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Rudolf Borchardt hat Ende der 1930er Jahre einen Porno geschrieben: „Weltpuff Berlin“ ist nun aus dem Nachlass heraus erschienen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor langen Jahren, in einer der ersten Ausgaben der Zeitschrift Lettre fand sich ein Aufsatz von Anthony Burgess, in dem er betont, dass die Faszination der großen Klassiker für junge Leute vor allem in den „Stellen“ bestehe, die sich darin finden mögen. Nun, dass es Rudolf Borchardt zum Klassiker gebracht hat, ist nicht ganz abzuweisen, obwohl er – dem bis heute der Ruf der knochenharten Konservativen anhängt – als wohl unzuverlässigster unter den konservativen Revolutionären seiner Zeit gelten kann. Dass es ein Autor mit der Wahrheit nicht so genau nehmen muss, gehört wohl zum Berufsbild, obwohl die Frage bleibt, ab wann ein kreativer Umgang mit dem, was als wahr gilt, auch bei ihnen lästig zu werden droht. „Stellen“ jedenfalls gibt es in dem aus dem Nachlass publizierten Band Weltpuff Berlin en masse, um nicht zu sagen, dass der Roman eigentlich eine einzige „Stelle“ ist, unterbrochen nur von Flirts und Wegestrecken, die es zwischen den Akten zu absolvieren gilt.

Selbstverständlich tut es der seriösen Literatur und ihren Liebhabern gut, wenn sie ein bisschen aufgemischt werden. Wenn nicht durch ihre Protagonisten, durch wen sonst? Und wenn nicht durch eine gehörige Portion Sex, durch was sonst? Wird doch auch mal Zeit, dass das ganze Gewese ums Wesentliche mal wieder auf das Eigentliche – Sex – heruntergebrochen wird, oder?

Nun haben wir es im Fall von Weltpuff Berlin mit etwa 900 Seiten zu tun, in denen der Protagonist, der verwunderlicher Weise den Namen Rudolf Borchardt trägt, sich über alles hermacht, was ihm mit Rock und Büste über den Weg läuft. Auf etwa 50, nein, wie er sich selbst korrigiert, 25 Frauen bringt es der Erzähler, wie Gerhard Schuster im Nachwort bestätigt, mit denen er es, teilweise mehrfach, getrieben hat. Der Name versteht sich als Referenz auf die angeblichen autobiografischen Hintergründe des Buches. Denn all das soll Borchard 1901, als er knapp über 20 war, tatsächlich widerfahren sein – wobei zu klären bliebe, wem da was widerfährt. Ein Roman bleibt der Text aber doch, und nicht nur, weil sich die auftretenden Figuren bis auf Borchardt selbst in der Biografie kaum wiederfinden lassen (es ist also kein offenherziger Schlüsselroman), sondern auch wegen der zahlreichen Anachronismen. Schuster nennt eine Reihe von ihnen, die weniger darauf hinweisen, dass Borchardts Erinnerungen ihn getrogen haben, als dass es ihm um eine kunstvolle Konstruktion ging.

Die symbolische Dauererektion, die nur selten abflaut und die durch ein Tränklein einer Bekannten der Familie noch gestärkt wird (der Sängerin Sonja Schlesinger), ermüdet ihn nicht, wie seine Konstitution insgesamt von erstaunlicher Brillanz ist. Trotz aller Eskapaden springt R. B. (wie er im Folgenden genannt werden soll) nach kaum fünf Stunden Schlaf anscheinend stets wieder gestärkt und erfrischt aus dem Bett (was allein schon in seiner Formelhaftigkeit ein starkes Indiz dafür ist, dass das alles Fiktion ist) und beginnt wieder von Neuem. Stets dann, wenn sich eine Gelegenheit bietet, steht ihm der Schwanz, Prügel, Remmel, und wie er ihn sonst so nennt, und befriedigt, was ihm zu Willen ist, hin und wieder auch, was sich ihm widersetzt. Aber Vergewaltigung ist hier nur eine Variante des ewigen Begattungsspiels, das allerdings definitiv das angebliche Ziel solcher Aktivitäten, die Zeugung, stets ausnimmt – was unter der Hand als starke Attacke auf die Geschlechterkonstruktionen der Jahrhundertwende wie der späten 1930er Jahre gelten kann.

Sex kostet ihn offensichtlich wenig Kraft, was von dem vor jugendlicher Virilität strotzenden R. B. kaum anders zu erwarten ist. Viel mehr Mühe macht ihm freilich, die zahlreichen Frauen, die ihm nach dem ersten Mal samt und sonders verfallen sind und ihm nachstellen, loszuwerden, zu arrangieren und zu organisieren. Da hilft mitunter nur das Automobil, mit dem er quasi erotisch ubiquitär zu sein scheint – einer der Anachronismen, da, wie Schuster bemerkt, um 1901 wohl eher die Pferdedroschke als das Automobil als Transportmittel zur Verfügung gestanden hätte. Ironischerweise gibt es einen Nachahmer, der im Wahlkampf 1932 freilich das Flugzeug zur Hilfe nahm, um die erotisierten Massen zu befriedigen.

Nun wird man auf der primären Ebene des Dauergerammels, das anscheinend Martin Walser aufgrund der terminologischen Vielfalt, die Borchardt zu Gebote steht, tief beeindruckt hat, mit der Zeit und den absolvierten Seiten ein wenig müde werden. Allerdings bringt es die Konstruktion des Textes mit sich, dass er notgedrungen in die vielfältige Breite gehen muss und nicht zu einem halbwegs glücklichen Ende kommt. Ob das Manuskript deshalb unabgeschlossen blieb oder weil Borchardt von anderen Projekten und Anforderungen abgelenkt wurde, muss vorerst wohl offen bleiben.

Die Anlage des Textes hat aber eine geradezu seriöse Basis, denn Borchardt scheint seinen Walter Hasenclever gelesen zu haben: Die Grundlage der Emanzipation der Jungen von den Alten im Expressionismus (also der Generation, zu der auch Borchardt gehört, Expressionist war er sicherlich nicht) ist der Aufstand der Söhne gegen die Väter, der in Hasenclevers Drama Der Sohn seinen paradigmatischen Ausdruck gefunden hat. Dort findet sich – für heutige Augen und Ohren ungewohnt – das denkwürdige Eingeständnis eines basalen Verbrechens des Sohnes, das sich dezidiert gegen den Vater richtet: „Ich habe mit einer Frau geschlafen.“ Arnolt Bronnen wird es auf die Mutter zuspitzen, was heute eine denkwürdige Renaissance erlebt. Die Beanspruchung der Mutter oder eben das selbständige Beschlafen der Frau ist jenseits der erotischen Literatur in der Tat ein hoch symbolischer Akt, der mit dem Paradigmenwechsel hin zur modernen Gesellschaft eng verbunden ist. Wenn der Sohn nicht mehr der Nachfolger des Vaters ist, steht mehr auf dem Spiel als das Familienerbe. Nämlich der Selbstbestimmungs- und damit Machtanspruch der Söhne, den sie in extenso ausleben müssen. Bei Hasenclever reicht da noch eine Frau, Borchardt hingegen will und braucht sie alle.

Denn um das Selbstbestimmungsrecht geht es auch in diesem Text: Das symbolische Vergehen des Sohnes steht am Anfang seines Romanprojekts: R. B. wird vom erbosten Vater wegen eines Vergehens heimgeholt; er soll nun in der familiären Besenkammer sein Dasein fristen und seinen Studien nachgehen. Es dauert nicht lange, bis der aufsässige Sohn die Möglichkeit findet, in der Auseinandersetzung mit dem Vater den größtmöglichen Schaden anzurichten: Er bespringt – vom Hausmädchen bis hin zur prominenten Bekannten der Familie, der er die Bibliothek ordnen soll, von Jungfrauen bis hin zu Professionellen, von alten Bekannten bis zu Zufallsbekanntschaften – alles Weibliche.

Den Weg, den die „Handlung“ dabei einschlägt, ist sogar in sich schlüssig, ist das Hausmädchen doch die seiner Kemenate nächstgelegene Möglichkeit, während von dort ausgehend mit allen anderen Frauen quasi das Gesamtvokabular weiblicher Bekanntschaften entwickelt und durchgespielt wird. Keine der Frauen ist also in der Systematik des Feldes zufällig oder überzählig.

Selbst die demonstrative Potenz, die ungebrochen bleibt, und das Vermögen, aber auch jede seiner Geliebten in die „Krise“ oder zum „Erschlaffen“ zu treiben, ist eben nicht nur genrespezifisch, sondern auch der Demonstration seines „Verbrechens“ geschuldet. Ebenso, dass R. B. in der Ekstase „vollkommen beherrscht“ bleibt und selbst nicht zum Höhepunkt kommt, während er seine Geliebten reihenweise und mehrfach „erschöpft“ (aber die Diskussion um den vaginalen Orgasmus konnte Borchardt ja noch nicht kennen). Der Mann ist, da kennt Borchardt seinen Bölsche anscheinend gut genug, stets der Aktivposten, und ist zugleich noch im höchsten Genuss Herr des Verfahrens.

Was also den Leser ermüdet, ist systematisch notwendig, selbst dann, wenn es das konventionelle Phantasma männlicher Suprematie bis ins Detail bedient – denn der Erfolg des jungen B. ist der Form seines Geschlechtsteils zu verdanken, wie er stolz auf den ersten Seiten seiner priapischen Exkursionen verkündet, wenngleich es, wie es an anderer Stelle heißt, nicht auf die Zentimeter ankommt.

Eine solche Selbstgewissheit kann es sich erlauben, in einiger Hinsicht vom konventionellen Geschlechterbild des frühen 20. Jahrhunderts abzuweichen: Borchardts Frauen sind eben nicht von jenem „physiologischen Schwachsinn“ gezeichnet, die ihnen noch Julius Paul Moebius in seiner im Jahr 1900 zum ersten Mal erschienenen Streitschrift nachsagte. Ganz im Gegenteil. Als der Verwandte einer seiner Geliebten R. B. gegenüber erwähnt, dass das Studium des Griechischen – die beiden Gespielen kennen sich angeblich aus Griechisch-Stunden, die R. B. der jungen Frau gibt – für Frauen ja wohl nichts sei, entgegnet ihm der Protagonist, dass das Griechische wohl für niemanden einfach sei, egal ob Mann oder Frau. Um die Probe aufs Exempel zu machen, flirtet R. B. einige Episoden später mit einer der Frauen auf Latein und Griechisch. Derselben Dame, die ihren Lebensunterhalt mit Tipparbeiten bestreitet, wird zugeschrieben, eine Bibliothek von einigen 2.000 Bänden zu besitzen, alles Klassiker, „die Bibliothek“ mithin „eines Mannes“.

Die Überlegenheit R. B.s bleibt freilich stets erhalten, ist er doch gleichermaßen in der Lage, sich auch auf Französisch oder Englisch den Weg zu bahnen. Wie Thomas Mann im Zauberberg die „interessanten“ Passagen ins Französische zu drängen, hat Borchardt nicht nötig. Das meiste Einschlägige findet sich im Deutschen. Die Edition bietet aber immerhin Übersetzungen dieser Passagen, sodass niemand etwas versäumen muss.

R. B. betont zudem, dass er die Frauen, kommt es zu (wohlgemerkt) ihrem Höhepunkt, stets „unter sich zwingen“ oder „unterwerfen“ muss, Vergewaltigung inbegriffen. Wenn’s um Sexuelle geht – das anscheinend ja der Selbstbehauptung des jungen Mannes dient –, findet auch die Gleichberechtigung der Frau ihre Grenze. Aber selbstbewusste Frauen sind ein attraktiveres Opfer als unterwürfige.

Titelbild

Rudolf Borchardt: Weltpuff Berlin. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018.
1088 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783498006914

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