Unglücksglück

Martin Walsers poetischer „Spätdienst“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekanntlich ist Martin Walser – zum Vergnügen für seine Leser und vielleicht zum Missvergnügen seiner Gegner – seit jeher „damit beschäftigt, Leben in Sprache zu verwandeln“, wie Jörg Magenau, einer seiner Biografen, einmal treffend bemerkt hat.

Mit teils provokanten Äußerungen – sei es in Romanen, Erzählungen, Theaterstücken oder in Essays und Reden – befeuerte der letzte Großschriftsteller seiner Art immer wieder die Debatten, und das nicht nur in den Feuilletons. In mehr als sechs Jahrzehnten als Schriftsteller hat es Walser sich und seinen Lesern dabei nie leicht gemacht. Mainstreamförmig war und ist Walser nicht zu haben.

So war zuletzt auch der Kurzroman „Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte“ keinesfalls ein Aufguss alter Walser-Themen, wie der eine oder andere Kritiker meinte, sondern eher ein provokanter Text auf der Höhe der Zeit, kein wenig altersmilde, kein bisschen politisch korrekt, sondern poetisch, fintenreich, lakonisch, aphoristisch, monologisch-dialogisch, gegen den Zeitgeist, immer aufgehoben in Sprache: ein Text eben im ewig aktuellen Walser-Sound. Da gab es neben „steilen Brüsten“ und „Titten“, „gleißenden Schenkeln“ und „Schenkel-Emanzipationen“ aber auch so wunderbare Walser-Sätze wie „Wenn ich nicht aufpasse, habe ich Züge einer negativen Romanfigur“, „Die Wirklichkeit ist ein Gespinst aus erfundenen Fäden“, „Mich verbergen in mir. Die Sprache wechseln, dass ich mich nicht mehr verstehe“, „Die Wahrheit als Mutter der Lüge“, „Erst wenn du niemand mehr hast, dem du etwas vorwerfen kannst, näherst du dich dir selbst“ oder jene „Konjunktiv-Elegie“ als PS: „Ich würde /wenn ich könnte/ wollen/dass ich kann.“

Und auch im Roman „Statt etwas oder Der letzte Rank“ zeigte sich Walsers Ich als erinnerndes, meditierendes Ich, das über Gott und die Welt sinniert. So heißt es darin über die letzten Dinge: „Mein Exhibitionismus. Ich will erkannt sein. Und sei’s auf meine Kosten!“ Oder auch: „Dieses Gefühl, zugleich der Sieger und der Besiegte zu sein! Das ist das Leben selbst“, „Meine Fluchtversuche: Einbildungen! Meine Rettungsbewegungen: reine Lyrik“ oder „Geständnishaftes gehört in die dritte Person“, „Und jetzt? Die Pfeile sind entfernt, die Wunden brennen. Der Schmerz als Daseinssteigerung“ oder „Fühl dich so unwichtig, wie du bist. Wenn dir das gelingt, darfst du bersten vor Stolz“ und „Ich wollte nichts mehr wissen, nur noch sein“.

An diese gleichsam metapoetische wie metapoetologische Gedankenmusik knüpft auch Walsers neuestes Buch mit dem Titel „Spätdienst“ an. Mit Arabesken seiner Tochter Alissa, Schriftstellerin und Bildende Künstlerin, bietet der Text – grafisch ansprechend gesetzt – „Bekenntnis und Stimmung“, so sein Untertitel. Gleich der erste Vierzeiler lautet „Ich möchte sein wie ein Wunsch, / auf der Schwelle möchte ich stehen, / ein Tag sein vor seinem Anbruch, / noch nicht gewesen sein.“ Und am Ende heißt es: „Es tanzen die Blätter im Wind, / wissen nicht, dass sie am Fallen sind.“

Zwischen diesen Polen entfaltet „Spätdienst“ auf gut 200 Seiten jenen Walserschen Kosmos aus Melancholie, Natur- und Stimmungsbeobachtung, aus Notaten zum Politik- und Kunstbetrieb und nicht zuletzt jenen heiter-verzweifelten Ton des Unglücksglücks oder den einer ironischen Selbstreflexion, etwa im Satz: „ich spiel, bis ich, was ich spiel, glaube.“ Oder auch in: „Wahrscheinlich habe ich mich satt. / Meine Geduld mit mir ist zu Ende. / Ich werde jetzt andere Saiten aufziehen. / Wenn ich nicht hören will, muss ich fühlen, / Gar alles kann ich mir auch nicht durchgehen lassen.“ Ironisch und heiter gleichermaßen auch in der Erkenntnis: „Man muss seine Feinde nähren, das macht sie müd.“ Oder: „Ich bin ein angebundenes Tier, das so tut, als möchte es gern frei sein, während es mit Genuss die Gefangenenkost frisst.“ Und augenzwinkernd: „Das größte Glück ist, wenn ich jemanden anrufe und ihn nicht erreiche.“

Walser, der sich bekanntermaßen immer auch politisch geäußert hat, notiert in „Spätdienst“: „Ein neues Deutschlandlied wäre fällig. / Keiner von uns wird dabei sein, / wenn es wieder Deutschland heißt, / solange wir sind, werden es zwei sein, / eines, das kratzt, und eines, das beißt.“

„Spätdienst“ bietet verdichtet in der Tat das, was „für Gegner / ein gefundenes Fressen // Für meine Leser / vielleicht ein Ausflug / ins Vertraute“ ist, wie Walsers Widmung zu Beginn lautet.

Erinnerten bereits die „Rank“-Notate in ihrer epigrammatischen Form an Walsers „Meßmer“-Bücher, an „Meßmers Gedanken“ (1985), „Meßmers Reisen“ (2003) und an „Meßmers Momente“ (2013), so trifft dies ebenso für diese „Lebensstenogramme“, wie auf dem Umschlagtext des Rowohlt-Verlags formuliert, zu.

Mehr noch gemahnen die Sprüche, Notate, Gedichte und Aphorismen im „Spätdienst“ an Goethes „Zahme Xenien“: „Ich wünsche, daß Sie Seite für Seite abgedruckt werden. Die Verse sind so gezählt und eingerichtet, daß auf keiner Seite zu viel steht“, hat Goethe bekanntlich seinen Verleger Fromann zu einer entsprechenden Sorgfalt bei der Publikation der „Xenien“ angewiesen. Auch im „Spätdienst“ steht auf „keiner Seite zu viel“. Und die „Bekenntnisse und Stimmungen“ des namenlosen Ich sind an vielen Stellen alles andere als zahm. Dabei schont Walser, wie eh und je, weder seine Kritiker – einige werden namentlich aufgezählt – noch die Literaturkritik oder das Feuilleton, besonders mit dem Wiederabdruck des bereits 1968 in der „ZEIT“ publizierten Satire-Gedichts auf den Feuilletonbetrieb: „Ostern, schönes Feuilleton / aus Blut und Blüte, / du, das feiern wir! Statt Golgatha, Verdun und Auschwitz / lassen wir diesmal / holzschnitthaft Hué herkommen / (…) Wer höbe da den ersten Stein / und würf ihn. /Tief genug geschleudert, / will Deutschen alles Honig werden.“ Was paradoxerweise – oder auch nicht – prompt zwei Kritiker reflexartig an Walsers Paulskirchen-Rede von 1998 erinnerte und zu entsprechender Kritik provozierte – eine Lesart, die Iris Radisch in der „Zeit“ eindrucksvoll zurückgewiesen hat.

Zum beißenden Spott auf den Betrieb, zur – teils derben – Kritik an den Kritikern, zu währenden und genährten Wunden, bietet Walsers „Spätdienst“ neben den angesprochenen Selbstreflexionen, neben poetologischen Skizzen, Beobachtungen von Stimmungen und Natur – naturgemäß muss man wohl sagen – eine Vielzahl von Reflexionen über das Alter und den Tod. So ironisch-heiter wie  „Das Alter ist ein Zwergenstaat, regiert von jungen Riesen“ sind sie jedoch nicht immer.

„Spätdienst“ ist ein faszinierendes Florilegium durch den Walser-Kosmos, ein Riesenstaat, der entstanden ist, indem Walser auch angesichts der letzten Dinge unablässig damit beschäftigt ist, „Leben in Sprache zu verwandeln“, während wir ihm dabei zuschauen dürfen.

Titelbild

Martin Walser: Spätdienst. Bekenntnis und Stimmung.
Mit Arabesken von Alissa Walser.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018.
208 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783498074074

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