Ein Fest der Fantasie

Mit „Heimkehr“ legt Thomas Hürlimann seinen ersten Roman seit mehr als einem Jahrzehnt vor

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn jemand Heinrich Übel heißt, wird er sich wohl durchs Leben kämpfen müssen, soll Nomen nicht gleich Omen sein. Und Thomas Hürlimanns Roman Heimkehr, die erste Prosaarbeit des Schweizer Autors nach mehr als zwölf Jahren und zugleich sein bisher umfangreichster Text, baut hohe Hürden vor seinem Helden dieses Namens auf, ehe er ihn bei seinem dritten Versuch endlich zuhause ankommen lässt.

Zuhause – das ist im fiktiven Schweizer Fräcktal, wo Übel senior eine Fabrik für Gummiwaren vom Dichtungsring über Babyschnuller und Präservative bis hin zu Fetischartikeln und der beliebten Gummihose, vom Junior liebevoll „Wohlfühlhose“ oder – für Kunden aus der englischsprachigen Welt – „comfy pants“ getauft, betreibt und darauf hofft, dass sein Sohn dereinst in seine Fußstapfen tritt. Promoviert und ein bisschen in der Welt herumgekommen sollte der Filius dann aber schon sein, meint der robust-geschäftstüchtige, von seinen Mitarbeitern „Gummistier“ genannte Alte – und setzt den Nachwuchs mit 20 Jahren vor die Tür. Auf dass der sich den Wind der Welt für eine Weile um die Nase wehen lasse.

Doch Übel junior ist ein Tunichtgut und Hans Guck-in-die-Luft, der Semester um Semester in Zürichs Universität absitzt, ohne wirklich zu akademischen Ehren zu kommen. Für die Lebensmaxime des Vaters – „Nicht mit sich selber diskutieren, mit sich selber diskutieren macht schwach, zupacken, handeln!“ – fehlt ihm letztlich der Sinn. Stattdessen schreibt er an einer endlosen, lexikografisch angelegten Autobiografie in Stichpunkten und versucht, in der Zürcher Kunstszene Fuß zu fassen. In dieser führt das selten einander zugeneigte, sich gegenseitig häufiger ignorierende Schriftstellerpaar Traxel und Moff das Wort und der Kunstkritiker des Tagesanzeigers feiert mit dem Feuilletonchef der NZZ inmitten „sämtlicher Salonlöwen der Zürcher TV-, Kunst und Psychoszene“ die Nächte durch. Und so dauert es letztlich ganze zwei Dekaden bis zu Heinrich Übels erstem Heimkehrversuch, der folgerichtig dann auch – und im wahrsten Sinne des Wortes – in die Hose geht.

Heimweh und Heimkehr, Fortgehen und Wiederkommen, im Draußen das Drinnen verstehen lernen, der Enge ins Weite entfliehen und umgekehrt – es sind spezifische Themen der Schweizer Literatur, zu deren besten Werken viele gehören, die fern der Heimat entstanden sind und doch nicht davon lassen können, sich mit ihr zu beschäftigen. In seinem großen Essay Die Schweiz zwischen Ursprung und Fortschritt. Zur Seelengeschichte einer Nation hat Peter von Matt eine ganze Typologie dieser „Grenzgänger“ aufgestellt, denen „das Viatorische“, der Zwang, der heimatlichen Enge reisend für eine Weile zu entkommen, zur „existentiellen Prägung“ wurde. Thomas Hürlimann, viele Jahre in Berlin lebend und schreibend, gehört natürlich zu dieser Spezies. Und sein aktueller Romanheld, der nicht zufällig mit Hürlimann das Geburtsdatum, den 21. Dezember 1950, teilt, selbstverständlich auch.

Was man von Hürlimann, der sich mit Texten wie Die Tessinerin (1981), Das Gartenhaus (1989), Der große Kater (1998) und Vierzig Rosen (2006) zu einem der herausragenden Autoren der zweiten Generation nach dem die Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts prägenden Duo Max Frisch/ Friedrich Dürrenmatt entwickelt hat, bisher nicht kannte, ist die geradezu überbordende Fabulierlust, mit der er die odysseischen Irrfahrten seines Protagonisten beschreibt. Heimkehr ist, nachdem sein Autor eine Krebs-Erkrankung überstanden hat, deshalb auch das Zeugnis einer Wiedergeburt des Schriftstellers Thomas Hürlimann.

Und so wie Heinrich Übel zu Beginn des Romans auf Sizilien als ein ganz anderer wieder zu sich kommt, müssen sich eingefleischte Leser Hürlimanns nun darauf gefasst machen, den einst so strengen Novellisten und präzisen Formulierer als einen die ganze Klaviatur des Schelmenromans von komisch über pittoresk bis albern hinauf- und wieder hinabspielenden, vor Einfällen strotzenden Autor kennenzulernen. Das erinnert gelegentlich an den eben erwähnten Dürrenmatt und dessen Welttheater, arbeitet sich allerdings an Themen und Motiven ab, die das Werk Hürlimanns von Beginn an prägten. Nur dass sie von ihm nun auf eine ganz andere Art angegangen werden, nämlich um einiges gelöster, befreiter, spielerisch-heiterer.

Aber weilt der nach seinem missglückten Heimkehrversuch im sizilianischen Pollazzu mit einer gewaltigen – und wohl auch latente Gewalttätigkeit signalisierenden – Narbe am plötzlich kahlen Schädel erwachende Protagonist von Heimkehr überhaupt noch unter den Lebenden? Oder hat man es bei all dem, was auf knapp 500 Seiten an verrückten Geschichten zwischen Afrika, der DDR kurz vor dem Mauerfall und der finalen Rückkehr ins väterliche Fräcktal folgt, mit den Fantasien eines an der Schwelle zum Tode Stehenden zu tun? Hat sich also Heinrich Übel, als er auf eisglatter Straße kurz vor dem Erreichen der heimatlichen Villa die Macht über den geliehenen Wagen verlor und mit dem Geländer der Brücke, über die hinweg das Reich des Gummifabrikanten schon in den Blick rückte, kollidierte und nach draußen, in die eiskalte Nacht geschleudert wurde, in Wirklichkeit gar nicht wieder erhoben, sondern sterbend aus seinem Leben hinausgeträumt?

Die Frage darf gestellt werden – allein beantworten muss man sie nicht. Denn die Geschichten des „Lebensmüllschluckers“ und verlorenen Sohns sind zu gut, um sie einer beckmesserischen Überprüfung auf Realität oder Traum, Erlebtem oder Erfundenem zu unterziehen. Eine nackt dem Meer entsteigende dreifache Aktivistin aus dem  VEB Funkwerke Berlin-Köpenick – wann hätte Aphrodite je eine solch verführerische Figur angenommen? Und das in die Armlehne eines gewaltigen, von den sie begleitenden Genossen herumgeschleppten und ostdeutschem Erfindergeist sich verdankende drahtlose Telefon erinnert sowohl an Honeckers Ein-Megabit-Speicherchip, der die DDR auch nicht mehr retten konnte und den der Volksmund bald als den „ersten begehbaren Chip der Welt“ verspottete, als auch an die Firma „Horch und Guck“ und deren Faible fürs Abhören von Freund und Feind.

Und doch steht der Ernst des Lebens hinter all den verrückt-verträumten, grotesken und satirischen Geschichten zwischen Zürich, Sizilien, Afrika und Ostberlin, mit denen Heinrich Übel aufwartet. So kann man, wenn man will, die gar nicht so schwer auffindbaren mythischen Urbilder hinter der Geschichte enttarnen. Odyssee und Bibel, (Welt-)Literatur von Robinson Crusoe und Jean Pauls schnurrig-ernsten Geschichten über Joseph Conrads Herz der Finsternis, Gottfried Kellers Der grüne Heinrich und Max Frischs Stiller bis zu Arno Geigers Der alte König in seinem Exil, Platons Philosophie und Sigmund Freuds Psychoanalyse – Hürlimann hat jede Menge hineingepackt in einen Roman, der keine Grenzen zu kennen scheint, übervoll beladen und dennoch leicht ist, auf der Grenze zum Tod angesiedelt scheint, dort aber eine große Feier des Lebens zelebriert, das Dennoch orchestrierend. 

Denn der am Ende nach zwei scheiternden Versuchen schließlich doch Heimkehrende ist ein anderer geworden. Hat er sich bei den ersten beiden Malen einer angestrebten Rückkehr ins väterliche Reich noch maskieren müssen, tritt er nun als ein durch seine Odyssee verwandelter Mensch auf. Und muss nicht nur erfahren, dass die ihm ein Leben lang fehlende Mutter keineswegs ertrunken ist, wie er immer glaubte, sondern dass auch sein Vater ein anderer ist als der seiner Erinnerung. Hatte Übel senior einst mit seinem Spruch vom Abfall, der nicht weit vom Stamm fällt, viel beigetragen zu des Sohnes Unsicherheit und Flucht hinaus in die Welt, so hört der erwachsen gewordene Junior jetzt, dass ihn der alte Übel liebt wie seinen Augapfel und sich für ihn „entscheidet, was immer auch geschehen mag.“

Dass es am Ende ein Kater ist, der den Romanhelden hinaus aus seinem alten und hinein in sein neues Leben chauffiert, wundert Leser, die sich in Hürlimanns Werken auskennen, schließlich nur wenig. Denn wer anders als das heimliche Wappentier dieses Autors sollte schließlich dafür sorgen, dass Heinrich Übel heil davonkommt aus diesem fünfhundertseitigen Fest der Fantasie?

Titelbild

Thomas Hürlimann: Heimkehr. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
522 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783100315571

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