Sanftmütige Darstellung des Opernbetriebs

Ulrike Roos von Rosens Sammelband „Singen“ ist sehenswert, nicht lesenswert

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es lohnt sich, schon in der Schwangerschaft und selbst bei der Geburt zu singen“, behauptet Ulrike Roos von Rosen in ihrem neuen Buch Singen. In der Tat wird der Einfluss von Musik auf Geist und Körper von Wissenschaftlern auf der ganzen Welt untersucht. Deren Erkenntnisse spielen allerdings im Sammelband von Roos von Rosen keine Rolle. Lediglich ein kurzer Blick wird auf eine Tübinger Studie zum Unterschied der Hirnleistung beim lauten Singen und beim vorgestellten „leisen“ Singen gerichtet. Singen ist kein wissenschaftliches Buch, sondern eine unsystematische Sammlung von Kurzessays, Interviews, Statements und Bildern mit unklarer Zielgruppe. Zunächst werden biologische Kenntnisse aus der Schulzeit aufgefrischt, wenn dem Leser die Anatomie des Kehlkopfes erläutert wird. Dann folgt ein kurzer Einblick in die Voraussetzungen und Abläufe des Gesangsstudiums als Orientierungshilfe für angehende Studenten. Schließlich berichten Sänger vom Lernen, Proben und Auftreten. Im Anschluss richtet sich das Buch an professionelle Opernsänger und wird zu einem kurzen Ratgeber im Beruf: Wie und wo wird Sängern bei Lampenfieber und Stimmverlust geholfen, mit welchen Ängsten muss „man“ rechnen, wie viel kann man verdienen und wann sollte „man“ einen Auftritt „im Zweifelsfall absagen“?

Es ist schwer, die klingenden Künste in Worte zu fassen. Die Autorin wendet sich daher schnell vom „Singen“ ab und lenkt die Aufmerksamkeit auf den die Singenden umgebenden Bühnenbetrieb. In einem ausführlichen Interview berichtet Souffleuse Jana Frank von ihren Aufgaben, ihrem beengten Arbeitsplatz – dem „Souffleurkasten“ – und dem Vertrauensverhältnis zwischen Sängern und Souffleuse. Mehrere Angestellte der Salzburger Festspiele kommen zu Wort, darunter eine Hutmacherin, der Leiter der Herrenschneiderei und die langjährige Direktorin der Abteilung Kostüm und Maske. Sie erläutern unter anderem, weshalb Kostümoberteile für Sänger dehnbar sein müssen: Man müsse „daran denken, dass der Brustkorb sich beim Einatmen weitet.“ Bei manchen Tenören seien 15 Zentimeter Unterschied zwischen Ein- und Ausatmen zu berücksichtigen.

Mehrmals gerieren sich Interviews im Buch als Gastbeiträge. Beispielsweise schreibt die Sopranistin Hanna Herfurtner auf mehreren Seiten über den Begriff der „Mono-Oper“. Roos von Rosen bemüht sich nicht, die verschiedenen Beiträge einzufassen. Die Autorin dokumentiert die Arbeit einer Künstleragentur, wirft Blicke auf die Kindheit von Sängern und die Interessen von Regisseuren und entfernt sich hektisch springend vom Kern ihres gewählten Themas. Umso wichtiger werden die dem Text hinzugestellten Bilder und Grafiken. Die Oberflächlichkeit der Texte und die opulente Optik stehen zu diesen im Widerspruch. Die zahlreichen, großflächigen Bilder von Aufführungen in Salzburg und München sind von so großer Suggestionskraft, dass sie die Schwächen des Textes überlagern. Intensive Augenblicke aus Giuseppe Verdis Don Carlo und wilde, dynamische Momente wie beispielsweise eine wirbelnde Alice in Wonderland finden sich im Buch ebenso wie spannende Einblicke in die Werkstätten der Salzburger Festspiele. Die ungebrochene Vitalität der Oper hängt mit der Zauberwelt der Bühne zusammen. Von der Ausdrucksstärke seiner Bilder, der Wahl von Blickwinkeln und der „herrschenden Bühnenästhetik“ berichtet Opern- und Ballettfotograf Wilfried Hösl im Buch. Seine Fotografien stärken das Buch.

Ulrike Roos von Rosen hat einen so schlichten wie ehrgeizigen Titel für ihr Buch gewählt. Um diesem gerecht zu werden, hätte der Band mehr enthalten müssen als eine sanftmütige, oberflächliche Darstellung der Arbeit im Opernbetrieb von Süddeutschland und Salzburg. Vollkommen ausgespart wird die Geschichte des Singens. Dass das Chorsingen nach dem Wiener Kongress im 19. Jahrhundert regelrecht populär wurde und welche Bedeutung das Musik- und Kulturleben für den Zusammenhalt einer Gesellschaft haben, wären wichtige Bestandteile eines Kompendiums über das Singen gewesen. Schließlich feiern zwar große, berühmte und stolze Chöre wie der Frankfurter Cäcilienchor im Jahr 2018 ihre Zweihundertjahrfeier, aber weit mehr sorgen sich diese um die Zukunft der Gesangsvereine. Viele, meist überalterte Chöre im ländlichen Raum stehen vor ihrer Auflösung und mühen sich, einen Umbruch zwischen Tradition und Neustart durchzuführen. Ulrike Roos von Rosen begnügt sich mit einem beiläufigen Blick in das Archiv der Salzburger Festspiele, in dem „vielfältige Materialien aus fast hundert Jahren Festspielgeschichte“ zu finden seien. Welche genau, bleibt dem Leser jedoch verborgen. Anschließend stellt die Autorin die Frage, wie sich die „Bildwelten der Oper seit rund 100 Jahren verändert“ haben. Sie fragt nicht danach, wie sich das Singen, die Musik und der Mythos verändert haben. Im Was ist Was-Sachbuch Musik erfährt man mehr über das Singen.

Titelbild

Ulrike Roos von Rosen: Singen. Diana Damrau, Anja Harteros, Jonas Kaufmann und viele andere geben Auskunft.
Mit Beiträgen von Hanna Herfurtner, Rudolf Herfurtner und Tristan Braun. Mit Fotos von Wilfried Hösl und Illustrationen von Christopher Roos von Rosen.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2018.
224 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826064074

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