Die Leydenfrosts im Dauerstress

In seinem ersten Roman seit über 30 Jahren erzählt Günter de Bruyn warmherzig und mit stiller Ironie von den Problemen unserer Gegenwart

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das letzte Buch von Günter de Bruyn, das die Genrebezeichnung „Roman“ trug, erschien 1984 unter dem Titel Neue Herrlichkeit. Seitdem schwieg der Romancier und beschäftigte sich lieber mit historischen Orten seiner Heimat und herausragenden Persönlichkeiten der brandenburgisch-preußischen Geschichte und Literatur. Auch seinem aktuellen Werk hat er die Bezeichnung „Roman“ verweigert, es firmiert stattdessen unter der Bezeichnung „ein ländliches Idyll“.

Die vor allem in der zweiten Hälfte des 18. und den ersten Dekaden des darauffolgenden Jahrhunderts beliebte Vers- und Prosaform, die als spätes Echo auf die altgriechische Hirtendichtung das friedvoll-bescheidene, innerhalb einer harmonischen Weltordnung angesiedelte Landleben zum Thema hatte, büßte allerdings bereits bei Autoren wie Johann Heinrich Voß und Johann Wolfgang von Goethe ihre ursprüngliche Naivität ein und wurde gesellschaftskritisch aufgeladen. Bukolik und Arkadisches verschwanden nach und nach und schufen Platz für eine Literatur, die Land und Natur nicht mehr als konfliktlosen Raum und Fluchtort vor den gesellschaftlichen Zwängen sah, sondern die geografische Abgeschiedenheit samt der dazugehörigen demografischen Übersichtlichkeit nutzte, um in dieser „kleinen Welt“ Hinweise auf die große zu verstecken.

Noch in diesem Sinne funktionierte Unterleuten, der Roman von Juli Zeh, der 2016 zum Bestseller avancierte und mit dem Günter de Bruyns Der neunzigste Geburtstag durchaus vergleichbar ist. Hier wie da nämlich spielt die Szene in einem kleinen Ort im Brandenburgischen – bei de Bruyn trägt er den Namen Wittenhagen. Und hier wie da ist das Figurenensemble überschaubar. Heraus ragen bei Zeh wie bei de Bruyn die Alten, in Unterleuten zwei in die Jahre gekommene Trotzköpfe, die ihre noch aus DDR-Zeiten stammende Fehde bis in die Nachwendezeit hinein fortsetzen, in Der neunzigste Geburtstag ein Geschwisterpaar, das – durch die deutsche Teilung für Jahrzehnte getrennt – nach der Wiedervereinigung erneut gemeinsam auf dem Gut seiner Vorfahren lebt.

Sie, Hedwig Leydenfrost, einst Kinderärztin und Wortführerin der außerparlamentarischen Opposition, er, Leonhardt, Bibliothekar, im Gegensatz zu seiner Schwester im Osten Deutschlands geblieben und inzwischen frühverrentet. Man schreibt das Jahr des „Wir schaffen das!“, 2015, und die politisch etwas eingeschlafene Hedwig versteht das Wort der Kanzlerin als Aufforderung, sich noch einmal einzumischen. Also lässt sie, die ihren anstehenden 90. Geburtstag eigentlich nicht zu feiern gedachte, es zu, dem Ereignis doch einen größeren Rahmen zu geben. Verbunden werden soll die Festivität nämlich mit einer Spendenaktion für Flüchtlingskinder und der Eröffnung eines Übergangslagers für Asylbewerber in der alten Reithalle des Wittenhagener Guts.

In die Vorbereitung des Ereignisses im folgenden Sommer wird der ganze Ort einbezogen. De Bruyn nutzt diese Konstellation, um auf die Art, die man von ihm seit Langem kennt – in leisem, unaufdringlichem, von Ironie durchzogenem Ton, die Verbundenheit von Mensch und Natur in seiner brandenburgischen Heimat immer wieder betonend –, von unserer Gegenwart zu erzählen. Und nahezu alle Probleme, die Deutschland und die Deutschen aktuell umtreiben, geraten über die fein gezeichneten Charaktere des übersichtlichen Figurenensembles in den Fokus.

Da ist etwa die junge, Leonhardt Leydenfrost noch einmal das Herz etwas stärker zum Klopfen bringende Pfarrerin Anna Merkel, die sich gegen den anbiedernden Modernisierungswahn vieler ihrer Amtsbrüder und -schwestern stellt und Kirche wieder in ihrer traditionellen Rolle als Nächstenliebe praktizierende, Trost und Schutz spendende Einrichtung sehen will. Einen anderen Blick auf das gegenwärtige Deutschland pflegt die zugezogene Bochumer Journalistin Grit Schmalfuß, die sich die Auseinandersetzung mit den Problemen der sogenannten neuen Länder auf die Fahne geschrieben hat – ohne zu bemerken, dass gerade sie selbst und ihre Art, die Welt zu sehen, für Menschen wie Leonhardt Leydenfrost ein Problem darstellen: „Damals im kleineren Teil Deutschlands sitzend […] ist uns der größere als das Bessere oder auch nur als das geringere Übel erschienen […]. Dass wir das heute anders empfinden, ist sicher auch damaligen Illusionen geschuldet, mehr aber wohl einer Entwicklung, die aus den zusammengewachsenen Teilen ein Ganzes formte, das mit Erbteilen beider Seiten belastet ist“.

Letztlich bietet aber auch die eigene Familie der beiden Leydenfrosts genug Anlass, sich an der Gegenwart zu reiben. Nicht immer will es Leonhardt deshalb gelingen, mit den Gedanken in seine geliebte Bücherwelt oder mit den Füßen in eine ihn schon immer mit neuer Lebenskraft erfüllende Natur zu entfliehen. Er selbst hat drei Kinder, seine Schwester zusätzlich eine Ziehtochter, die Bosnierin Fatima, die aus einer kurzen Ehe mit einem sächsischen Landespolitiker den Namen Müller zurückbehalten hat und genauso wie Leonhardts Tochter Wilhelmine wieder auf dem Brandenburger Hof lebt.

Diese beiden Frauen sind es vor allem, die das Projekt eines Fördervereins für Flüchtlingskinder unter dem Namen ANH (Aktion neue Heimat) vorantreiben. Dass Wilhelmine sich dabei von ihrem aktuellen Chef, einem ehemaligen Stasi-Offizier, unter die Arme greifen lässt, ist ihrem Vater der größte Dorn im Auge. Hat Leonhardt Leydenfrost doch schon den eigenen Sohn Rainer verstoßen, als der gegen den Willen des Vaters und voller Enthusiasmus für die Sache des Sozialismus erst in die Partei und dann den Staatssicherheitsapparat eintrat. Denn seit jeher gilt für Leonhardt, dass ein Sich-Einlassen mit der politischen Kaste nur von Nachteil für den Charakter des Menschen sein kann: „Wer sich auf Politik einlässt, wird entweder charakterlich verbogen, oder er kommt, zumindest moralisch, in ihr um.“

Natürlich kommt am Ende von Günter de Bruyns Roman alles anders als gedacht. Keinen einzigen Flüchtling zieht es in die Brandenburger Provinz – und so wird zur stillen Freude der Dorfbewohner aus dem Projekt „Aktion neue Heimat“ über Nacht der Plan für ein lukratives „Holiday Resort Seeblick“. Auch die akribisch vorbereitete Geburtstagsfeier für die APO-Aktivistin Hedwig Leydenfrost nimmt ein eher unglückliches Ende. Den Grantler Leonhardt aber, der es gelegentlich auch ein wenig übertreibt mit seiner Angst vor einer „muslimischen Zukunft“ Deutschlands oder dem Grausen, das ihn ergreift, wenn er an die Auswüchse des „Genderns“ denkt – „sowohl den Naturgesetzen als auch der Lebenserfahrung jedes halbwegs vernünftigen Menschen“ widerspreche der herrschende „Gender-Wahn“ –, verlockt am Ende doch die Neugier auf die Zukunft seiner Familie und seines Landes; er beschließt, mit dem Sterben noch etwas abzuwarten.

Günter de Bruyn, der am  1. November 2018 92 Jahre alt geworden ist, hat in die Figur des Leonhardt Leydenfrost eine Menge seiner eigenen Vergangenheit, Erfahrung und Weltsicht einfließen lassen. Der neunzigste Geburtstag ist damit zu einer Art Vermächtnis dieses Autors geworden. Einem Vermächtnis, das die bitteren Töne nicht scheut, aber in Bitternis auch nicht enden will. „Ich warte noch auf einen ersten Anschein von Rückbesinnung, um am Grabe die Hoffnung aufpflanzen zu können“, schreibt Leonhardt Leydenfrost in dem den Roman beschließenden Brief, mit dem er sich der von ihren „Kirchenoberen“ in eine andere Gemeinde versetzten „inkorrekten Anna [Merkel]“ in Erinnerung bringt und letzte Auskünfte über die Angehörigen seiner Familie gibt. Nicht viel anders hat de Bruyn selbst in einem anlässlich seines Zacharias-Werner-Buchs vor zwei Jahren geführten Gespräch mit Ralph Gerstenberg argumentiert: „Ich habe Brandenburg in der Weimarer Republik und unter der Hitlerzeit erlebt. Die ist vorbeigegangen. Und ich habe es als DDR erlebt. Und die ist auch vorbeigegangen. Und die Alleen stehen glücklicherweise immer noch. Und ich hoffe, die überleben auch noch die moderne Zeit jetzt.“

Titelbild

Günter de Bruyn: Der neunzigste Geburtstag. Ein ländliches Idyll.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
269 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783103973907

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