Back to the Roots

Mit der Geschwindigkeit von „25km/h“ finden zwei ungleiche Brüder zu sich selbst

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Schon der Beginn des Films macht Lust auf mehr: Der Vollblutgeschäftsmann Christian (Lars Eidinger) drängt seine schwäbelnde Taxifahrerin (Sesede Terziyan), die heruntergelassenen Schranken eines Bahnübergangs im Schwarzwald zu umfahren. Doch die Fahrerin weigert sich, will ihre Lizenz nicht verlieren und trotzt ihrem Gast, der pünktlich zur Beerdigung seines Vaters erscheinen will. Die Zeit vergeht, der Zug kommt nicht, Naturstille, ländliche Gemütlichkeit. Kurzerhand steigen sie aus, legen ihr Ohr auf die Schienen, um die Ankunft des Zuges abzuschätzen.

Natürlich kommt Christian zu spät zur Beerdigung. Sein Bruder Georg (Bjarne Mädel), den er dreißig Jahre nicht mehr gesehen hat, ist erzürnt und prügelt am Grab auf ihn ein. Nicht einmal zum Begräbnis seines Vaters könne er pünktlich sein. Während sich Christian bemüht, die Wogen bei einer Flasche Bier am Abend zu glätten, schweigt Georg. Ihre Lebensentwürfe – Christian als aktionistischer Geschäftsmann aus Singapur angereist, Georg auf dem Hof der verstorbenen Eltern und im Sägewerk arbeitend – scheinen zu verschieden zu sein, um eine gemeinsame Schnittmenge zu finden. Doch die entfremdenden Brüder nähern sich vorsichtig an, als Christian, der der eindeutig temperamentvollere der beiden ist, versöhnliche Akzente setzt.

Aus einem gemeinsamen Impuls heraus entschließen sich Christian und Georg, endlich ihren Jugendtraum nachzuholen: Auf dem Mofa zum Meer. Die Männer brechen aus ihren alten Gewohnheiten aus, lassen Beruf und Hof hinter sich und lernen auf einem Weinfest und einem Wurzelfestival neue Menschen kennen. Auf dem Roadtrip bemerken sie, dass sie sich doch gar nicht so unähnlich sind. Trotz ihrer Streitlust unterhalten sie sich auch ernsthaft, stellen ihre Lebensentwürfe in Frage. Auch wird man als Zuschauer Zeuge emotionaler Gespräche, etwa wenn Georg über die letzten Tage des an Krebs erkrankten Vaters spricht, zu dem Christian kein gutes Verhältnis gepflegt hat. Schließlich plaudert dieser beiläufig aus, dass er einen Sohn hat, der in Berlin wohnt. Georg reagiert verblüfft, als er erfährt, dass er bereits 15 Jahre alt sein muss. Kurzerhand drängt er Christian dazu, Kontakt zu ihm herzustellen. Auf dem Weg zur Ostsee – ihr persönlicher Sehnsuchtsort, der das Ende ihres Roadtrips markiert – machen sie Stopp in Berlin, wo Christian tatsächlich seinen Sohn beim Fußballspielen trifft. Die Brüder mischen sich unter die Jugendlichen und spielen bei einer Partie mit. Nach einem kurzen, aber zugewandten Plausch gehen Vater und Sohn wieder getrennte Wege, ohne dass Christian sich als Vater zu erkennen gibt. Gleichwohl bleibt dies nicht sein letzter Versuch, Kontakt aufzunehmen. Er ruft seine Ex-Freundin Lisa (Jördis Triebel), die Mutter des gemeinsamen Sohnes und mittlerweile promovierte Ärztin, an und fragt sie aus Verlegenheit, ob sie eigentlich ihr Studium beendet habe. Sie bricht das Gespräch ab, Christian und Georg setzen ihre Reise zur Ostsee fort. Zum Schluss kommen sie zu der Erkenntnis, längst verdrängte Wünsche wieder aufleben lassen zu wollen.

Mit 25km/h ist Markus Goller ein komödiantischer Roadtrip gelungen. Man mag zu Beginn leicht stutzig sein, wenn man bedenkt, dass der Regisseur schon 2017 das gleiche Genre mit dem Film Simpel bedient hat, wo sich auch zwei ungleiche Brüder auf einer Reise annähern. Doch 25km/h hat eine völlig andere Ausgangssituation und ist insofern keine Kopie. Markus Goller beweist, dass er aus dem Genre des Roadmovies mehr Facetten herausholen kann, als man anzunehmen vermag.

Der Film ist in mehrerer Hinsicht originell. Zum einen spielen die Schauspieler Bjarne Mädel und Lars Eidinger ihre Figuren sehr überzeugend. Sie beherrschen die Klaviatur der Gefühle von tiefer Traurigkeit bis zum ausgelassenen Albernsein. Ihre Emotionalität, die mitunter in ihren – teils therapeutisch anmutenden – Dialogen, aber vor allem in ihrer Mimik zum Ausdruck kommt, ist die Stärke des Films, der dadurch nicht ins Sentimental-Kitschige abrutscht. Trotz der hervorragenden Chemie zwischen den beiden Hauptdarstellern verblassen die Nebenfiguren nicht, im Gegenteil. Sandra Hüller, Franka Potente, Alexandra Maria Lara oder Wotan Wilke Möhring verleihen ihren Charakteren eine prägnante Kontur.

Zum anderen zeichnet sich der Roadtrip durch Settings bzw. Ortschaften aus, die für den deutschen Film höchst ungewöhnlich anmuten, so etwa das Wurzelfestival in Paderborn. Das naheliegende Motto: Back to the Roots, das man als Programmatik der zu sich findenden Brüder betrachten kann. Denn je weiter Christian und Georg auf ihren Mofas durch Deutschland tingeln, desto klarer wird ihnen, was für sie den Sinn ihres Lebens ausmacht. Christian wünscht sich, endlich seinen Sohn, der bereits das Teenager-Alter erreicht hat, kennenzulernen, Georg wünscht sich, Dorfbewohnerin Tanja zu erobern, die in einer unglücklichen Ehe lebt. Begrabene Sehnsüchte sprudeln an die Oberfläche, jahrzehntelang verdrängte Gedanken werden ausgesprochen.

Die anfangs stockende Brüderbeziehung erhält im Handlungsverlauf eine schwungvolle Entwicklung. Christian und Georg bestärken sich zusehends gegenseitig, ihre Wünsche zu erfüllen – wenn auch nicht immer freundlich, sondern in eher barschem Tonfall. Aber genau hinter dieser robusten Gesprächsdynamik verbirgt sich letztendlich die gute Absicht, dem anderen – um eine saloppe Redensart zu bedienen – in den Hintern zu treten. Gleichwohl vermag der Film durch Logiklücken zu irritieren. Woher hat Christian beispielsweise fünfzehn Jahre nach der Trennung von seiner Ex-Freundin deren aktuelle Handynummer? Solche und ähnliche Fragen bleiben möglicherweise zugunsten der Dramaturgie unbeantwortet, fallen aber angesichts der erfrischenden Erzählweise des Films und grandiosen Spielfreude der Darsteller kaum ins Gewicht.

25km/h

Deutschland 2018
Regie: Markus Goller
Darsteller*innen: Lars Eidinger, Bjarne Mädel, Sandra Hüller, Franka Potente, Alexandra Maria Lara, Jördis Triebel
Spieldauer: 116 Minuten

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Weitere Filmrezensionen hier