Martin Walser 1968 und 2018 über Golgatha, Verdun, Auschwitz, Hué

Neuer Anlass zu einer alten Debatte?

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die erste Ausgabe des ersten Jahrgangs von literaturkritik.de hatte 1999 ausführlich über den Verlauf der Debatte zu Martin Walsers umstrittener Paulskirchenrede in Frankfurt aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an ihn berichtet. Walser hatte hier das öffentliche Gedenken an Auschwitz als häufige „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“ in Frage gestellt. „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung.“ Die Debatte wurden später aus verschiedenen Anlässen, vor allem nach Walsers Roman Tod eines Kritikers (siehe literaturkritik.de 6/2002, 9/2003, 10/2003, 5/2004, 10/2005), wiederholt aufgegriffen und war innerhalb der Redaktion und im Kreis unserer MitarbeiterInnen ähnlich umstritten wie in der Literaturkritik und -wissenschaft auch sonst.

Für die letzte Ausgabe des zwanzigsten Jahrgangs gäbe es einen aktuellen Anlass, darauf zurückzukommen: die Rezension zu Walsers jüngster Buch-Veröffentlichung Spätdienst des Literaturwissenschaftlers und -kritikers Christian Metz, die am 20.11.2018 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien ist. Sie konzentriert sich (anders als unser Rezensent in dieser Ausgabe) auf ein einziges Gedicht in Spätdienst und dort auf die Zeilen, in denen es wie damals in Walsers Rede um Auschwitz geht. Die Rezension hat Rezensenten in anderen Zeitungen rasch zum Widerspruch provoziert. Das Gedicht lautet vollständig:

Ostern, schönes Feuilleton
aus Blut und Blüte,
du, das feiern wir!
Statt Golgatha, Verdun und Auschwitz
lassen wir diesmal
holzschnitthaft Hué herkommen
und sagen keinem hierzulande nach,
dass er diesen Krieg andauernd billigt,
sagen das nicht der CDU nach,
die diesen Krieg andauernd billigt,
sagen das nicht der SPD nach,
die diesen Krieg andauernd billigt,
wir feiern vielmehr
feierlich statt
Golgatha, Verdun und Auschwitz
diesmal Hué.
Gegenlicht-Ruinen …
annamitische Passion.
Der du für uns zusammengebombt
bist worden …
Irgendwo geht einem doch immer wieder
irgendwie ein Palmkätzchen auf.
Wer höbe da den ersten Stein
und würf’ ihn.
Tief genug geschleudert,
will Deutschen alles Honig werden.

„Golgatha, Verdun und Auschwitz / diesmal Hué“: Es ist vor allem diese Aneinanderreihung, die Christian Metz zu seiner Kritik veranlasste:

Das Problematische dieser Zeilen besteht – soll man im Fall von Martin Walser sagen „abermals“? – darin, wie hier Auschwitz thematisiert wird. Die Passage suggeriert, dass Auschwitz unter verschiedenen Ereignissen einzureihen sei. Neben Jesu Kreuzigung auf Golgatha, der Schlacht von Verdun im Ersten Weltkrieg und eben dem Kampf um die Stadt Hué im Vietnam-Krieg erscheint Auschwitz in dieser Formulierung als eine tödliche Katastrophe unter vielen.

Am 26. November bestätigte Frauke Meyer-Gosau in der Süddeutschen Zeitung die Einschätzung von Metz (ohne dessen Rezension ausdrücklich zu erwähnen), konkretisierte aber, was dieser nur vage als Vermutung formuliert hatte, nämlich dass das Gedicht 1968 geschrieben wurde. Genauer nun: „Zuerst wurde es 1968, zu den Hochzeiten des Vietnamkriegs, in der ZEIT abgedruckt, damals als eine wütende Anklage gegen das Duckmäusertum deutscher Politik gegenüber dem großen Bruder USA.“ Meyer-Gosaus Einschätzung des Gedichts stimmt jedoch mit der von Metz weitgehend überein:

Auschwitz als ein historisches Massaker neben anderen, seiner Singularität entkleidet. Daran ist, was Martin Walsers Vorstellungswelt anlangt, ja leider nichts Neues und interessant vielleicht allenfalls, wie lange er schon damit beschäftigt ist, die von ihm selbst so genannte „Auschwitzkeule“ von seinem deutschen Gewissen fernzuhalten. Womöglich wäre es inzwischen klüger, die rituell gewordene Provokation durch Nichtbeachtung ins Leere laufen zu lassen: Längst ist ja wirklich alles dazu gesagt.

Entschieden kritisch reagierte dagegen Iris Radisch in der ZEIT vom 29. November 2018 auf die Rezension in der F.A.Z. mit einem genauen Hinweis auf die Erstveröffentlichung am 22. März 1968 unter dem Titel Allgemeine Schmerzschleuder. Ein rechtzeitiger Vorschlag für eine Behandlung des Osterfestes 1968 in einer deutschen Zeitung und mit Ansätzen zu einer Interpretation:

Warum interpretieren wir dieses Gedicht jetzt mit fünfzigjähriger Verspätung? Weil Martin Walser das Gedicht, leicht bearbeitet und gekürzt und ohne die erklärenden Überschriften, in seinem aktuellen Aphorismenbuch Spätdienst wieder aufgenommen hat und vom Rezensenten der FAZ, dem Literaturwissenschaftler Christian Metz, leider wörtlich – und deswegen komplett falsch verstanden wurde. Walser, behauptet Christian Metz in seiner von der uneigentlichen Redeweise des Gedichtes vollständig absehenden Rezension, suggeriere, „dass Auschwitz unter verschiedenen Ereignissen einzureihen sei“. Das ist die Wiederholung des Maximalvorwurfs: Wie 1998 in der Paulskirchenrede „relativiert und bagatellisiert“ Walser Auschwitz bereits in einem Gedicht aus dem Jahr 1968. Schon hier höre man die typischen revisionistischen Signale: den „altbekannten antisemitischen Topos“. Walser, so sekundiert Julia Encke in der FAS [am 25.11.], „macht also einfach immer weiter“. In solchen Momenten, so die Literaturkritikerin, sei „die Kritik“, die das nicht bemerke, „tatsächlich am Ende“.

Walsers Spätdienst selbst und schon die Paulskirchenrede, die sich nicht zuletzt als Antwort auf Vorwürfe im „Literarischen Quartett“ gegen die Ausklammerung des Nationalsozialismus in seinem autobiographischen Roman Ein springender Brunnen verstehen lässt, ist eine wiederholte Kritik der Literaturkritik. Hier „bekommt jeder einst missliebige Kritiker sein Fett weg“, schreibt Gerrit Bartels im Tagespiegel (22.11.) und versteht dabei auch die erneute Veröffentlichung des besagten Gedichts als bewusste Provokation dieser Kritiker. „Einfach Golgatha, Verdun und Auschwitz reihen“, sei durchaus problematisch. „Aber ihn nun gleich wieder als Geschichtsrevisionisten und Holocaust-Relativierer zu entlarven, wie es die ,FAZ‘ prompt getan hat?“

Die literaturkritische Auseinandersetzung mit Walsers Gedicht ist zugleich eine mit der Literaturkritik generell. Metz stellte die Frage: „Wie lässt sich angemessen mit dem ,Spätdienst‘ eines renommierten Autors umgehen, wenn er seine Leser bei genauer Lektüre provokativ mit der Bagatellisierung von Auschwitz konfrontiert?“ Und Julia Encke kritisierte mit Blick auf die Rezensionen von Ulrich Greiner in der ZEIT und Arno Widmann in der Frankfurter Rundschau: „Walser turnt vor, und die Kritik turnt ihm nach. Schließlich ist er ja der angeblich so große Walser. Um ihm, den manche für den letzten Großen halten, zu gefallen, machen sie ihm alles nach, statt genau hinzuschauen. In solchen Momenten ist die Kritik tatsächlich am Ende.“ Iris Radisch wiederum erklärte: „Am Ende ist in diesem Fall aber eher die Fähigkeit zum genauen, Kontexte und Tropen berücksichtigenden Lesen. Was immer man von Walser hält: Diese in verstellter Redeweise verfassten Verse, die mit den Mitteln der Simulation die gegnerischen Schöngeister entlarven, eignen sich beim besten Willen nicht dazu, die Paulskirchendebatte im Wasserglas der FAZ-Gedichtinterpretation zu wiederholen.“

Beiden ist insoweit zuzustimmen, als weder die kritiklose Verehrung eines Autors noch die Ignoranz gegenüber den Kontexten, dem genauen Wortlaut eines Textes, seinem Stil oder seiner Bildlichkeit einer halbwegs ambitionierten Literaturkritik angemessen sind. Zu den Kontexten, in denen das Gedicht von 1968 zu lesen wäre, gehört vor allem seine im selben Jahr unter dem Titel Heimatkunde erschienene Sammlung von Reden und Aufsätzen. „Heimatkunde“ wird von Walser hier (in einem Essay aus dem Jahr 1967) als ein „durchaus zeitkritisches Unterfangen“ charakterisiert, „das auch die Auschwitz-Prozesse oder den Vietnamkrieg betreffen muß“. In dem Band war ebenfalls sein 1965 im Kursbuch publizierter Aufsatz Unser Auschwitz nachgedruckt.

Am 1.12. erschien dem entsprechend in der Welt ein Kommentar von Marc Reichwein zu Walsers Gedicht, der fordert: „Viel mehr als an die Paulskirchendebatte muss uns das Gedicht an Walsers intensives Engagement vor 50 Jahren erinnern.“  Er fügt erläuternd hinzu:

1968 war der Zenit der Studentenrevolte, die konstitutiv vom Protest gegen den Vietnamkrieg getragen war. Durch die Tet-Offensive war es dem Vietcong gelungen, die alte Kaiserstadt Hué zu erobern. Bei den heftigen Kämpfen wurde die Stadt dem Erdboden gleichgemacht. Auch deshalb war der Ortsname für Walser eine zeitgenössisch aufgeladene Chiffre, die nach Vergleichen suchte. Auschwitz- und Völkermord-Vergleiche waren im Protestmilieu gegen den „faschistisch-imperialistischen“ Vietnamkrieg damals an der Tagesordnung.

Dem entspricht der Einspruch, den Paul Jandl am 4.12. in der Neuen Zürcher Zeitung erhob:

Das inkriminierte Gedicht, das Auschwitz in einem Atemzug mit Golgatha, Verdun und dem während des Vietnamkriegs bombardierten Hué nennt, hat Walser schon 1968 geschrieben. Es relativiert nichts.
Im Gegenteil. Es ist ein satirischer Angriff auf die wohlfeile und gleichmacherische Betroffenheit der Feuilletons. „Blut und Blüte“ es ist ihnen eins: „Tief genug geschleudert / will doch Deutschen alles Honig werden“. Dass aus den Feuilletons der Honig vermeintlichen Mitgefühls trieft, wollte Martin Walser sagen. Weil man fünfzig Jahre später die Ironie des Gedichts nicht mehr versteht, wird in den Feuilletons moralisch Anzeige erstattet. Das ist in diesem Fall besonders paradox.

Ganz loszulösen ist die neue Veröffentlichung des Gedichts von der späteren Paulskirchendebatte allerdings nicht. 2015 erschien Walsers Aufsatz über Auschwitz erneut im Rahmen einer Zusammenstellung von Walser-Texten unter dem Titel Unser Auschwitz. Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld, die durchaus als Beitrag zu den Debatten über Walser seit 1998 zu verstehen war.

Spricht der Wandel des um und nach 1968 mit der DKP sympathisierenden Autors zum CDU-Sympathisanten für eine Kontinuität in seiner Einstellung zum Umgang der Medien mit Auschwitz? In einem Interview zu seinem 90. Geburtstag im März vorigen Jahres erklärte Walser in der ZEIT zu seiner Paulskirchenrede:

Auschwitz ist ein so grauenhafter Vorgang, dass es vielleicht schon falsch war, über dessen Wirkung eine Rede zu halten, noch dazu eine Sonntagsrede. Die Hauptschwäche dieser Rede ist mir inzwischen leidvoll aufgegangen, etwas sehr Schlichtes, aber Verhängnisvolles. Ich hatte dort gegen die „Instrumentalisierung von Auschwitz“ gesprochen und nicht genau gesagt, was ich damit meinte. Ignatz Bubis und die jüdische Gemeinde hatten verstanden, ich würde jüdische Ansprüche meinen. So etwas wäre mir nie, nie, nie, (wird laut) niemals eingefallen, hätte mir gar nicht einfallen können, nach meinem Aufsatz über die Auschwitz-Prozesse von 1965, nach Auschwitz und kein Ende von 1979 und so weiter.

Es ist nicht zuletzt die eingestandene Ungenauigkeiten, mit denen Walser zu Kontroversen über seine mehrdeutigen Äußerungen provoziert. Reich-Ranicki schrieb nach der Paulskirchenrede und der ihr folgenden Auseinandersetzung mit dem Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland Ignatz Bubis in einem auf Versöhnung bedachten Artikel:

Ich kenne und lese Walser seit den fünfziger Jahren. An seinen Romanen und Theaterstücken, über die ich seit 1957 schreibe, habe ich unendlich viel gelitten. Und er hat vielleicht noch mehr an meinen Kritiken seiner Bücher gelitten. Ich weiß schon: Ich habe ihm nicht selten ein Unrecht angetan – und mitunter war er mir gegenüber ungerecht. Aber ich weiß auch: Martin Walser ist kein Antisemit. Noch einmal: Ein Antisemit ist Walser nicht. […]

Und doch ist der gegen Walser erhobene Vorwurf, er habe in der Paulskirche eine verantwortungslose Rede gehalten, nicht von der Hand zu weisen. Er hat versagt, aber nicht politisch und nicht moralisch, nicht als Denker und nicht als Zeitkritiker. Er hat als Redner versagt und auch als Literat. Ich sehe in seiner Rede keinen einzigen wirklich empörenden Gedanken. Aber es wimmelt in ihr von unklaren und vagen Darlegungen und Formulierungen, die mißverstanden werden können und von denen manche – das war doch vorauszusehen – mißverstanden werden müssen.

Er gesteht, daß er, wenn die deutsche Vergangenheit in den Medien immer wieder gezeigt wird, anfängt „wegzuschauen“. Aber es ist nicht wahr, daß er das „Wegschauen“ empfiehlt. Gleichwohl liefert er mit solchen Geständnissen Argumente für die Stammtische. Er protestiert gegen die „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“. Wer instrumentalisiert und zu welchen Zwecken? Walser bleibt die Antwort schuldig. Er spricht von Auschwitz als „Drohroutine“ und als „jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel“. Wer hat Walser gehindert, konkrete Beispiele zu geben? Wen hat er gemeint: Grass oder Habermas oder Handke oder schließlich Bubis? (F.A.Z., 2.12.1998, erneut in Reich-Ranicki: Martin Walser, Sonderausgabe von literaturkritik.de 2017)

Ist zu diesen Debatten wirklich schon alles gesagt, wie eine der Kritikerinnen von Walsers Spätdienst nahelegt? Lohnt es sich, sie aus neuem Anlass – zusammen mit einer über Literaturkritik – fortzusetzen? Was die Beteiligung von literaturkritik.de daran betrifft, sei dies unseren LeserInnen und MitarbeiterInnen überlassen. Vielleicht kommen wir im neuen Jahr darauf zurück.

Titelbild

Martin Walser: Spätdienst. Bekenntnis und Stimmung.
Mit Arabesken von Alissa Walser.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018.
208 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783498074074

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch