Geschichten von der Unterdrückung des Eros

Die Repressionsnarrative der Ästhetik um 1968

Von Christine WederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Weder

Viele Bestseller aus den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sind heute Geschichte – und lohnen eine neue Lektüre unter historisierender Perspektive. Ein solcher Bestseller war etwa der Roman Casanova oder der Kleine Herr in Krieg und Frieden (1966). Sein Autor, der Ernst-Bloch-Schüler Gerhard Zwerenz, stammte ursprünglich aus Sachsen, war wegen oppositioneller Veröffentlichungen aus der SED ausgeschlossen worden und lebte seit seiner Flucht nach einem Gefängnisaufenthalt ab 1957 in der BRD. Über Casanova, einen Schelmenroman mit einem in die Gegenwart versetzten Abkömmling des gleichnamigen historischen Helden oder, genauer, mit dessen groß geschriebenem Kleinen Herrn als Herzstück unter der Gürtellinie im obsessiven Zentrum, hieß es damals in einer begeisterten Rezension:

Der Held, dessen intensiv und nachhaltig gedacht wird, und der, dank seiner proteischen Anlage Geschichte macht und Anlass zur „richtigen Deutung“ von Geschichte gibt, ist Michel Casanovas kleiner Herr und treuer Begleiter und Aufmunterer in Krieg und Frieden […], ein Münchhausen ohne Perücke, ein Till ohne Narrenkappe […]. Der in der verdorbenen heutigen Welt missbrauchte und misshandelte Eros – „Die Menschen sind immer dem Mord näher als dem Eros“ – wird durch Zwerenz alias Michel Casanova (oder umgekehrt) wieder in sein Recht eingesetzt […]. (Die Tat, 25. November 1967)

Es ist durchaus fraglich, ob diese hoffnungsvolle Beschreibung, auf den hochgradig satirischen Roman zutrifft. Schon das eingeflochtene pessimistische Zitat aus dem Roman („Die Menschen sind immer dem Mord näher als dem Eros.“) lässt daran zweifeln. Und selbst der einmal darin auftauchende „Gawrilowitsch Zwerenz“ ist Objekt der allgegenwärtigen (Selbst-)Ironie in diesem pikaresken Roman, der kaum ein programmatisches Haar an der erotischen wie an irgendeiner anderen Sache lässt. Doch ist die hymnische Deutung des Romans als Befreiung des Eros von seinen Misshandlungen umso beispielhafter für die Implikationen und Funktionen der um 1968, „diesem jahrelangen Jahr“ (Bernd Cailloux), im Groß-Zeitraum von Ende der 50er bis Ende 70er Jahre, omnipräsenten ‚Repressionsthese‘.

Diese These lässt sich als zentrales Geschichtsnarrativ jener Zeit verstehen (I.). Es schreibt der Kunst und Literatur eine zentrale Rolle in der (Sexualitäts-)Geschichte zu (II.). Zugleich prägt dieses Narrativ in den ästhetischen Theorien die Kunstkonzeptionen und den Blick auf die Geschichte der Künste maßgeblich mit (III.).

I. Die Erzählung vom unterdrückten Eros als zentrales Geschichtsnarrativ um 1968

Die Rede des Casanova-Rezensenten vom „missbrauchten und misshandelten Eros“ verrät eine Spielart der Repressionsthese im Sinn der Ansicht, Sexualität sei seit einer bestimmten Epoche, je nach vertretener Variante etwa seit dem Christentum oder dem Kapitalismus, seit der Frühen Neuzeit oder dem 18. Jahrhundert, und häufig mit Höhepunkt im viktorianischen 19. Jahrhundert in entscheidenden Dimensionen unterdrückt und verleugnet worden. Bei dieser These handelt es sich um eine Geschichtserzählung über die in jener Zeit zur Hauptsache erhobene schönste Nebensache der Welt. Die vielfach variierte Erzählung mit Anspruch auf (historische) Wirklichkeit ist nicht nur in freudo-marxistischen Konzeptionen namentlich im Anschluss an Wilhelm Reich en vogue, der Unterleib ebenso wie Unterschicht unterdrückt sieht. Das oftmals eher diffus implizierte denn ausdrücklich konkretisierte Narrativ zeigt auch überraschende Ähnlichkeiten zwischen so unterschiedlichen Theorie-Beiträgen wie denjenigen von Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno, Ludwig Marcuse, Roland Barthes oder Julia Kristeva. Es grundiert ein breites Spektrum von zeittypischen Unternehmen – etwa im Bereich der Aufklärungsliteratur Günter Amendts berühmte Sexfront (1970), im Umfeld der situationistischen Programmentwürfe die Unverbindlichen Richtlinien (Christofer Baldeney, Rodolphe Gasché, Dieter Kunzelmann 1962/63) oder im Feld der Improvisationsperformance die Produktion Paradise now der Gruppe The Living Theatre, die ab Sommer 1968 mit großem Erfolg durch die USA und Europa tourte.

Man kann die Repressionsthese als historisch falsch verwerfen oder zumindest als reduktiv relativieren. Letzteres hat prominent und überzeugend Michel Foucault in seiner Histoire de la sexualité (ab 1976) getan, aber auch aus einem anderen Blickwinkel bereits Susan Sontag in ihrem Essay zur Pornographic Imagination (1967).Gerade solche kritischen Stimmen unterstreichen jedoch die Omnipräsenz der Repressionsidee um 1968. Unabhängig davon, ob sie als historische These (partiell) zutrifft oder nicht, spielt sie eine dominante Rolle in den Diskussionen und Imaginationen jener damaligen Gegenwart – zumindest als äußerst wirksame Fiktion. Ohne sie als historische These wiederzubeleben, kann man sich deshalb für die Gestalten, Einsatzweisen und Wirkungen dieser Geschichtserzählung in der Gegenwart um 1968 interessieren, die mittlerweile selbst Geschichte geworden ist. Nicht zuletzt für die maßgeblich von Foucault angeregten Ansätze der Diskursanalyse sind sie von bleibendem Interesse. Kritik an diesem Narrativ ist damit nicht suspendiert, sondern bezieht sich nun auf die Strategien und Effekte der Erzählung in jener (damaligen) Gegenwart, etwa auf problematische Enthemmungen oder auf neue Zwänge beim Sprengen alter Fesseln.

Die damals so alltägliche, wenn auch häufig nur angedeutete Erzählung von der sexuellen Unterdrückung fungiert nicht als (der Absicht nach) ,neutrale’ These über den Verlauf der westlichen Geschichte, sondern zugleich als Unterdrückungskritik und Befreiungsprogramm mit oft geschichtsphilosophischer Reichweite.

Kritisch wird Geschichte zunächst gleichsam als inverser Sündenfall erzählt: gemäß einem Zwei-Phasen-Modell von gelobtem Vorher ohne Unterdrückung – ohne Früchte-Verbot – und gefallenem Nachher der unterdrückerischen Verbote und Gebote, bei welchen die Dialektik-versierten Autoren mit Konzepten wie ,repressiver Enthemmung’ besonders Repression durch gewährte (Pseudo-)Freiheit – einschließlich neuer Rede- bzw. Bilder-Freiheiten der ,gegenwärtigen Sexwelle’ – im Auge haben. Die Zeit des Nachher oder Danach gilt dabei als geschichtlich, aber gleichzeitig als (noch) gegenwärtig, obschon womöglich nicht mehr ungebrochen virulent. Selten geschieht dies so konkret wie beim verbreitet wiedergelesenen Wilhelm Reich, der die Repression in Wechselwirkung mit der Entstehung des Kapitalismus, d.h. mit dem Übergang von einer „urkommunistisch“ matriarchalen Klan-Gesellschaft der „lockere[n] Paarungsehe[n]“ zum Patriarchat der Familien unter einem „Häuptling“ vor etwa 6000 Jahren beginnen und in Faschismus bzw. Nationalsozialismus münden lässt. Aber unterschwellig ist der Plot auch in Kurz-Formeln wie jener des „misshandelten“ Eros präsent.

Nicht minder bezeichnend dürfte in diesem Zusammenhang sein, dass der Casanova-Rezensent vom „Eros“ spricht anstatt von ,,Sex(ualität)’. Die Repressionserzählung in ihrer zeittypischen Gestalt um 1968 suggeriert eine Unterdrückung weniger von Sexualität generell als vielmehr von deren Dimensionen jenseits der „genitalen Funktion“, die – so der Vorwurf – in der Geschichte zum „Primat“ erhoben und gefordert, ja gefördert worden sei (Marcuse). Die Kritik am ,Genitalprimat’’, die übrigens auch Reich (und Freud sowieso) trifft und mit der sich die Aufbruchsinteressierten um 68 vom Vater oder Großvater der ,sexuellen Befreiung’ markant absetzen, geht bisweilen mit einer Diskreditierung des Begriffs ,Sexualität’ selbst einher, namentlich etwa bei Herbert Marcuse, dessen Triebstruktur und Gesellschaft (1965) zuerst als Eros and Civilization (1955) bzw. Eros und Kultur (1957) erschienen ist und ein Kapitel zur „Verwandlung der Sexualität in den Eros“ enthält.

Damit wird neben der kritischen zugleich die (sprach)programmatische Stoßrichtung des Repressionsnarrativs augenfällig. Das Programm selbst bleibt zwar meist unscharf, auch wenn tendenziell ganzheitliche Formen von Sinnlichkeit zum Selbstzweck luxuriöser Lust jenseits jeglichen ,Fortpflanzungsziels’ und institutioneller Sanktionierung (Ehe als ,Sexualmonopol’), assoziiert mit Androgynie- und Hermaphroditismus-Utopien jenseits jeglicher Geschlechterdualismen, propagiert werden. Die (relative) Unbestimmtheit hat Methode, weil vielen Aufbrüchen – zumindest solange sie auf dem Papier betrieben werden – eine grundlegende erkenntnistheoretische Problematik von positiv-utopischen Zielangaben bewusst ist. Die „Neue Welt“ sei „im einzelnen […] unbestimmbar“ und die „Ziele“ des Aufbruchs heute noch nicht einmal zu „erträumen“, da das Neue in seinen „Inhalten“ nicht mit der gegenwärtigen ,repressiven’ Sprache und Vorstellung zu „begreifen“ sei – so benennen beispielsweise die Autoren der Unverbindlichen Richtlinien die epistemologische Schwierigkeit – und ganz ähnlich etwa auch Amendt in seiner Sexfront, immerhin einem konkreten Anleitungsbuch.

Das Bewusstsein solcher Unverfügbarkeit von Geschichte und damit der Zukunft für die gegenwärtige Vorstellungs- und Sprachmöglichkeiten erklärt die (relative) Enthaltsamkeit im theoretischen Ausmalen konkreter Entwürfe, im Vor-Schreiben von Geschichte. Aber es bremst nicht die programmatische Aufbruchsgestik, wie vage das Ziel auch sein mag. Darin zeigt sich zudem das triadische Geschichtsmodell, das die Erzählung standardmäßig bestimmt. Mit der programmatischen Funktion wird das Zwei-Stadien-Konzept à la Sündenfall um ein drittes Stadium erweitert, das den ursprünglichen Stand vor dem Fall gewissermaßen renovieren soll. Den Programmen geht es in aller Regel nicht um eine simple Rückkehr, vielmehr müsse man erneut „,vom Baum der Erkenntnis essen’“, wie es Marcuse im erweiterten biblischen Bild aus Kleists Über das Marionettentheater beschreibt. Analog zum triadischen Geschichtsmodell besonders der Romantik liegt der Erinnerung an eine bessere Zukunft nicht einfach ein zyklisches Muster, sondern die Figur einer Spirale zugrunde.

Der programmatische Einsatz der Repressionserzählung bringt den Aufruf zum Eingriff in die Geschichte mit sich, auf dass die freiere Zukunft – je nach Grad der Ungeduld – dereinst, bald oder gemäß Paradise now-Parolen hier und jetzt Gegenwart werde. Im eingreifenden Anspruch, auf eine neue Sinnlichkeit hin Geschichte zu schreiben, besteht eine zentrale Differenz zur Freud’schen Theorie, die für die Aufbruchsprojekte um 1968 zugleich ein Hauptfundus von direkten wie indirekt diffundierten Übernahmen ist. Während Freud zufolge Kultur die Unterdrückung bzw. Sublimierung der Triebe, d.h. die Unterordnung des ,Lustprinzips’ unter das ,Realitätsprinzip’, notwendig bedingt, wird diese Unterdrückungsgeschichte in jener Zeit vielfach zu Repressionskritik und Aufbruchsprogramm umgewendet.

II. Das Wissen der Phantasie und die Hauptrolle der Kunst in der Geschichte des Eros

Dieser Freud-Rezeption verdankt sich zu einem Gutteil, dass für die Projekte um 1968, im eingreifenden Sinn (Sexualitäts-)Geschichte zu schreiben, der Bereich der Kunst eine Hauptrolle spielt. Denn es wird an Freuds Credo angeknüpft, dass bei der „Einführung des Realitätsprinzips“ – die unter Überblendung von Menschheits- und Individualgeschichte sowohl phylo- wie ontogenetisch aufzufassen ist – eine „Art der Denktätigkeit“ von der totalen Reorganisation des „seelischen Apparates“ unbehelligt und weiterhin allein dem Lustprinzip unterworfen bleibe: die Denktätigkeit der Phantasie. So Marcuse unter Verweis auf Freuds Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens (1911). Der ,Draht’, den die Kunst als Gestalt gewordene Phantasie demnach zum Lustprinzip unterhält, verstärkt die hochfliegenden Hoffnungen auf die künstlerische Phantasie beim Projekt eingreifender Geschichtsschreibung speziell im Bereich der Sexualität. Von der Kunst verspricht man sich besonders viel für das zukunftsträchtige Schreiben dieser Geschichte.

Bezüglich der Kunst Literatur richten sich solche Hoffnungen auf das buchstäbliche Schreiben von Geschichte(n). Beim Anspruch auf Eingriff wird keineswegs generell das Handeln gegen das Schreiben ausgespielt – nicht einmal von Stimmen wie den Verfassern der Unverbindlichen Richtlinien, die unter Radikalisierung der situationistischen Avantgarde die gegenwärtige Form von Kunst durch Aktion, vor allem „schlagkräftige Sexuelle Aktion“, ersetzen wollen. Denn grundsätzlich trauen sie der „Kunst“ und „Literatur“ die Möglichkeit neuer „Denkmodelle“ und die Freisetzung von utopisch-revolutionärer Energie zu. Dass sie selbst eine Programmschrift verfassen, zeigt exemplarisch, wie die Hoffnungen auf die Macht der literarisch verschriftlichten (erotischen) Phantasie in jener Zeit auch im Kontext einer – vielleicht zum letzten Mal – grossen Text-Euphorie steht. Viel gesetzt wird auf die Geschichte schreibende Macht von Büchern, etwa mit Schriftenreihen wie der ,futurologischen’ Modelle für eine neue Welt (1964ff.), und speziell von billigen Taschenbüchern, in deren Understatement-Gestalt komplizierte Theorien verkauft werden. Ein Beispiel für letztere ist Peter Gorsens Kunst-, Pornographie- und Gesellschaftstheorie Prinzip Obszön (1969), die den generellen Sexappeal von solchen Büchern im ,langen Sommer der Theorie’ (Philipp Felsch) buchstäblich verkörpert.

Um 1968 sind Sexualtheorie und Ästhetik (im Sinn von Kunst- und Literaturtheorie) eng und wechselseitig verschränkt. Einerseits zeigen sich bei den Theorien der Sexualität ästhetische Ambitionen, indem jene regelmäßig Kunstprogramme enthalten und für ihre Zwecke auf Kunst setzen. Andererseits frönen die ästhetischen Theorien auf verschiedensten Ebenen sexuellen Obsessionen und tendieren dazu, Kunst konzeptionell zu erotisieren. Aus dem hier gewählten Blickwinkel wird eine kardinale Basis für die gegenseitige Verschränkung von Sexualtheorie und Ästhetik in jener Zeit deutlich: Es ist die (namentlich durch Freud inspirierte) Allianz von Phantasie bzw. Kunst und nicht-unterdrücktem Eros, die mit dem Repressionsnarrativ kritisch-programmatisch gewendet wird.

Auf dieser Wendung beruht zu einem wichtigen Teil auch die zeitgenössische Begeisterung für den Surrealismus, der bei der Weiterentwicklung bis in die Gegenwart der 60er Jahre seinerseits den einschlägigen Schwerpunkt ausbaut: Die weithin ausstrahlende Pariser Ausstellung Exposition inteRnatiOnale du Surréalisme von 1959/60, die André Breton und Marcel Duchamps organisieren, steht unter dem bezeichnenden Kürzel (Apronym) EROS. Das Interesse am Surrealismus manifestiert sich um 1968 nicht nur in ,Aktionen’, etwa solchen der Kommune I, und in der Rezeption der Schriften Walter Benjamins, wie die Forschung suggeriert, wenn der in den 60er Jahren intensiv gelesene Benjamin in puncto Surrealismus-Sympathie als Ausnahme unter den westdeutschen Intellektuellen und namentlich im Gegensatz zu Adorno und Enzensberger dargestellt wird (so von Karl Heinz Bohrer). Die Sympathie ist bei Herbert Marcuse ebenso groß, der die Surrealisten für ihre „revolutionären Folgerungen aus Freuds Entdeckungen“ lobt – dafür, dass sie auf dem Realisierungsanspruch des von der Phantasie erinnerten Lebens nach dem Lustprinzip insistierten.

Aber auch Adorno äußert sich nicht zufällig im Kontext dieser Diskussion – anders als in seinem Surrealismus-Aufsatz von 1956 – dezidiert positiv zum Surrealismus. In der Ästhetischen Theorie (1970) schreibt er auf seine Weise engagiert am Repressionsnarrativ mit. Er übernimmt den Freud’schen Konnex der Phantasie bzw. „Imagination“ zur Sexualität und spielt ihn als anti-idealistische „Verflechtung“ der Kunst „mit dem Trieb“  gegen Kants „kastrierten Hedonismus“ aus. In seiner bruchstückhaft erzählten Geschichte der Kunst und Literatur blitzt hier das zum vielfachen Hin und Her der Epochen erweiterte Narrativ der Repression immer wieder auf. Programmatisch versteht Adorno Kunst als – freilich nie unmittelbare, sondern immer sublimierende bzw. sich per Negation meldende – Sprecherin der „unterdrückten und unbefriedigten Bedürfnisse“. In diesem Zusammenhangschließt er sich gerade angesichts seiner (post-)katastrophalen Gegenwart der Forderung der „Surrealisten“ an, dass „Kunst so etwas wie Lust bereiten“ solle, allerdings eine Schmerz-Lust am Finsteren oder „Verdunkelten“, die von den Gegnern in der Geschichte jeweils „als Perversion diffamiert“ werde.

III. Stimulierend: Die Erzählung von der Unterdrückung in der ästhetischen Theorie

Mit solchen ästhetischen Programmangaben deutet sich bereits an: Nicht nur spielt die Kunst hier bei Adorno wie generell in den Theorien um 1968 eine zentrale Rolle innerhalb des (sexual)geschichtlichen Repressionsnarrativs. Diese Geschichtserzählung mit kritisch-programmatischen Implikationen ist zugleich ein grundlegendes und variantenreiches Narrativ der Ästhetik selbst, d.h. der Kunst- und Literaturtheorien einschließlich Kunst- und Literaturwissenschaft. So erzählt etwa der lange Jahre in Los Angeles Deutsche Literatur und Philosophie lehrende Ludwig Marcuse (nur Namensvetter von Herbert) in Obszön. Geschichte einer Entrüstung (1962) eine später von anderen mehrfach weitergeschriebene Literaturgeschichte des Obszönen als Aufbruch zu einer alternativen Geschichtsschreibung der bisher – gemäß einer Art Dialektik der Aufklärung – (pseudo-)liberal unterdrückten Literatur. Die geisteswissenschaftliche Forschergruppe Poetik und Hermeneutik – um ein anderes Beispiel zu geben – trifft sich im September 1966 zu ihrem Kolloquium unter dem Titel Die nicht mehr schönen Künste: Grenzphänomene des Ästhetischen mit dem erklärten Ziel, „der noch ungeschriebenen Geschichte und Systematik jener Realisationen der Kunst nachzugehen, die aus dem Kanon des Schönen ausgeschlossen, an den Rand verwiesen oder antithetisch ausgeglichen wurden“ (Hans Robert Jauß). Das Repressionsnarrativ wird dabei für die Geschichte der Kunsttheorie formuliert und ist – wie gewöhnlich in jener Zeit – gleichzeitig ein Aufruf zur Befreiung vom unterdrückerischen „Kanon des Schönen“. Für dieses literaturwissenschaftliche Aufbruchsprojekt rückt das (vermeintlich oder nicht) am Rande der Geschichte Verortete ins Zentrum der gegenwärtigen Aufmerksamkeit, und so diskutieren an besagtem Kolloquium unter anderen Reinhart Koselleck und Hans Blumenberg über die Ästhetik des ,Obszönen’.

Im Bereich der Theorien im engeren Sinn ließe sich etwa Julia Kristevas La révolution du langage poétique (franz. 1974; dt. 1978) womöglich insgesamt als poetologische Version des Repressionsnarrativs lesen. Denn die ,Revolution der poetischen Sprache’ bezieht sich auf das dynamisierende Aufbegehren des triebhaften ,Semiotischen’ gegen die Setzungen des ,Symbolischen’. Weil sich Kristeva das Verhältnis als (auch) produktive Dialektik denkt und daher das regelnde ,Symbolische’ auf die ,semiotische’ Lust nicht rein restriktiv, sondern zugleich stimulierend wirkt, tritt eine Spannung hervor, die insbesondere die in französischer Theorie-Tradition stehenden Repressionsnarrative jener Zeit häufig kennzeichnet: Wenn aus einer namentlich an de Sade und Bataille geschulten Optik erotische Lust wesentlich vom Reiz des Verbotenen, von erregenden Schranken lebt, rücken sowohl die kritisierte Repression wie auch die propagierte Befreiung in ein höchst ambivalentes Licht.

Eindeutig zeigen dagegen solche Bücher und Diskussionen den stimulierenden Effekt der Repressionserzählung für die Ästhetik um 1968: Ob die Geschichte wahr ist oder nicht – das kritisch-programmatische Narrativ (oder Geschichtsphilosophem) regt in jener Zeit jedenfalls die Produktion neu perspektivierter Literaturgeschichten und Kunsttheorien an und fungiert als Selbstbegründungsfigur. Ob das Narrativ um 1968 sexuell stimuliert hat oder nicht – textuell ganz bestimmt.

Letzteres bezieht sich nicht nur auf Themen und Motive, sondern auch oder sogar mehr noch auf Formen und Verfahren. Roland Barthes’ Le plaisir du texte (1973), eine Art wollüstige Rezeptions- und Produktionsästhetik, ist hierin exemplarisch und besonders radikal zugleich. Barthes votiert für einen „hédonisme“ der Lust am Text zum Selbstzweck, die nicht ausschließlich, aber vorzugsweise literarische Texte hervorbringen kann bzw. können. Dabei erzählt auch er eine Geschichte der Repression: Solcher Hedonismus sei historisch von nahezu allen Philosophien einschließlich derjenigen seines Favoriten Nietzsche zugunsten von edlen Werten wie Wahrheit, Tod, Fortschritt, Kampf oder Freude unterdrückt worden und finde sich nur bei Randfiguren („marginaux“) – bei de Sade und Fourier. Er erzählt bis in die Metaphorik der Unterdrückungsinstanz konsequent: Gegen Selbstzweck-Textlust stünden in Geschichte und Gegenwart jeweils Polizisten bereit, namentlich ein „gendarme politique“, der jene Lust als Klassenidee („idée de classe“) desavouiere. Trotz oder gerade mit der umgemünzten Polizisten-Metapher wendet sich Barthes gegen den gegenwärtigen marxistisch inspirierten Intellektuellen-Ideolekt („l’ideolecte des intellectuels“) in politischer Theorie und Studentenbewegung, bei dem für ihn die Lust („plaisir“) zu kurz kommt, wie er auch in einem Interview von 1972 über sein von ihm als ,unzeitgemäss’ deklariertes Buchprojekt einer „théorie du plaisir“ erklärt.

Mit dieser Kritik ist Barthes aber keine Ausnahme, sondern zeitgemäßer Repräsentant der erotisierten Ästhetik um 1968. Die kunst- und literaturtheoretischen Erotisierungsprogramme jener Zeit markieren regelmäßig Abstand zu den mit Stichworten wie ,AgitProp’ und ,littérature engagée’ aufgerufenen Programmen der Politisierung im engen Sinn von ,Politik’. In den Voten von Herbert über Ludwig Marcuse und Susan Sontag bis zu Barthes bedeuten die Hoffnungen auf Literatur und Kunst, zukunftsträchtige Eros-Geschichte(n) zu schreiben, kein Verlangen nach AgitProp schöner neuer Sexualität. Direkt-politische Botschaften erscheinen ihnen unsinnlich und deshalb unkünstlerisch. Sie verorten den Geschichte schreibenden Eros von literarischen Geschichten vorrangig in Form und Verfahren, in der Sinnlichkeit des Mediums Kunst, die freilich im erweiterten Begriffssinn politisch verstanden wird (Barthes spricht von ,responsabilité de la forme’). Als solcherart erotische Verfahren werden etwa Montage und Karikatur gelobt, und es ist nicht bloß zeitgeistige Rhetorik, wenn Adorno im Aufsatz Die Kunst und die Künste (1967) eine gegenwärtige Vermischung der künstlerischen Medien diagnostiziert und mit folgenden Worten begrüßt: „Die Kunstgattungen scheinen einer Art Promiskuität sich zu erfreuen, die gegen zivilisatorische Tabus sich vergeht.“ Ganz anders und doch vergleichbar im Einsatz des Repressionsnarrativs schreibt Barthes über die Schreibweise des Fragments bzw. Fragmentierten, die in seinen – diese Form speziell um 1968 erotisch aufladenden – Augen besondere Lust am Text bereitet: Die fragmentierte écriture sei durch die Konventionen des ,intellektuellen Texts‘ („,texte intellectuel’“) einer jahrhundertelangen Zensur („censure séculaire“) unterworfen gewesen, und dies in Frankreich ohne Nietzsche noch länger als in Deutschland. Dem gegenwärtigen Aufbegehren gegen solche Zensur, die er in fragmentierten Präsentationsweisen namentlich bei Lacan, Derrida, Julia Kristeva und Philippe Sollers sieht, schließt er sich an – nicht nur theoretisch, sondern auch, indem er, des Abhandlungstons erklärtermaßen überdrüssig, die erotisch-literarische Schreibweise des Fragments selbst praktiziert.

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Die Hoffnungen auf das erotische Wissen und die erotische Macht der Kunst, die nicht als Sphäre der Sinnlichkeit derjenigen der Erkenntnis gegenübergestellt wird, sondern für Vereinigungspotenz steht, sind in den Ästhetiken um 1968 doppelt zu verstehen: Sie beziehen sich einerseits auf das Phantasie-Wissen über den Eros jenseits von dessen Deformation durch Repression, wobei jedoch auch aufgrund des erwähnten epistemologischen Problems kaum je konkrete Programmdarstellungen erwartet werden. Andererseits und mehr noch beziehen sich die Hoffnungen auf Kunst als erotische Weise von Wissen und Macht. Erhofft wird in vielfältigen theoretischen Schattierungen, dass die zukunftsträchtige Kunst der Gegenwart, zumal die Literatur buchstäblich, sinnlich Geschichte(n) schreibe.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag entspricht einem Vortrag, den Christine Weder am 29. November 2018 bei einer von Martina Kopf und Sascha Seiler geleiteten Tagung über „Die 1968er Jahre. Rebellion – Provokation – Pop“ an der Universität Mainz (Gutenberg-Institut für Weltliteratur und schriftorientierte Medien , Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft) gehalten hat (siehe https://www.avl.uni-mainz.de/2018/10/25/tagung-die-1968er-jahre-komparatistisch/). Der geschichtsphilosophische Aspekt ist zuerst auf der Marbacher Tagung „Ereignis und Geschichte: 1968 und die Geschichtsphilosophie“ im April 2018 zur Diskussion gestellt worden. Der Beitrag greift zum Teil zurück auf Christine Weders 2016 erschienenes Buch „Intime Beziehungen. Ästhetik und Theorien der Sexualität um 1968“. Eine überarbeitete und mit Zitatbelegen und Literaturangaben erweiterte Fassung erscheint 2019 im Rahmen einer Buch-Ausgabe der Mainzer Tagungsbeiträge.