„Saget mir ieman, waz ist minne“

In ihrer Studie beschreibt Beate Kellner den Minnesang als dynamisches Dichtungsmodell

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Überlieferung mittelalterlicher Texte ist verwirrend und für den gewöhnlichen Literaturliebhaber unbefriedigend. Das Unbehagen ist jedoch unvermeidbar. Die Dichter des Mittelalters sind biographisch nicht oder kaum zu erfassen. Am Schnittpunkt zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zerfleddern ihre Werke in einer Vielzahl von Handschriften, für deren Herstellung und Verbreitung vor dem Buchdruck in der Regel klösterliche Schreibstuben sorgten. Die meisten Handschriften verdanken sich der Sammelleidenschaft von verschiedenen hochrangigen Auftraggebern und sind zeitlich deutlich nach dem Originaltext anzusiedeln. Aus der großen Zahl der sich aus dem Produktionsprozess ergebenden Varianten haben feinsinnige Philologen einen idealen Text zusammengestellt, um die frühe Dichtung einem breiten Publikum nahe zu bringen. Diese ideale Lesart entsprach aber kaum dem Autorenoriginal und transportierte in ihren Kürzungen, Umstellungen und Ersetzungen zumeist eine gehörige Portion Ideologie ihrer Entstehungszeit. Daher verwundert es nicht, wenn fast jede Gelehrtengeneration ein neues Licht auf die alten Texte wirft.

Nun also hat sich die Münchner Mediävistin Beate Kellner die Aufgabe gestellt, die Lieder der Hohen Minne und deren Autoren, allen voran Morungen, Reinmar und Walther, zu sichten und nach neuen Forschungsansätzen zu analysieren. Sie diskutiert eingehend die bisherige Forschung und revidiert so manche bislang geltende Überzeugung. Ihre umfangreiche Studie beabsichtigt jedoch „keine literaturhistorische Gesamtdarstellung des Minnesangs“. (Dafür verweist sie auf das Handbuch „Minnesang“, das sie mit Volker Mertens und Susanne Reichlin gemeinsam herauszugeben plant.) Vielmehr konzentriert sich die vorliegende Monographie auf die Fragen nach der „Idealisierung der Dame, nach Inszenierungen von Imagination, Träumen und Erinnerungen, nach Zeit und Zeitlichkeit der Lieder und nach Überschreitungen der Minnewerbung in höfische Diskurse“. Jeder Themenbereich wird problemorientiert eingeführt, dann an entsprechenden Textbeispielen erläutert und schließlich erhellend resümiert.

In einem ausführlichen Einleitungskapitel legt die Autorin ihre literaturtheoretischen Prämissen dar. Weil seit den 1970er Jahren „sozialgeschichtliche Problemstellungen und Fragen nach Aufführung und Liedvortrag“ die Forschung dominierten, scheint es nun an der Zeit, auf der Basis dieser Erkenntnisse den Blick wieder verstärkt auf die „Artifizialität“ der Texte zu richten, ohne dabei in sprachimmanente oder rein strukturalistische Betrachtungen zurückzufallen. Vielmehr soll „durch eine eingehende Analyse von Versstruktur, Reim, Klang, Lexika, Syntax, Semantik, Rhetorik und diskursiven Verbindungen die implizite Poetologie und Funktion der jeweiligen Lieder im Horizont des Hohen Sangs erschlossen werden.“ Dabei erscheint es nunmehr geboten, sich von der Vorstellung eines Idealtextes zu lösen und jeder Handschrift beziehungsweise Überlieferungsvariante eine eigene situationelle und ästhetische Konsistenz zuzubilligen. Deshalb gilt es, Kennzeichen wie Originalität und Subjektivität über Bord zu werfen und gerade in einer thematisch und semantisch fest umrissenen Gattung wie dem Minnesang in der Spannung von Wiederholung und Differenz eine Dynamik zu entdecken, in der auch zentrale Begriffe wie vröide, truren, muot und fuoge an lustvoller Mehrdeutigkeit gewinnen. So entzaubert Kellner etwa das Ideal der Vollkommenheit der Dame als durchaus fragwürdige „Strategie der Selbstermächtigung“ der Sänger, offenbart die „Sprengkraft“ der hierarchischen Geschlechterkonstellation und entdeckt hinter dem Erziehungsgestus einer männlichen Affektbeherrschung im Frauendienst die weite „Dimension der Sexualität“. Dass sie überdies in den fein verästelten Nuancen des Hohen Sangs eine Reihe von Grenzüberschreitungen wahrnimmt, gehört offenbar zum wissenschaftlichen Diskurs der Gegenwart.

Fast scheint es, als könnten die eingehenden Einzeluntersuchungen gut und gerne neben jedes Handbuch treten. Für den akademischen Unterricht jedenfalls ist Kellners Monographie fortan unersetzlich. Überdies zeigt der Perspektivenwechsel, dass man noch viel Neues über die alten Texte erfahren kann.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Beate Kellner: Spiel der Liebe im Minnesang.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2018.
583 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783770563142

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