Changing Times

1968 kamen die Steine für einen Moment ins Rollen, doch die Freiheit endete in Gewalt

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Den Literaturnobelpreis für den Roman, dem es gelingt, den Mythos von 1968 in Worte zu fassen! Aber vielleicht braucht es ein solches Buch nicht, denn 2016 ging dieser Preis an Bob Dylan. Eine höchst fragwürdige Entscheidung, von den einen bejubelt, von anderen mit Kopfschütteln bedacht.

Wer, wie der Schreiber dieser Zeilen, das legendäre Jahr 1968 als Elfjähriger in einer hessischen Kleinstadt erlebt hat, kann sich kaum einen Altachtundsechziger nennen. „Ab den beginnenden Sechzigern hörte man ein Geräusch, von dem man nicht wußte, woher es kam. Es waren nicht die beats, die auch, aber nicht nur. Es war, als rieben Schollen aneinander.“ So Eva Demski in ihren 2017 erschienenen Erinnerungen mit dem Titel Den Koffer trag ich selber. Demski wurde 1944 geboren und war somit 1968 vierundzwanzig Jahre alt – noch jung genug, um sich mitreißen zu lassen, und alt genug, um zu verstehen.

Nur drei Jahre älter ist Bob Dylan, der bereits 1964 als Dreiundzwanzigjähriger singt und benennt, was den mythischen Kern von 1968 ausmacht: „Your sons and your daughters / Are beyond your command.“ Eine unumstößliche Feststellung, keine Forderung oder Bitte, aber auch keine Warnung. Denn die Zeiten haben sich geändert, nein, sie sind gerade dabei, sich zu ändern: The Times They Are A-Changing‘ .

Offen bleibt in dem Lied von Dylan, wie lange dieser Prozess des Zeitenwandels andauern wird. Doch der Song wäre kein guter, würde er in einer eindeutigen Botschaft aufgehen. Denn was sollen wir davon halten, wenn sich schließlich alles auch in sein Gegenteil verwandeln kann?

The slow one now
Will later be fast
As the present now
Will later be past
The order is
Rapidly fadin‘.
And the first one now
Will later be last
For the times they are a-changin‘.

Eine etwas näselnde Stimme, Gitarre und Mundharmonika, so mochte das damalige Publikum seinen Bob Dylan. Aber Künstler gehen ihre eigenen Wege, und wenn ein Musiker, aus welchen Gründen auch immer, die Akustikgitarre gegen eine elektrische tauscht, ist das doch wohl sein gutes Recht, sollte man meinen.

1965 musste Dylan erleben, dass dem nicht so ist. Die Zeiten, die doch dabei waren, sich zu ändern, hatten nicht mit ihren eigenen Zeitgenossen gerechnet. „As the present now / Will later be past“– nein, denn was gestern richtig war, die reine Lehre des Folk, darf nicht vergehen und muss bestehen bleiben. Gehen wir zu weit, wenn wir die aggressive Ablehnung, die Dylan 1965 auf dem Newport Folk Festival ebenso entgegenschlug wie wenig später in England, als Zeichen eines ganz anderen Wandels begreifen als der Änderungen, die Dylan in seinem Song gemeint hatte?

1966 behauptet John Lennon, damals 26 Jahre alt, in einem Interview, die Beatles seien bekannter als Jesus und prophezeite gleichzeitig den Untergang des Christentums. In England wurde diese – sagen wir mal: gewagte – These nicht weiter zur Kenntnis genommen. Wohl aber vier Monate später in den USA. In der Filmdokumentation The Beatles: Eight Days A Week – The Touring Years von Ron Howard wird der Zuschauer Zeuge eines Hasses, der Bob Dylans Botschaft von den sich ändernden Zeiten Lügen straft. Erschütternd auch der Versuch Lennons zurückzurudern. Eine Demütigung und ein Kotau vor dem bigotten, sich christlich nennenden US-Amerika.

Aber hatte Bob Dylan in seinem Song With God on Our Side, veröffentlicht auf dem gleichen Album wie The Times They Are A-Changin‘, die Grenzen seines eigenen Glaubens an eine Zeit des Umbruchs nicht bereits aufgezeigt?

Oh my name it ain‘t nothin‘
My age it means less
The country I come from
Is called the Midwest
I was taught and brought up there
The laws to abide
And that land that I live in
Has God on its side

Eva Demski zieht eine Verbindungslinie zwischen den Demonstrationen nach der Ermordung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 und dem weiteren Verlauf der Studentenbewegung. Dabei kann der argumentative Weg ihr kaum kurz genug sein. Schnell springt sie von dem vermeintlich berechtigten Anliegen, „die ungewendeten Magnifizenzen das Fürchten zu lehren“, zu den „neuen Göttern, ob sie nun Krahl, Cohn-Bendit, Angela Davis, Malcolm X oder sonstwie hießen“. Und dann der Zorn darüber, dass die autoritären Eltern, die Dylan bereits zur Seite geschoben haben schien, in anderer Gestalt wieder auftauchten: „Außerdem benahmen sich die revolutionären Helden uns gegenüber, als wären sie unsere Väter.“ Die Gesetze, die es im mittleren Westen der USA zu befolgen gilt, sind andere als die der linken Ideologen, aber auch diese haben ihre „heiligen Bücher“ (Demski), in denen geschrieben steht, wogegen keiner verstoßen darf.

Trifft es das Phänomen 68, wenn wir die Ausführungen von Eva Demski dazu benutzen, ihre Vorbehalte gegen die neuen Autoritäten von Links bedenkenlos neben den bigotten Patriotismus des mittleren Westens zu stellen, wie Dylan ihn 1964 skizziert? Hans Christoph Buch nennt den „Terminus Generation als gemeinsamen Nenner einer Gruppe von Individuen“ zwar „diffus“, dennoch gebe es „so etwas wie einen kollektiven Erfahrungshorizont.“ (Stillleben mit Totenkopf) Anschließend skizziert er, wie Eva Demski geboren 1944, seinen Weg durch die damalige Zeit. Er habe „die Irrtümer und Illusionen der Studentenrevolte geteilt“, sei aber nicht bereit gewesen, „Beckett oder Kafka über Bord zu werfen zugunsten von Günter Wallraff“. Er beharrt auf dem „Bürgerrecht“ zur „Revolte“, denn: „Wer nie gegen Eltern, Lehrer oder Vorgesetzte rebelliert und angemaßte Autoritäten nie in Frage gestellt hat, kann die Demokratie nicht glaubhaft verteidigen“. Gleichzeitig rückt er die „Achtundsechziger“ ganz in die Nähe derer, die diese doch eigentlich bekämpfen wollten: „Damals wurde die parlamentarische Demokratie unter Faschismusverdacht gestellt, aber dass die Intoleranz der Achtundsechziger auf faschistoiden Denk- und Verhaltensmustern beruhte, wurde erst klar, als der Amoklauf der RAF in eine Gewaltorgie mündete, die nicht mehr zwischen Freund und Feind unterschied: Der Schlussakt in Mogadischu und Stammheim beschwor das Finale im Führerbunker sowie Wagners Götterdämmerung herauf.“

Aber wo ist der Zusammenhang zwischen dem gottgläubigen Niemand aus Bob Dylans mittlerem Westen und dem in faschistoide Denkmuster abgleitenden deutschen Terrorismus? Begegnungen lautet der Titel eines Buches von Joachim Fest, bedeutsamer wohl noch ist der Untertitel Über nahe und ferne Freunde. „Wirklich nahe sind wir uns nicht gekommen.“ Mit diesem Satz beginnt Fest seine Erinnerungen an Ulrike Meinhof. Auf zwanzig Buchseiten entwirft der konservative Autor das beeindruckende Portrait einer Frau, deren moralischer Rigorismus sie schließlich zur Waffe greifen lässt. Abschließend zitiert Fest ihre fatale Parole „Natürlich darf geschossen werden!“ Und er konstatiert: „die Parole wirkte auf viele wie eine Signal.“

Gemeinsam sind dem gottgläubigen Niemand von Bob Dylan und dem deutschen Terrorismus die feste Überzeugung vom Recht auf Gewalt. Die eigentliche Wurzel dieser Gewalt bildet eine Mischung aus Unduldsamkeit und Arroganz derer, die, auf welcher ideologischen Basis auch immer, genau zwischen Schwarz und Weiß oder Gut und Böse zu unterscheiden wissen.

Born to Be Wild lautet ein Song der Band Steppenwolf aus dem Jahr 1968. Benannt ist die Gruppe nach dem gleichnamigen Roman von Hermann Hesse aus dem Jahr 1927. Im selben Jahr verdeutlicht Kurt Pinthus‘ zusammenfassende Einschätzung dieses Werkes, warum es in den USA zum Kultbuch der Achtundsechziger werden konnte: „Es handelt sich um einen Anarchisten, der voll rasender Wut auf dieses falsch dastehende Dasein Warenhäuser und Kathedralen zerschlagen und der bürgerlichen Weltordnung das Gesicht ins Genick drehen möchte. Es handelt sich um einen Revolutionär des Ichs… Der Steppenwolf ist eine Dichtung des gegenbürgerlichen Mutes.“ 

Der Song der gleichnamigen Band entfaltete erst 1969 als Filmmusik für Easy Rider seine enorme Wirkung. Lässig sitzen Peter Fonda und Dennis Hopper auf ihren Harleys, auf dem Sozius – nick, nick, nick – Jack Nicholson als der alkoholabhängige George Hanson. Kaum ein zweiter Film verkörpert das Gefühl von Freiheit und Abenteuer so beeindruckend wie dieser Streifen von Dennis Hopper und Peter Fonda. Einer Freiheit allerdings, die blutig endet. Denn es sind die patriotischen und so namenlos wie schießwütigen Männer, die ihren unbändigen Zorn auf die Langhaarigen freien Lauf lassen. Easy Rider, das Symbol für eine unkontrollierte Freiheit, endet im Blutbad.

„If you‘re going to San Francisco, / be sure to wear some flowers in your hair.“ Der Song von Scott McKenzie aus dem Jahr 1967 besingt die friedvolle Macht des Flower Power, aber der verspielt antibürgerliche und doch auch unschuldige Habitus war es, der nicht nur in den USA eine Gegengewalt hervorrief, wie sie Dennis Hopper und Peter Fonda auf der Leinwand sichtbar gemacht haben.

Auch in Deutschland mündete eine Linie der Achtundsechziger-Bewegung in den Terror. Und, davon kaum zu trennen, in die hölzerne Sprache all der kleinen und kleinsten K-Gruppen unterschiedlichster marxistischer Ideologie und Prägung. Bob Dylans beinahe naiv anmutender Prophezeiung, die Macht der Eltern wie der staatlichen Würdenträger beiseite zu schieben, wurde von ideologischem Sprachmüll zum Verstummen gebracht. Und nichts mehr war spätestens im Deutschen Herbst zu ahnen von dem besonderen Moment einer Freiheit, wie sie sich im so ordinären wie wirkungsvollen Fuck von Country Joe and the Fish auf dem Woodstock-Festival Bahn brach.