929 verzichtet, was durchaus nachvollziehbar ist, dürfte sich doch die Zahl der Leserinnen und Leser, die sogleich die Originale in der Autographensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek überprüfen wollen, in Grenzen halten. Ein weiterer Verzicht ist jedoch unglücklich und nicht nachvollziehbar: Konnte man in der Erstausgabe noch die englischen Originale der Briefe lesen, die während und kurz nach den beiden Weltkriegen aus Zensurgründen von Helene Salzer (1879–1956) und Margarete Stonborough (1882–1958) an ihren Bruder Ludwig gerichtet wurden, so verweist Brian McGuinness nun „auf den [aus über 2500 Briefen bestehenden] Gesamtbriefwechsel sowie die [ebenfalls von ihm herausgegebene, erstmals übertragene] englische Ausgabe des vorliegenden Bandes“, die unter dem präziseren Titel Wittgensteins Family. Corresponding with Ludwig Ende November 2018 bei Bloomsbury erscheinen wird. Es wäre wünschenswert und keineswegs problematisch gewesen, wenn man den Originalwortlaut der dreizehn in Englisch geschriebenen Briefe in den Anhang gestellt hätte, wie es beispielsweise der 1980 bei Suhrkamp publizierte Briefwechsel Wittgensteins mit Bertrand Russell, George Edward Moore, John Maynard Keynes, Frank Plumpton Ramsey, William Eccles, Paul Engelmann und Ludwig von Ficker handhabt. (Für die Übertragung ins Deutsche zeichnet einmal mehr der in Zürich lehrende Wittgenstein-Experte Joachim Schulte verantwortlich.) Der wesentliche Unterschied zwischen der Ausgabe von 1996 und derjenigen von 2018 liegt allerdings in 39 Briefen, die Ludwig und sein anderthalb Jahre älterer Bruder Paul (1887–1961) ausgetauscht haben und die nun zum ersten Mal veröffentlicht werden.

Am 23. August 1914 – Paul war gerade vier Tage als Nachrichtenpatrouillenführer in Galizien – zerschmetterte eine Kugel seinen rechten Arm; im Lazarett musste ihm dieser bis zur Mitte des Oberarms amputiert werden. Dieser (nicht nur für einen Pianisten wie Paul) existenzielle Verlust wird in der vorliegenden Familienkorrespondenz an keiner Stelle thematisiert, russisch-österreichische Zensur hin oder her. Aufschlussreicher sind – und das gilt nicht nur für diesen Fall – Ludwigs Diarien, in denen weitaus mehr über das Innenleben des Philosophen offenbart wird als in den doch recht distanzierten Briefen an seine Geschwister. So notiert Ludwig am 28. Oktober im ersten Heft seiner Geheimen Tagebücher: „Erhielt heute viel Post, u.a. die traurige Nachricht, daß Paul schwer verwundet und in russischer Gefangenschaft ist […]. Immer wieder muß ich an den armen Paul denken, der so plötzlich um seinen Beruf gekommen ist! Wie furchtbar. Welcher Philosophie würde es bedürfen, um darüber hinwegzukommen! Wenn dies überhaupt anders als durch Selbstmord geschehen kann!!“

Das genaue Gegenteil dieser tragischen Erlebnisse manifestiert sich einerseits in den Care-Paketen, die Paul seinem Bruder sowohl nach England als auch in die entlegenen österreichischen Dörfer sandte, in denen dieser als Volksschullehrer beschäftigt war („Herzlichen Dank für die ‚Südfrüchte‘“, so Ludwig, „Schokolade, Wurst & Käse sind aber keine Südfrüchte und überhaupt solltest Du Dich ein bißchen mäßigen!“). Andererseits zeigt sich in den ‚Nonsens-Briefen‘, in denen Paul und Ludwig zumeist Zeitungsartikel wechselten, über die sie sich dann lustig machten, die enge Bindung der beiden Brüder. Ein Beispiel ist als Faksimile auf Seite 235 wiedergegeben: Ein Ausschnitt aus der Hamburger Illustrierten vom 27. September 1930, in dem Paul Ludwig auf eine Statue Albert Einsteins aufmerksam macht, die neben anderen ‚geistigen Helden‘ seit Christi Geburt (darunter etwa Shakespeare, Lincoln und Gandhi) das Tor der Cathedral of Saint John the Divine in der Amsterdam Avenue in New York City ziert. Ludwigs Reaktion: „Als ich das Bild mit dem Einstein sah, sagte ich laut zu mir: es ist nicht möglich! Leider habe ich hier niemanden, der die Unmöglichkeit wirklich zu schätzen weiß & die ungeteilte Freude ist nur halbe Freude.“ So kann man in diesem humorvollen Austausch unter Brüdern ebenso ein Ventil sehen wie in Ludwigs ‚Unsinnskorrespondenz‘ mit Gilbert „Dear Old Blood“ Pattisson, einem seiner Studenten in Cambridge, oder seinem Ritual, nach anstrengenden Arbeiten und Vorlesungen abends ins Kino zu gehen, sich dort in die erste Reihe zu setzen und seine Gedanken einfach abzuschalten, ein Erlebnis, das er einem anderen seiner Studenten gegenüber, dem Amerikaner Norman Malcolm, mit einem „Duschbad“ verglich. Und auch mit seiner Schwester Helene („Höllönö“, wie sie selbst einmal in einem Brief schrieb) pflegte Ludwig einen ungezwungenen, freieren, geradezu albernen Umgang. In einem seiner letzten Briefe, datiert auf den 15. März 1951, richtet er sich mit folgender, inzwischen längst realisierter Zukunftsvision an sie: „Ich habe in der letzten Zeit oft an dich gedacht, mit dem Wunsche, ich könnte wieder einmal mit dir blödeln. Ich bin ein Jahrhundert zu früh auf die Welt gekommen, denn dann in 100 Jahren wird man ohne große Kosten Wien von Cambridge anrufen & ein Stündchen am Apparat blödeln können.“

Betrachtet man diese mit 39 Abbildungen versehene Familienkorrespondenz in toto, so fällt auf, dass neben allgemeiner, vor allem die Gesundheit betreffender Nachrichten aus dem Kreise der Familie, Literatur („Die erste Enttäuschung waren die Hebbelschen Nibelungen: ich finde sie ganz verfehlt“, Paul an Ludwig), Finanzen („Wäre Gretl damals Österreicherin & Du Amerikanerin gewesen, so hätte ich mein Geld unter Gretl, Helene & Paul verteilt, trotz meiner geringen Sympathien für Gretls damaliges Wesen“, Ludwig an Hermine) und neuen Lebensentwürfen („Die Veränderung in Dir geht ja so rapid, dass was heute noch möglich erscheint, morgen schon gänzlich ausgeschlossen ist“, Hermine an Ludwig), doch vor allem das Thema Musik den Diskurs der künstlerisch und musikalisch begabten Geschwister bestimmt, seien es Berichte über private Soiréen im Palais Wittgenstein in der Wiener Alleegasse (später Argentinierstraße 16), seien es Überlegungen zu Noten, Liedtexten und Interpretationen, seien es Gedanken über neue Stücke Josef Labors (1842–1924), des blinden, beinahe guruhaft verehrten ‚Hauskomponisten‘ der Wittgensteins, der – nebenbei bemerkt – ausgerechnet an Ludwigs 33. Geburtstag das Zeitliche segnete. In einem undatierten, wohl Ende der 1920er Jahre verfassten Brief an Paul betont Ludwig die Wichtigkeit Labors nicht allein für diese so musikaffine Familie, sondern ganz speziell für die Beziehung zu seinem Bruder: „Außerdem verbindet Dich & mich im Falle der Laborschen Musik noch das aktuelle Interesse an dieser Musik. Das sind die Gründe, warum ich es mir besonders wünsche Dich spielen zu hören.“

Auch wenn Ludwigs Briefe hier vollständig veröffentlicht sind, so haben die Herausgeber – wie schon bei der Erstausgabe 1996 – eine Auswahl der Geschwisterbriefe an Ludwig treffen müssen, die einerseits weder zensierend eingreift noch die typische Familiendynamik verzerrend darstellt, andererseits Langatmigkeit und Unwichtiges zu vermeiden sucht. Über das Verhältnis der Geschwister zueinander, das sich im Laufe der Jahre verschlechterte, teils bis zum Abbruch jeglichen Kontakts, äußert sich Ludwig in einem Brief an seine älteste Schwester Hermine (1874–1950) im November 1929: „Du kannst mit mir oder der Gretl ein Gespräch haben, aber schon schwer wir alle drei zusammen. Paul & Gretl noch viel weniger. Die Helene geht mit jedem von uns gut zusammen, aber es würde uns doch nie einfallen zu dritt Du, Helene & ich zusammenzukommen. Wir sind eben alle ziemlich harte & scharfkantige Brocken, die sich darum schwer aneinander schmiegen können.“ Ja, man merkt diesen Briefen an, in welch privilegiertem, abgeschottetem Elternhaus ihre Verfasser großgeworden sind, hineingeboren in eine der reichsten und mächtigsten Industriellenfamilien der späten Habsburgermonarchie; tiefe, dauerhafte Beziehungen zu anderen Menschen konnten die Geschwister nur äußerst selten aufbauen und pflegen.

Ludwigs Beitrag zu dieser aus insgesamt 220 Schriftstücken bestehenden Familienkorrespondenz beläuft sich auf 87 Briefe und Brieffragmente, die meisten davon sind an Helene (32) und an Hermine (30) gerichtet. Das Dialogische als Merkmal eines Briefwechsels, als Gesprächsersatz und Herstellung von Präsenz, wird im vorliegenden Fall allerdings durch die gravierenden Überlieferungslücken zum Monologischen degradiert, was dazu führt, dass keine Kohärenz aufgebaut wird, wodurch die Lektüre dieser privaten Epitexte leider allzu sprunghaft und oft zum eindimensionalen Stückwerk gerät. Besonders deutlich wird dies bei Margarete, von der 31 Briefe an ihren Bruder veröffentlicht sind, während der einzige Brief, den Ludwig an Margarete schrieb, aus einem nur wenige Zeilen umfassenden Fragment besteht, datiert auf September 1949. Zur Quellenlage gibt Brian McGuinness in der Einleitung zur 1996er Ausgabe der Familienbriefe folgende Auskunft: „Deren [Margaretes] ältester Sohn, der verstorbene Dr. Thomas Stonborough, erzählte dem Herausgeber Brian McGuinness, wie seine Mutter ihm kurz vor ihrem Tod eröffnete: ‚Ich habe sie vernichtet‘, und er verstand, daß sie von den Briefen sprach, die sie von Ludwig erhalten hatte.“ Ob man darin einen Akt zum Schutz der Privatsphäre zu erkennen glaubt oder ob es sich dabei – wie McGuinness vermutet – lediglich um eine Behauptung Gretls handeln mag, sei dahingestellt. Paul jedenfalls legte großen Wert auf die Wahrung nicht nur seines eigenen Privatlebens. So erfährt man aus Alexander Waughs recht holzschnittartiger Familienbiografie Das Haus Wittgenstein von der subtilen Verbundenheit beider Brüder, die sich 1938 zuletzt begegnet sind: „Von den Briefen, die er [Paul] bekam, sind nur die von Komponisten und Musikern und von seinem Bruder Ludwig (diese allerdings nicht vollzählig) erhalten.“

Die insgesamt 426 informativen Endnoten wurden überarbeitet und ergänzt (die Erstausgabe war mit leserfreundlicheren Fußnoten versehen), so dass sich auch der Wittgenstein-Novize schnell im Namensgeflecht zurechtfinden dürfte. Das genaue Gegenteil erfährt man allerdings beim Blick ins Inhaltsverzeichnis, in dem 21 Kapitel lediglich aus abstrakten Jahreszahlen bestehen: So findet man etwa Briefe aus dem Jahr 1923 auf den Seiten 169 bis 178, Briefe aus den Jahren 1932 bis 1934 sind auf den Seiten 231 bis 252 abgedruckt. Auch wenn jedem chronologischen Abschnitt ein kurzer biografischer Abriss vorangestellt ist, der Hintergrundinformationen bereitstellt, so wartet das Inhaltsverzeichnis per se keineswegs mit Inhalt auf. Das table of contents der englischen Ausgabe vermag diesbezüglich zu überzeugen: Von „Ludwig’s Early Letters“ über „The Tractatus and the elementary school years“ hin zu „The Anschluss and World War Two“ werden die Briefe konkreten biografisch-historischen Ereignissen zugeordnet, was die Orientierung wesentlich erleichtert.

Nachdem der Tractatus logico-philosophicus von mehreren Verlagen abgelehnt worden war, sandte Ludwig das Manuskript im Herbst 1919 in der Hoffnung auf Publikation an die Kulturzeitschrift Der Brenner und gab im Begleitschreiben an seinen Namensvetter von Ficker die folgende Verständnishilfe: „Ich wollte nämlich schreiben, mein Werk bestehe aus zwei Teilen: aus dem, der hier vorliegt, und aus alledem, was ich nicht geschrieben habe. Und gerade dieser zweite Teil ist der Wichtige.“ Bei der Lektüre der jetzt wiederveröffentlichten Briefsammlung kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als könnte diese Zweiteilung auch auf die Wittgensteinsche Familienkorrespondenz Anwendung finden.

Titelbild

Radmila Schweitzer / Brian McGuinness (Hg.): Wittgenstein. Eine Familie in Briefen.
In Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck.
Übersetzungen aus dem Englischen von Joachim Schulte unter Mitarbeit von Maria Concetta Ascher.
Haymon Verlag, Innsbruck 2018.
383 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783709934456

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