1968 als Jahreszahl, Chiffre, Legende, Mythos, Bewegung

Wolfgang Kraushaar führt sie dem Leser in vier Bänden einer Illustrierten Chronik vor Augen

Von Bernd NitzschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Nitzschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wolfgang Kraushaars Festlegung der Grenzen der „68er-Bewegung“, die nach einer Demonstration in Berlin, bei der der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten in angeblicher Notwehr mit einem gezielten Schuss in den Hinterkopf gleichsam hingerichtet wurde, „im Frühsommer 1967“ „eruptionsartig entstanden“ und im Herbst 1969 „kaum weniger überraschend“ in sich zusammengebrochen sei, beziehungsweise in K- und sonstige Gruppen (einschließlich der RAF) zerfiel, trifft auf die Bundesrepublik zu. Im internationalen Maßstab gelten jedoch andere und je nach Land – Frankreich, Tschechoslowakei, Japan, China, Mexiko, USA usw. – unterschiedliche Zeitgrenzen, die dem vierbändigem Monumentalwerk zu entnehmen sind, in dem Kraushaar die Zentren der Revolten auf einer Weltkarte eingetragen hat. Mit Hilfe akribisch recherchierter Texte, die von als Faksimile abgedruckten Flugschriften und Buchtiteln ergänzt werden, führt er den Leser durchs Panoptikum der Swinging Sixties. Das war die Zeit der antikolonialistischen Befreiungsbewegungen, der Kulturrevolution in China (die Millionen Opfer forderte), der Sit-ins, Go-ins, Read-ins und Swim-ins in den USA (ursprünglich der Afroamerikaner, denen Anfang der 60er Jahre noch immer aus rassistischen Gründen der Zutritt zu ‚weißen‘ Bibliotheken und Schwimmbädern verboten war) sowie der Love-ins der ‚Blumenkinder‘ in Kalifornien, die die ‚sexuelle Revolution‘ ausriefen und dabei die tradierten Grenzen der Geschlechter und Generationen in Frage stellten. Die auf über 2000 Seiten verstreuten Fotodokumente, von denen einige – etwa das 1960 von Alberto Korda aufgenommene Portrait Che Guevaras – inzwischen Ikonen-Status erlangt haben, ermöglichen es selbst Lesern, die damals (noch) nicht dabei waren, die Zeiten nach- und mitzuerleben, in denen die Großmütter und Großväter von heute keinem über dreißig trauten.

Pop und Protest der 68er waren 2018 Anlass für zahlreiche Veranstaltungen – so auch einer Ausstellung im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe. Foto von © Bernd Nitzschke. Die folgenden Fotos wurden in dieser Ausstellung gemacht.

Oft wird, wenn man an 68 denkt, deshalb (stark verkürzt) von einer antiautoritären Jugendbewegung gesprochen. Das, was die intellektuelle Avantgarde seinerzeit in Bewegung setzte, hat sich, laut Kraushaar, allerdings erst allmählich entfaltet und sich dann bis „zum Ende der sechziger Jahre hin auf allen fünf Kontinenten in politischer, sozialer und kultureller Hinsicht so stark verdichtet (…), dass es angemessen erscheint, von der oder den 68er-Bewegungen zu sprechen“. In der BRD ging es zu Beginn des Jahrzehnts u. a. um den Abbruch der Beziehungen der SPD zum Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), der später in der Geschichte der außerparlamentarischen Opposition (APO) eine entscheidende Rolle spielen sollte. In Südafrika führte 1960 das Massaker von Sharpeville zur weltweiten Solidarität mit den Opfern der Apartheid, die gegen das Passgesetz demonstriert hatten, das der Regierung dazu dienen sollte, die Bewegungsfreiheit der farbigen Bevölkerung zu kontrollieren. In Frankreich war es der Prostest gegen den Algerienkrieg, der 1960 das Manifest der 121 inspirierte, unterzeichnet von Intellektuellen und Künstlern, die zur Kriegsdienstverweigerung in Algerien aufriefen (in Frankreich galt damals noch die allgemeine Wehrpflicht), darunter André Breton, Marguerite Duras, Jean-Paul Sartre, Alain Resnais, Piere Boulez und Claude Lanzmann.

Wenn man das intellektuelle Niveau der Protestierenden der damaligen Zeit mit dem geistigen Horizont eines Jörg Meuthen vergleicht, der auf einem AfD-Parteitag 2017 dem „links-rot-grün verseuchten 68er-Deutschland“ eine von ihm so genannten „konservative Reformation“ entgegensetzte, kann man nur noch resignierend ausrufen: Armes Deutschland! Es sei denn, man hat den provinziellen Habitus eines Alexander Dobrindt, der 2018 in der Tageszeitung Die Welt nachbetete: „Fünfzig Jahre nach 1968 wird es Zeit für eine bürgerlich konservative Wende in Deutschland.“

Angesichts pöbelnder Populisten mag man sich als Alt-68er nostalgisch in die Vergangenheit zurückbeamen, der Gegenwart entkommt man damit aber nicht. Ein halbes Jahrhundert nach 68 stellte Art Garfunkel in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Blick auf die USA unter Trump ernüchtert fest: „Ich erlebe eine sehr harte Zeit mit meinem Land. Es gibt eine ungeheure Toleranz für eine mittelmäßige, gegenaufklärerische Politik. (…) Die Reichen werden immer reicher und zahlen keine Steuern. Ich glaube, wir sind ein zynisches Land geworden.“ Und in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, das er ebenfalls 2018 gab, ergänzte Art Garfunkel: „Sie merken schon, ich bin ein Mann der Sechziger. Ich glaube, damals war die Welt gesünder, und danach ist die Jagd nach Geld und Profit tief in unsere Kultur eingedrungen.“

1965 hatten Simon & Garfunkel mit der Single The Sounds of Silence den endgültigen Durchbruch geschafft. 1966 folgte ihr Song 7 O’Clock News/Silent Night, eine Collage aus einem der bekanntesten Weihnachtslieder (Silent Night) und einer fiktiven Nachrichtensendung (7 O’Clock News), vorgetragen von einem Radiosprecher, in der auf reale Ereignisse der damaligen Zeit (Rassendiskriminierung, Vietnamkrieg usw.) Bezug genommen wurde. 1968 folgte Mrs. Robinson, der Titelsong des Films Die Reifeprüfung, in dem die sexuelle Revolution der 60er Jahre heiter ironisch aufgegriffen wurde: Ältere Frau (Anne Bancroft) bricht (aus) ihre(r) eintönige(n) bürgerliche(n) Ehe (aus) und macht damit einen jungfräulichen Mann (Dustin Hoffman) unglücklich glücklich. Zwei Jahre später stand dann die Single Bridge over Troubled Water sechs Wochen lang an der Spitze der US-Charts. Kurz darauf löste sich das Duo auf – und zeigte damit an, dass es auch noch ein Leben nach dem Erfolg gibt. Die Hippies hatten das 1967 ja schon vorgemacht: Im Summer of Love, in dem Scott McKenzie das Lied sang – „If you‘re going to San Francisco / Be sure to wear some flowers in your hair“–, das für immer mit der Flower Power Bewegung verbunden bleiben wird, trugen sie ihre Bewegung symbolisch zu Grabe, um sie auf diese Weise der Vermarktung zu entziehen. Vergebens. Die Hippiemode wurde in allen Sparten zum Verkaufshit. Anmerkung des Rezensenten: Jugendliche Abenteuerlust und ein 99-Doller-Greyhound-Busticket hatten ihn noch rechtzeitig nach San Francisco, das Mekka der Hippies, und Berkeley, die Wiege der Studentenbewegung, gebracht. Die Westküste war 1966 ja nicht nur Flower Power, sondern auch die Hochburg der amerikanischen Version der Kritischen Theorie. An der University of California lehrten damals Herbert Marcuse und Angela Davies.

Doch die 68er stürmten nicht nur rebellisch vorwärts, sie waren auch wertkonservativ. Sie nahmen Partei für Die Verdammten dieser Erde (so der Titel eines Buches des in Martinique geborenen Psychiaters Frantz Fanon, der sich dem algerischen Widerstand gegen Frankreich angeschlossen hatte). Und so legten amerikanische Umweltschützer einem fiktiven Indianerhäuptling, der zusehen muss, wie weiße Goldgräber sein Land aufreißen und Viehzüchter seine Lebensgrundlage, die Büffel der Prärie, vernichten, folgende Worte in den Mund:

Erst wenn der letzte Baum gerodet,
der letzte Fluss vergiftet,
der letzte Fisch gefangen ist,
werden die Menschen feststellen,
dass man Geld nicht essen kann.

„Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung“, schrieb Sigmund Freud 1930 (Das Unbehagen in der Kultur). Vier Jahrzehnte und einen Weltkrieg später folgten dreißig Wissenschaftler der Einladung des Fiat-Managers Aurelio Peccei, der im Zweiten Weltkrieg der antifaschistischen Partisanengruppe Giustizia e Libertà angehört hatte, und Alexander Kings, des Direktors der OECD-Abteilung für Wissenschaft, Technologie und Erziehung, nach Rom. Dort sprachen sie über die Bedingungen, die zu erfüllen wären, sollte es auch in der Zukunft noch sauberes Wasser zum Trinken und reine Luft zum Atmen geben. Das Ergebnis dieser Diskussionsrunde von 1968 war ein Plädoyer für nachhaltiges Wirtschaften, das 1972 unter dem Titel Die Grenzen des Wachstums (Meadows et al.) als Buch erschienen ist. Wegen angeblich unrealistischer Prognosen wurde es „als Unsinn abgetan. Heute ist klar: Das war ein Fehler.“ Warum? Antwort: „Tragisch aus heutiger Sicht ist, dass viele der düsteren Prognosen des Club of Rome inzwischen eingetreten sind, weil dessen Ratschläge ungehört geblieben sind. Die Zahl wild lebender Wirbeltiere hat sich seit 1970 um 60 Prozent verringert, die Erderwärmung lässt sich kaum noch stoppen, Süßwasserreserven und fruchtbares Ackerland schwinden (…). Was bleibt, ist ein Schaden, der vor allem künftige Generationen belasten wird“ (Süddeutsche Zeitung, 05.11.2018).

Und die heute lebenden Menschen – wie geht es ihnen? Die Automanager von VW (in Niedersachsen), BMW (in Bayern) oder Daimler (in Baden-Württemberg) sorgen – gestützt und geschützt von Verkehrsministern à la Dobrinth und Scheuer (CSU) – dafür, dass die Umsätze stimmen und die Luft zum Atmen immer schlechter wird. Um noch einmal Frantz Fanon zu zitieren: „Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt.“ Ja, Money, money, money / must be funny / in a rich man’s world. Das sang ABBA 1976. Und Winfried Kretschmann, der als Student Maoist, d. h. Mitglied des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (ein Zerfallsprodukt der 68er-Bewegung – gegründet 1973) war, fügte vier Jahrzehnte später, inzwischen war er der erste ‚grüne‘ Ministerpräsident eines Bundeslandes geworden, in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (2016) hinzu: „Der Verzicht war lange ein grünes Credo. Das hat nie funktioniert.“

Nun könnte man sagen, der Mann sei reifer geworden, habe aus Erfahrungen gelernt und deshalb seine Meinung geändert. Man könnte aber auch sagen, er ist sich treu geblieben. Denn so wie das natürliche Chamäleon sich treu bleibt, wenn es sich der jeweiligen Umgebung anpasst, so bleibt sich das politische Chamäleon treu, wenn es sich dem jeweils herrschenden ‚Zeitgeist‘ anpasst. Kraushaars Universalnachschlagewerk 1960ff. ist auch diesbezüglich eine wahre Fundgrube.

Alle vier Bände folgen einer chronologischen Ordnung, bei der das jeweilige Ereignis mit Angabe des genauen Datums dokumentiert wird. Im ersten Band (1960-1966) findet man zusätzlich eine informative „Einleitung“, in der die das Jahrzehnt bestimmenden Topoi kurz umrissen werden: Antibabypille und Minirock, Prager Frühling und Pariser Mai, Kulturrevolution und sexuelle Revolution, Beatles und Stones, Bürgerrechtsbewegung und Vietnamkrieg, Woodstock und Studentenbewegung, usw.

Die Uraufführung des Viet Nam Diskurses von Peter Weiss fand im März 1968 in Frankfurt am Main statt. Die Erstaufführung in der DDR besorgte wenig später das Berliner Ensemble. Foto von © Bernd Nitzschke

Der zweite (1967) und der dritte (1968) Band konzentrieren sich auf jeweils ein Jahr, während der vierte (1969) Band auch noch einen „Nachtrag 1979/80“ enthält, der mit einem ganzseitigen Bild Rudi Dutschkes beginnt. Er erlag am Heiligabend 1979 den Spätfolgen des am 11. April 1968 verübten Attentats, bei dem der rechtsradikale Hilfsarbeiter Josef Bachmann Dutschke mit dem Ruf „Du dreckiges Kommunistenschwein“ zwei Kugeln in den Kopf und eine in die Schulter jagte. Am 3. Januar 1980 wurde Rudi Dutschke auf dem St. Annen-Friedhof in West-Berlin beerdigt – und so endet die Illustrierte Chronik ebenso traurig, wie die (deutsche) Studentenbewegung einst begonnen hatte: Am 9. Juni 1967 wurde der in Berlin am 2. Juni von einem rechtsradikalen Polizisten erschossene Benno Ohnesorg in Hannover beerdigt.

Schlagen wir in Band 3 der Illustrierten Chronik für das Jahr nach, das der Bewegung ihren Namen gegeben hat, so finden wir dort als ersten Eintrag mit genauer Zeitangabe: „1.-12. Januar 1968“. Danach lesen wir: „An einem internationalen Kulturkongress in der kubanischen Hauptstadt Havanna nehmen ab dem 4. Januar rund 500 Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle aus 70 Staaten teil. Dazu zählen der französische Philosoph André Gorz, der britische Historiker Eric Hobsbawn, der italienische Verleger Giangiacomo Feltrinelli (…) und ihr bundesdeutscher Kollege Hans Magnus Enzensberger“ (an dieser Stelle Dank des Rezensenten an Wolfgang Kraushaar für dessen feine Ironie den „bundesdeutschen Kollegen“ betreffend; siehe dazu unten mehr). In der Abschlusserklärung des Kongresses wird an den in Bolivien verletzt in Gefangenschaft geratenen Ernesto ‚Che‘ Guevara als „Märtyrer“ erinnert, der mit gefesselten Händen von einem bolivianischen Unteroffizier im Beisein eines CIA-Agenten am 9. Oktober 1967 ermordet wurde. Bezüglich der Abschlusserklärung des Kongresses in Havanna heißt es in der Illustrierten Chronik weiter: „Die Teilnehmer werden aufgefordert, nicht mehr länger mit der Regierung der USA zusammenzuarbeiten und jegliche finanzielle Unterstützung durch amerikanische Institutionen auszuschlagen. Einer derjenigen, die diesem Appell Folge leisten, ist Enzensberger, der nach seiner Rückkehr auf die Annahme eines Stipendiums verzichtet.“ Es mussten danach noch einige Jahre vergehen, bevor Der Spiegel auf dem Titelblatt der Ausgabe vom 4. Februar 1991 neben der Schlagzeile „Vor dem Inferno“ und dem Bild eines US-Soldaten mit Gasmaske diese Erkenntnis wiedergeben konnte: „Hans Magnus Enzensberger – Saddam = Hitler“. Das war der propagandistisch orchestrierte Auftakt zum ersten Irakkrieg, an dem der inzwischen zum Großschriftsteller mutierte „bundesdeutsche Kollege“ im Inneren des Magazins mit einem Essay teilnahm, der über den zu Hitler II erhobenen Saddam Hussein Sätze wie diesen enthielt: „Er kämpft nicht gegen den einen oder anderen innen- oder außenpolitischen Gegner; sein Feind ist die ganze Welt.“

Na, wenn das so war, dann war es Notwehr, den Irak in die Steinzeit zurückzubomben. Das geschah mit ganzer Gründlichkeit aber nicht im ‚ersten‘ (1991), sondern erst im ‚zweiten‘ (2003) Irakkrieg, zu dessen Ouvertüre Der Spiegel vom 7. Februar 2003 mit der Schlagzeile „In göttlicher Mission – Der Kreuzzug des George W. Bush“ beitragen konnte. Diesmal ließ sich Wolf Biermann die Gelegenheit zur publizistischen Teilnahme an dem mit Hilfe von Fake News von Bush & Blair als unumstößlich notwenig dargestellten Krieg nicht entgehen. Im Spiegel vom 24. Februar 2003 bezeichnete er diejenigen, die gegen den Krieg protestierten, als „Nationalpazifisten“ (der Wortklang war im Hinblick auf die deutsche Geschichte gezielt bösartig gewählt). Und weiter: „Die entpolitisierten Kids der Spaßgesellschaft finden Frieden irgendwie geiler als Krieg. Und obendrein bläst auch Gottes Bodenpersonal beider Konfessionen todesmutig in die Anti-Bush-Trompete.“ Hätte man auf dem Titelblatt des Spiegels vom 7. Februar 2003 den Wiedergeborenen Christen Bush jr. nicht vor einem schwarzen Kreuz gesehen, könnte man Biermann als antiklerikalen Aufklärer gelten lassen. Um zu erkennen, was der wendige Bänkelsänger sonst noch alles ist, hilft ein Blick in die Illustrierte Chronik weiter, der dadurch erleichtert wird, dass jedem der vier Bände neben Abkürzungsverzeichnis und Bildnachweisen auch noch ein Orts- und ein Personenregister beigegeben ist. Und tatsächlich findet man im Personenregister aller vier Bände unter „Biermann, Wolf“ Eintragungen. Ich wähle den Eintrag in Band 4 zu „18. März 1969“ aus. Biermann wird mit dem „Berliner Kunstpreis 1969“  (d.h. mit dem Fontane-Preis = Literaturpreis des „Berliner Kunstpreises“) ausgezeichnet, erhält aber keine Ausreisegenehmigung der DDR-Behörden. Also schreibt er an seinen West-Berliner Verleger Klaus Wagenbach einen Brief, in dem er erklärt, „dass der Preis zwar ihm gehöre, das Geld jedoch gehöre ‚natürlich der APO‘. Man solle den Geldbetrag an Rechtsanwalt Horst Mahler übergeben, um damit die Rechtshilfe der außerparlamentarischen Opposition zu unterstützen.“ Als er 1972 in einem Interview gefragt wurde, ob er es nicht bedauere, wenn das Geld in der RAF-Kasse gelandet wäre, antwortete er: „Sie erwarten doch sicherlich nicht von mir, daß ich mich von der Roten Armee Fraktion distanziere? Ich will nicht in den Orden linker Hoher Priester aufgenommen werden, die der Baader-Meinhof-Gruppe ihren Segen vorenthalten. (…) Die Kommunisten in der Baader-Meinhof- Gruppe werfen ihr Leben in die Waagschale (…)“ (https://socialhistoryportal.org/raf/5342 – dort weiter unter: PDF: 0019720610.pdf). 1965 hatte Biermann Väterchen Stalins Republik besungen – und zwar sehr deftig: „Die DDR, mein Vaterland / Ist sauber immerhin / Die Wiederkehr der Nazizeit / Ist absolut nicht drin / So gründlich haben wir geschrubbt / Mit Stalins hartem Besen.“ Einige Jahre später wurde er dann Dissident. Noch etwas später pries er dann den „Comandante Che Guevara“ – wiederum sehr heftig: „Und bist kein Bonze geworden / Kein hohes Tier, das nach Geld schielt / Und vom Schreibtisch aus den Held spielt. […] Jesus Christus mit der Knarre / – so führt Dein Bild uns zur Attacke.“ Dann kam der April 1968 und Biermann trällerte Mit Marx- und Engelszungen (so der Titel seines Werkes):

Drei Kugeln auf Rudi Dutschke
Ein blutiges Attentat
Wir haben genau gesehen
Wer da geschossen hat […]
Die Kugel Nummer Eins kam
aus Springers Zeitungswald
Ihr habt dem Mann die Groschen
Auch noch dafür bezahlt […]

Ach ja, Springer! 2000 wurde Wolf Biermann „Chef-Kulturkorrespondenten“ der Springer-Zeitung Die Welt. Ein Vierteljahrhundert zuvor war er nach einem Konzert in Köln aus der DDR ausgebürgert worden. Jakob Moneta, der, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, aus Deutschland nach Palästina emigrierte und 1948 nach Köln zurückkehrte, wo er Chefredakteur der IG Metall-Zeitungen Metall und Der Gewerkschafter wurde, hatte dafür gesorgt, dass Biermann 1976 zum Konzert des IG-Metall-Vorstands nach Köln eingeladen wurde. Nach diesem Konzert nahm er ihn in seiner Frankfurter Wohnung auf. Was Moneta danach mit Biermann erlebte, schilderte er in einem Beitrag für die Sozialistische Zeitung, den er mit diesen Worten beendete: „Zum Schluss kann ich es mir nicht verkneifen, Wolf Biermann einen Spruch aus meiner jiddischen Muttersprache auf den Weg zu geben: ‚Nicht gedacht soll seiner werden’“ (http://vsp-vernetzt.de/soz/0124141.htm). 2008 schloss sich der Kreis um den Springer-Autor Wolf Biermann endgültig: Das Verlagshaus Axel Springer verlor den Prozess, den es gegen die Umbenennung einer Berliner Straße angestrengt hatte. Seither gibt es in Kreuzberg an der Ecke zur Axel-Springer-Straße eine Rudi-Dutschke-Straße (s. Abbildung Band 4, S. 489 der Illustrierten Chronik).

Und woran sollte man sich sonst noch erinnern, wenn man an das Jahrzehnt denkt, das unter der Chiffre „68“ bekannt geworden ist? Zum Beispiel daran, dass es damals nicht nur den Vietnamkrieg und Rassenunruhen gab, sondern auch Erbauliches und Friedvolles. Doch leider fehlt der Name des Sängers Hendrik Nikolaas Theodor Hein Simons, der als „Heintje“ bekannt wurde, im Personenverzeichnis des 3. Bandes der Illustrierten Chronik, obgleich dieser Holländer entscheidend zur deutschen Leitkultur 1968 beigetragen hat: Heidschi Bumbeidschi – Mama – Ich sing ein Lied für dich stand sechzehn Wochen in den deutschen Top-10 der Charts. Und der Seemann aus den Alpen, Franz Eugen Helmuth Manfred Nidl aus Wien, der als Freddy Quinn aus Sankt Pauli bekannt ist (sein Name ist weder unter „N“ noch unter „Q“ im Personenverzeichnis von Band 2 zu finden), stimmte 1967 sehnsuchtsvoll an:

Seemann, weit bist du gefahren,
Seemann, hast die Welt gesehn,
Sonne auf den Balearen,
Sterne auf und untergehn.

Seemann, hattest viele Bräute,
sagtest jeder, wart’ auf mich,
eine denkt an dich noch heute,
wartet immer noch auf dich.

Denkste! Frauen wie Uschi Obermaier, die Mitglied (darf man das gendersprachbewusst überhaupt noch so nennen?) der legendären „Kommune I“ waren, die sich in der Wohnung von Hans Magnus Enzensberger breit gemacht hatte, als der sich 1967 in Moskau aufhielt, dachten gar nicht daran, auf einen Freddy aus Sankt Pauli oder einen Heini aus Holland zu warten.

Auf diesem Foto demonstriert eine vielfältige Gleichstellungsbeauftragte. Foto von © Bernd Nitzschke

Uschi trieb es mit Rainer Langhans (sein Name wird im Personenverzeichnis mehrfach erwähnt, ihrer fehlt, weshalb der Rezensent an dieser Stelle eine Gelbe Karte wegen Geschlechterdiskriminierung zückt) und dann auch noch mit Jimi Hendrix und Mick Jagger, zum Beispiel. In dem ihr auf den Leib geschnittenen Film Das wilde Leben (2007) blafft Natalia Avelon (als Uschi Obermaier) Matthias Schweighöfer (als Rainer Langhans) an:  „Du hast Angst vorm Ficken!“ Das sagt die Frau, die erst einmal durch die weite Welt fahren musste, bevor sie Schmuck in Kalifornien entwerfen konnte, zu dem Mann, der seine Leidenschaften im Dschungelcamp bekämpfen musste, bevor er endlich dort wieder ankam, wo er einst als verklemmter Jung-68er Uschi so bitter enttäuscht hatte. Langhans: „Was geht mich Vietnam an? Ich habe Orgasmusprobleme.“ Heute ist er aber nicht mehr unfreiwillig impotent, sondern freiwilliger Asket. In einem Interview, das er 2011 der Süddeutschen Zeitung gab, fragte er sich entrüstet, ob Uschi „ernstlich glaubt, es so erlebt zu haben. Ich muss es ja annehmen, weil sie den Film wesentlich mitbestimmt hat. Dass sie die politischen Dinge vielleicht so sieht, wie im Film dargestellt, das mag ja sein. Aber unsere Beziehung?“

Schade, schade. Und während die 68er Herren damals meinten, sie seien dabei, sich von „repressiven Sexualstandards“ zu befreien, klagten die 68er Damen, man versuche, sie einer neuen Form von Repression zu unterwerfen. Dagegen wehrten sie sich mit dialektischer Schläue: „Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen!“ Dieser Satz stand auf dem Flugblatt, das der Frankfurter Weiberrat 1968 beim Delegiertentreffen des SDS in Hannover verteilte. Darauf war eine Frau mit Scharfrichterbeil abgebildet, die vor einer Trophäensammlung stand, die aussah, als sei sie von Jägern eingerichtet worden. In diesem Fall waren es aber Jägerinnen und an der Wand hingen keine Hirschgeweihe, sondern die abgeschnittenen Schwänze namentlich genannter SDS-Genossen (Dieter Kunzelmann, Reimut Reiche, Jürgen Krahl, Bernd Rabehl u. a.). Damit prangerte frau den „sozialistischen Bumszwang“ an, den mann damals mit „sozialistischem intellektuellem Pathos“ verkündete.

Im Western nichts Neues? Doch! Jetzt kam der Italo-Western in die Filmtheater – und vorbei war’s mit der Bewunderung für die Hollywood-Helden, die bis zur letzten Patrone Skalp und Weib gegen die Roten verteidigen mussten. Jetzt waren Outlaws wie Django und Sabata am Drücker. Jetzt besiegten Mestizen korrupte Marshalls und Viehbarone mussten ins Gras beißen. Jetzt eroberten der Bankräuber Clyde (Warren Beatty) und seine Lady Bonnie (Faye Dunaway) die Herzen des jungen Publikums. Auch der zweite Kultfilm jener Jahre, Easy Rider, ist ein Roadmovie, angefüllt mit der Musik der Zeit: The Pusher (Steppenwolf); Born to be wild (Steppenwolf); Wasn’t born to follow (The Byrds); If 6 was 9 (The Jimi Hendrix Experience) u.a. Sowohl Bonnie and Clyde (1967) wie Easy Rider (1969) sind inzwischen in der National Film Registry verzeichnet, die von der Library of Congress geführt wird, die damit Filme ausgezeichnet, die “culturally, historically, or aesthetically“ als sehr bedeutsam gelten. Zufall oder nicht – in beiden Filmen kommt es zu einem tödlichen Ende: Bonnie und Clyde werden von den Kugeln der Ordnungshüter durchsiebt; Wyatt (Peter Fonda) und Billy (Dennis Hopper), zwei langhaarige Hippies, werden bei ihrer letzten Fahrt von einem Pickup überholt, in dem zwei anständig frisierte amerikanische Bürger sitzen, die zum Gewehr greifen. In der Schlussszene des Films dreht die Kamera vom Tod auf der Straße ab und zeigt den leeren Himmel.

Es gab 1968 explizit politische, es gab aber auch Parolen, die zur psychedelischen Revolution aufriefen. Man konnte das Bewusstsein demnach nicht nur mit Hilfe von Büchern und politischen Aktionen verändern; man konnte es auch mit Drogen und Musik erweitern. Ja, nicht nur Herbert Marcuse, auch Timothy Leary war ein Prophet der 68er. „Turn on, tune in, drop out!“ Das war die Parole der Blumenkinder, die in Kabul (Afghanistan), Katmandu (Nepal), Goa (Indien) oder in Essaouira (Marokko) tanzten, kifften und liebten. Für die Hippies war die Welt ein großes Openairkonzert: „High sein, frei sein, überall dabei sein!“ Es begann 1967 mit dem Monterey Pop Festival und endete 1969 mit dem Woodstock Music and Art Festival. Beide Male trat Janis Joplin auf, deren Welt aus „Sex, Drugs & Rock’n’Roll“ bestand. „Das unstillbare Verlangen nach Drogen kann bei ihr allenfalls von der Lust auf Sex übertroffen werden, bei dem ihr schnell auffällt, dass Sex mit Männern nicht das volle Spektrum abdeckt, worauf ihr das eigene Geschlecht mit einigen Affären aushilft. Die Lebensweise der knallharten, fluchenden, saufenden, vögelnden und Heroin drückenden Schlampe gibt Janis scheinbaren Rückhalt bei ihrer rastlosen Suche nach Anerkennung“ (http://www.laut.de/wortlaut/artists/j/joplin_janis/biographie/index.htm). Ein Jahr nach Woodstock war Schluss: Janis Joplin war tot, gestorben an einer Überdosis Heroin. Im selben Jahr starb Jimi Hendrix, voll gepumpt mit Alkohol. Aus. Vorbei. Die Party endete mit Ernüchterung. „Eine Generation der Ausgeschlossenen, von Anfang an“ (s. Bernd Nitzschke, Konkursbuch 2, 1978, S. 11-22).

Ja, 1968, das war ein Jahrzehnt, in dem die Ordnung der Welt auf dem Spiel stand. Wie und wo das war, das kann man in dem hier besprochenen Buch nachlesen und sich anhand der Bilder auch noch einmal vor Augen führen. Am 4. April 1968 wurde der Bürgerrechtler Martin Luther King in Memphis, Tennessee, erschossen, weshalb er dann am Poor Peopl’s March auf Washington nicht mehr teilnehmen konnte. Im Mai 1968 errichteten die Studenten in Paris Barrikaden. Die französischen Gewerkschaften riefen den Generalstreik aus.

Mit diesem Plakat solidarisierten sich Pariser Studenten im Mai 1968 mit dem „unerwünschten“ Ausländer Daniel Cohn-Bendit, der in Berlin bei einer Kundgebung des SDS als Redner aufgetreten war und danach (bis 1978!) nicht mehr nach Frankreich einreisen durfte. Foto von © Bernd Nitzschke

Im Juni 1968 wurde Robert F. Kennedy erschossen. Er hatte gerade eine Vorwahl gewonnen und galt nun als aussichtsreichster Kandidat der Demokratischen Partei für die bevorstehende US-Präsidentschaftswahl. Damit war’s jetzt nichts mehr. In Prag ging 1968 der Frühling schon im August zu Ende – und danach kam der Winter: die ‚Bruderarmeen‘ des Warschauer Pakts sorgten für eisige Zeiten. Zwei Monate später griff das Militär in Mexiko-Stadt ein, als dort kurz vor Eröffnung der XIX. Olympischen Sommerspiele auf der Plaza de Tlatelolco die Studenten demonstrierten. Danach lagen Hunderte tot am Boden, niedergewalzt von Panzern, erschossen von Geheimpolizisten. Wer erinnert noch daran? Die freie Presse des Westens erinnert viel lieber an das Massaker, das zwei Jahrzehnte später auf dem Tian’anmen-Platz in Peking stattfand. Weitgehend vergessen sind inzwischen auch die beiden Afroamerikaner, die für ihr Land – die Vereinigten Staaten von Amerika – bei der Olympiade in Mexiko den 200m-Lauf gewannen. Bei der Siegerehrung streckten sie eine Faust mit schwarzem Handschuh, Symbol der Bürgerrechtsbewegung, gen Himmel, um auf diese Weise den alltäglichen Rassismus in ihrer Heimat anzuprangern. Das nahm man ihnen übel. Man warf sie aus dem US-Olympiakader. Ein Jahr zuvor hatte Muhammad Ali, Weltmeister im Schwergewichtsboxen, der seinen „Sklavennamen“ Cassius Clay abgelegt hatte, den Kriegsdienst in Vietnam verweigert („Kein Vietcong nannte mich jemals Nigger“). Dort war die ‚freie’ Welt gerade dabei, freie Sicht und Schussbahn mit Hilfe von Agent Orange (das heißt mit Dioxinen) zu bekommen. Also entlaubte man die Wälder und vergiftete den Boden, das Grundwasser und das menschliche Erbgut – weshalb noch heute in Vietnam missgebildete Kinder zur Welt kommen. Im März 1968 veranstaltete Lieutenant William Laws Calley Jr. im vietnamesischen Dorf My Lai ein kleines Privatmassaker. Nachdem er und seine Leute einen Teil der Bewohner liquidiert hatten, zogen sie zu einem Bewässerungsgraben. Dort harrten die überlebenden Dorfbewohner ihres Schicksals. „Mehrere GIs stießen die Menschen in den Graben oder prügelten sie mit ihren Gewehrläufen hinein, Calley erschoss ein zweijähriges Kind (…), schlug und erschoss einen Mönch (… und) tötete eine Frau, die auf einer Trage zum Graben gebracht worden war.“ Dann stellten die GIs „ihre M-16 auf Automatik, einer bediente ein Maschinengewehr, ein anderer warf Handgranaten (…)“ (Bernd Greiner: Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam. Hamburg 2008). Am Ende waren 500 Zivilisten tot. Lieutenant Calley jr. wurde nach Versuchen der Vertuschung und des Verschweigens des Verbrechens in den USA schließlich doch noch vor Gericht gestellt. Er erhielt eine lebenslange Haftstrafe. Das war am 31. März 1971. Drei Tage später ließ US-Präsident Nixon die Haftstrafe in Hausarrest umwandeln. Und wieder drei Jahre später begnadigte Richard Nixon – für den man den passenden Spitznamen Tricky Dick (s. dazu Frank Zappa: „Dickie’s Such An Asshole“) gefunden hatte – den Schlächter von My Lai. Andere Vietnam-Kriegsverbrecher brauchten nicht auf Begnadigung zu warten. Ihre Taten wurden erst gar nicht verfolgt. Das gilt für die vielen GIs, die sich in Vietnam an der systematischen Vergewaltigung von Frauen beteiligten, eine Kriegstaktik, die in der US-Army „als inoffizielle ‚Standing Operation Procedure‘“ bekannt war. Dabei schreckten die Täter vor keiner Grausamkeit zurück. „Individuelle Gewaltakte stehen neben Massenvergewaltigungen, rituelle Inszenierungen vor Publikum neben der heimlichen Tat […].“ Dokumentiert sind „Entführungen, in deren Verlauf junge Mädchen und Frauen unter Drogen gesetzt und tagelang missbraucht wurden“, bevor man sich ihrer durch Mord entledigte (Greiner 2008).

Bevor ich diese skizzenhafte Wiedergabe einzelner Ereignisse und Personen beende, die ich – zugegeben sehr subjektiv – ausgewählt habe, um ein Schlaglicht auf die 68er Bewegung(en) zu werfen und den Leser auf diese Weise mit Hilfe des von Wolfgang Kraushaar vorzüglich komponierten Werkes zu einer eigenen Tour durch das Jahrzehnt zu animieren, das die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert entscheiden prägte, will ich noch eine Entdeckung in eigener Sache mitteilen: Im dritten Band der Illustrierten Chronik der 68er Bewegung ist auf der Seite 286 ein Bild zu sehen, das mir bis 2018 unbekannt war. Man sieht einen jungen Mann, der ein Megaphon in der Hand hält, durch das die Rede eines älteren Mannes verstärkt wird, der daneben steht und in ein Mikrophon spricht. In der zugehörigen Eintragung mit der Überschrift „19.-21. Mai 1968“ erfährt man dazu weiter: „Unter dem Motto ‚Hunger im Bauch ist besser als Notstand im Land‘ führen 89 Studierende, in ihrer Mehrzahl Studentinnen, im Saal der Evangelischen Studentengemeinde (ESG) von Marburg einen 48 Stunden dauernden Hungerstreik gegen die Einführung der Notstandsgesetze durch. Die Initiative dazu ist von dem Psychologiestudenten Bernd Nitzschke ausgegangen. Der stellvertretende Chefredakteur der Marburger Blätter hatte dazu auf einem nach der zweiten Lesung des Gesetzesvorhabens im Bundestag einberufenen Teach-in aufgerufen. Die Aktion wird von zehn Professoren der Philipps-Universität ausdrücklich begrüßt“ – darunter auch der erwähnte ältere Herr, der Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth. Er war während der NS-Zeit im Widerstand aktiv, wurde 1937 von der Gestapo verhaftet und kurz darauf wegen Hochverrats zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach seiner Entlassung wurde er 1943 als „Bewährungssoldat“ ins Strafbataillon 999 eingezogen und an die Front nach Griechenland geschickt. 1944 desertierte er und schloss sich der Widerstandsgruppe ELAS an (Akronym für Ethnikós Laikós Apelevtherotikós Stratós; dt. Griechische Volksbefreiungsarmee). Er wurde von den Briten gefangen genommen und kam in ein Lager nach Ägypten. Nach dem Ende des Krieges trat er in die SPD ein. Nach Ablegung des 2. Staatsexamens als Jurist wurde er 1947 Richter in Potsdam. 1948 wurde er als Professor für Völkerrecht an die Universität Leipzig berufen. Nach der Zwangsvereinigung von SPD und KPD in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wurde er von den dortigen Machthabern als Kurier der West-SPD enttarnt und musste die SBZ fluchtartig verlassen. 1950 wurde er an die Philipps-Universität in Marburg berufen. Er setzte nun auch in der BRD seinen aufrechten Gang fort. Als sich die SPD, deren Mitglied er war, von ihrem Studentenverband, dem SDS, wegen dessen Kritik am Godesberger Programm trennte, solidarisierte sich Abendroth mit dem SDS – und wurde deshalb aus der SPD ausgeschlossen. Und somit schließt sich nun erneut ein Kreis. Ich zitiere aus Band 1 der Illustrierten Chronik, in dem es unter der Betreffzeile „19. Juli 1960“ heißt: „Der Parteivorstand der SPD in Bonn gibt den Abbruch aller Beziehungen zum Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) bekannt (…). In einer Reihe von Solidaritätsadressen kritisieren prominente Hochschullehrer (…) die Entscheidung der SPD-Spitze (…). So schreibt der Marburger Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth in einer Grußadresse zur nächsten Delegiertenkonferenz des SDS: ‚Die Aufrechterhaltung der geistigen Freiheit und der Diskussionsbereitschaft (…) ist (…) conditio sine qua non sinnvoller (…) Arbeit an den Universitäten (…)‘.“ Und da das auch sonst überall in der Gesellschaft gilt, könnte Wolfgang Abendroths Grußadresse von 1960 nicht nur als Motto der 68er-Bewegung, sondern auch als Appell für die Zukunft gelten.

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Wolfgang Kraushaar: Die 68er-Bewegung International. Eine illustrierte Chronik 1960-1970.
4 Leinenbände im Schuber.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018.
2000 Seiten, ca. 1000 Fotos und Abb., 199,00 EUR.
ISBN-13: 9783608962925

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