Robustheit trifft Verletzlichkeit

Der Briefwechsel zwischen Hans Magnus Enzensberger und Ingeborg Bachmann zeigt zwei grundlegend verschiedene Temperamente im Literaturbetrieb der 1960er Jahre

Von Lothar StruckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lothar Struck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Frühjahr dieses Jahres ist ein Buch von Hans Magnus Enzensberger mit dem Titel Überlebenskünstler erschienen . Es enthält 99 Kurztexte, Vignetten genannt, von (von Enzensberger ausgewählten) Schriftstellern, die im 20. Jahrhundert „Staatsterror und Säuberungen überlebt“ hatten, nicht zuletzt weil sie Strategien „von der Anbiederung bis bin zur Tarnung“ entwickelten. Die Liste reicht von Knut Hamsun über Maxim Gorki, André Gide, Lion Feuchtwanger, Ezra Pound, Anna Achmatowa, Nelly Sachs bis zu Hans Fallada, Irmgard Keun, Louis-Ferdinand Céline, Ilse Aichinger und Imre Kertesz. Enzensberger porträtiert vor allem die Überlebensstrategien quer durch alle politischen Lager, ob Faschisten, Nationalsozialisten, Kommunisten oder Stalinisten. Er wertet zuweilen literarisch, aber nie politisch-moralisch. Er zeigt ihren Eifer, die fast immer später eintretende Desillusionierung oder ihren verborgenen Widerstand. Sie kämpften mit gebotener Vorsicht oder machten sich klein; meist blieben sie in ihrer Heimat. Nur wenige Exilanten finden sich in der Liste.

Wie in einer solchen subjektiven Auswahl nicht anders möglich, vermisst man einige Namen. Andere wiederum muten merkwürdig an. Hierzu gehört die Aufnahme der 1926 geborenen Ingeborg Bachmann. Von politischen Verstrickungen oder Wirrnissen von ihr oder der Familie, die in Enzensbergers Überlebenskünstler-Schema passen würden, ist nichts bekannt. Später sagte Bachmann in einem Interview, dass der Einmarsch der Nazis in Klagenfurt 1937 ihre Kindheit zertrümmert habe. Selbst wenn man diesen in der Bachmann-Forschung kontrovers diskutierten Punkt (den Enzensberger nicht erwähnt) ernst nimmt, dann berechtigt alleine dieses Erlebnis eigentlich nicht das Attribut „Überlebenskünstlerin“. Enzensberger erzählt in dem Text über Ingeborg Bachmann von ihrer gemeinsamen Zeit in Rom. Er erzählt von ihren Zusammenkünften und der Diskretion, die er ihr gegenüber immer gezeigt habe. Über ihre diversen Liebhaber wollte er nichts wissen, es ging ihm um die Poesie, das Schreiben, das Leben als deutscher Schriftsteller beziehungsweise österreichische Schriftstellerin.

Die Kunst des Überlebens von Bachmann bestand, so liest man zwischen den Zeilen, in der Arbeit, im Abtrotzen von Literatur unabhängig all der Krankheiten und Verstörungen, die früh bei ihr, dem „Covergirl“ des Spiegel von 1954, ausbrachen. Das zeigt sich nicht zuletzt im jetzt publizierten Briefwechsel zwischen dem robusten Rationalisten Enzensberger und der fragilen, verletzlichen Bachmann.

130 Dokumente werden von Hubert Lengauer im Rahmen der Salzburger Bachmann Edition von Hans Höller und Irene Fußl herausgebracht. Der Titel des Briefwechsels ist eine therapeutische Aufforderung Enzensbergers an „meineingeborg“ vom 1. Dezember 1962: „schreib alles was wahr ist auf“. Im selben Brief steht dann noch: „versprich, daß wir uns nicht verschonen wollen.“

53 Schriftstücke sind von Enzensberger, 77 von Bachmann. Davon hat Bachmann sieben Briefe nicht versandt, zwei Schriftstücke sind nur kurz und unwichtig, ein Brief geht an Enzensbergers damalige Frau Dagrun. Sieben Schriftstücke von Enzensberger sind nur Termin-Kurzmitteilungen, Post- oder Ansichtskarten (eine aus dem „ganz und gar beschissenen“ Tahiti).

Man kannte sich von einer Tagung der Gruppe 47 im Jahr 1955. Enzensberger wurde im November 1957 initiativ. Er unterzeichnet mit „mang“ (nach „St. Mang“, dem heiligen Magnus von Füssen). Seine Briefe sind fast durchgängig in Kleinbuchstaben (teils aus Faulheit, teils weil es hübsch aussehe, wie er einmal sagt; keinesfalls sei dies eine „weltanschauung“). Nur offiziöse Briefe (beispielsweise als Suhrkamp-Lektor) sind in normaler Rechtschreibung verfasst und, einer der letzten, wieder eine Laune, nur in Versalien. 1959 wechselt man vom „Sie“ zum „Du“. Nach etwas mehr als zehn Jahren versiegt der briefliche Austausch. 1967 gibt es nur noch zwei längere Briefe von Bachmann an Enzensberger, drei weitere werden nicht verschickt. Ein weiterer, nicht versandter Brief ist von 1968. Enzensbergers letztes abgedrucktes Schriftstück ist eine Ansichtskarte datiert auf den 31. August 1968. Dann gibt es noch zwei nicht verschickte Briefe Bachmanns von 1972, in der sie Zweifel an einem Detail in einem Buch von Enzensberger beschreibt. Dieses versiegende Ende überrascht, weil eine ziemliche Vertrautheit zwischen den beiden spürbar ist. War es zur Entfremdung gekommen? Im fast 70-seitigen Nachwort des Herausgebers ist nichts darüber zu lesen (stattdessen einiges über das Gestaltungsprinzip Enzensberger’scher Gedichte).

Rund 200 Seiten umfasst der Abdruck der 130 Konvolute. Danach folgen rund 130 Seiten Stellenkommentare, die zuweilen etwas bemüht wirken. Einem Leser dieser Briefe braucht man sicherlich nicht die Lebensdaten von Uwe Johnson, Klaus Wagenbach oder gar Heinrich von Kleist zu übermitteln. Stattdessen hätte man beispielsweise gerne gewusst, wer Frau Melms war. Zuweilen neigt der Herausgeber im Wunsch nach einer möglichst präzisen Rekonstruktion des Lebens von Bachmann zu ausschweifendem Detailreichtum. So ist die Frage, ob die Autorin Ende Juni 1968 nun in New York war oder nicht für das Verständnis des abgedruckten Schriftstücks eher unerheblich. Andererseits war bei einigen Briefen für eine halbwegs schlüssige chronologische Einordnung Detektivarbeit notwendig. Manches bleibt Vermutung. Die Leerstellen bei Enzensberger sind hingegen überschaubar, wobei einiges mithilfe des 2014 erschienenen Erinnerungsbuchs Tumult rekonstruiert wird.

Für das Zwischen-den-Zeilen-Lesen in den Briefen sind rudimentäre Kenntnisse von Leben und Werk beider Protagonisten hilfreich. Und schließlich helfen die Stellenkommentare doch, insbesondere wenn es um „Projekte“ wie die internationale Zeitschrift Gulliver geht. Deutsche, französische und italienische Schriftsteller wollten hier publizieren. Das Projekt scheiterte – nicht zuletzt weil die eigentlich vorausgesetzte „weitgehende übereinstimmung in politischen fragen“ nicht gegeben war, wie Enzensberger in einem sehr langen Brief an alle Beteiligten (unter anderen auch Bachmann) resümiert. Die im Ton zuweilen sehr pointiert formulierte Bilanz eines Scheiterns zeigt sehr gut die Stimmung und intellektuelle Atmosphäre der 1960er Jahre – Schärfe in der Sache und persönliche Freundschaft mussten sich nicht ausschließen. Einige Jahre zuvor war bereits eine deutsche Literaturzeitschrift gescheitert, in der sieben gleichberechtigte Herausgeber agieren sollten. Enzensberger war zornig darüber und gelobte, mit Leuten wie Günther Grass und Klaus Wagenbach nie mehr zusammen arbeiten zu wollen.

Hubert Lengauer erklärt im Nachwort, es greife zu kurz, in Enzensberger den „Macher“ des konkreten zu sehen, während Bachmann, die, wie sie sich einmal selber charakterisierte, „höchst wirklichkeitsfremde Person“, als poetischer Feingeist fungiere. Sie sei sehr wohl politisch gewesen, mindestens zu Beginn. Tatsächlich hatte sie sich einigen Unterschriftenaktionen angeschlossen, wobei sie dann feststellte, dass sie sich als Österreicherin womöglich nicht in Initiativen wie zum Beispiel gegen das geplante Deutsche Staatsfernsehen zu engagieren habe. Natürlich ist Enzensbergers Engagement deutlich stärker, zu Beginn fast ähnlich penetrant wie das von Grass. Am Ende kommt man (und auch Lengauer) nicht umhin, Enzensbergers Gedichte, Publikationen und Herausgeberschaften als von einer „konkreten Utopie“ getragen zu verorten, während Bachmanns Utopiebegriff eher auf sprachpoetische Distanz zur Realität ging.

Als Enzensberger zur Tat schritt und sein Kursbuch herausbrachte – Understatement pur, wenn er von einer „unsinnigen zeitschrift“ spricht –, setzt das Flehen um Gedichte Bachmanns ein. Es mündet schnell in so etwas wie Verärgerung, weil er wochen-, monatelang keine Antwort erhält. (Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Komik, wenn Bachmann Enzensberger einmal bittet, nicht „ein halbes Jahrhundert“ mit einer Antwort zu warten.) Er beschwört sie, ein letztes Mal „geschäftlich“ mit ihm zusammen zu arbeiten und ihre „meteorologie“ (ein wunderbarer Euphemismus für Bachmanns Prokrastination) zu überwinden. Ein andermal schreibt er ihr wie einem Kind auf, dass sie endlich anfangen solle, ihre Gedichte zu suchen, danach Briefmarken zu kaufen und zum Postamt zu gehen. Mal sind die Gedichte dann mutmaßlich bei einem Poststreik in Rom verloren gegangen, mal erreicht sie ein Brief nicht, weil sie zwischen diversen Wohnorten in Europa hin- und herpendelt. Aus lauter Verzweiflung schreibt Enzensberger seine Bittbriefe mit Kohlepapier und schickt sie in Kopien an mehrere Adressen.

Da war die luftige, unbeschwerte Leichtigkeit, garniert mit Enzensberger’scher Ironie der Literatur gegenüber („immer diese gedichte“), schon länger vorbei. Kein kokettes Träumen mehr über Romane und den Sinn, solche zu schreiben. Vorbei die Schilderungen einer anregenden Jean Paul-Lektüre. Zuweilen noch ein bisschen Klatsch. Eine kleine Bemerkung Ende 1958/Anfang 1959 lässt aufhorchen: „grüßen sie johnny walker schön“ schreibt Enzensberger als Abschiedsgruß – damals also schon der Alkohol.

Dann Enzensberger als Stipendiat der Villa Massimo – nicht ohne politischen Widerstand, wie er halb stolz, halb angeekelt bemerkt. Der damalige deutsche Innenminister wollte ihm wegen politischer Stellungnahmen den Aufenthalt wieder entziehen. Er widersprach erfolgreich – empfand die Notwendigkeit einer Intervention jedoch als Demütigung. Kaum angekommen, flieht er aus dem „miserablen künsterghetto“, besorgt sich ein anderes Haus. Enzensbergers Familie kommt mit. Man kann nur ahnen, wie Enzensberger und Bachmann die Zeit verbracht haben. Stoff genug für Spekulationen. Gab es ein Liebesverhältnis? Spätere Briefstellen wie „Augenküsse“ von Bachmann und „ich fürchte mich sehr und denke immer an dich“ von Enzensberger sollen dies nahelegen. Oder spielt Enzensberger nur diese Sehnsucht, um Bachmann aufzumuntern? Es habe „geknistert“, heißt es im Nachwort. Die Germanistik übt sich im Blick durch das Schlüsselloch. Gab es noch andere Briefe zwischen den beiden, die in dieser Sammlung fehlen? Von den zuweilen als Gerücht zirkulierenden Kassiberbriefen, angeblich postlagernd in Rom, fällt kein Wort vom Herausgeber. Aber man ist geneigt zu sagen: Was soll’s?

Dabei ist es die gepflegte Diskretion beider, die angenehm ist. Man erfährt nur wenig von der Liaison Bachmanns mit Max Frisch; die Trennung muss man erlesen. Paul Celan, Hans Werner Henze, ein Herr Opel – nur Andeutungen. Sanfte Kritik Enzensbergers an Bachmanns Engagement mit Henry Kissinger in Harvard. Wenn man die Kommentare nicht hätte, würde man einiges womöglich überlesen. Weniger camoufliert wird Enzensbergers Privatleben mit Scheidung und Neuheirat.

Bachmann reist sehr viel, wirkt suchend mit ihren diversen Wohnsitzen und fühlt sich überall als „displaced person“. Enzensberger ist strukturierter, mutiert zum Reisenden in Sachen seiner selbst – trotz oder gerade wegen seiner Kritik an der „kulturindustrie“. Die menschen- beziehungsweise massenscheue Bachmann muss sich zu Auftritten überwinden, fürchtet sich vor dem „dürftigen Gemurmel“, den „angelesenen Fragen“ der Studenten bei ihren Poetikvorlesungen. Es sind „bitter verdiente Honorare“. Einmal beklagt sie eine „Gesichtsmuskelstarre, teils vom Lächeln, teils vom würdig-Dreinschauen“. Enzensbergers gelegentlich eingestreuter (Schreib-)Kummer, sein Wunsch, einmal ein Jahr nichts zu schreiben, wirkt dagegen eher aufgesetzt.

Aber sein Sensorium ist sehr fein: Aus kleinsten Nuancen ihrer Antworten destilliert er ihren Zustand („hört sich gar nicht gut an“). Die schönsten Briefe sind jene, in denen er die psychisch labile Bachmann trösten und ermutigen möchte, ja, sie zuweilen sogar anfleht („ich bitte dich, nimm keine tabletten mehr“) und den „luxus“ eines „richtigen lebens“ beschwört. Er betont immer wieder ihre Einzigartigkeit, macht sich selber kleiner. Intuitiv weiß er, dass Bachmanns Gedichte größer sind als seine.

Der Leser erinnert sich an Bachmanns Briefe aus der früheren Zeit, in denen sie Enzensberger als jemand haben möchte, mit dem sie „über alles reden“ könne. Er nimmt dies an, aber erreicht sie in ihren dunklen Phasen nicht. Auch seine verzweifelten instruktionsähnlichen, später forsch vorgetragenen Bitten zur Aufnahme der Arbeit und endlich die Gedichte zu schicken, führen eher zum Gegenteil dessen, was gewünscht wurde. Stattdessen entdeckt Bachmann plötzlich, dass ihre Gedichte im Kursbuch zwischen Vietnam und Südamerika nicht gut platziert sein könnten. Natürlich widerspricht er.

Nur selten Hochphasen wie der Büchnerpreissommer, in denen beide wieder schwelgen. Aber zum 40. Geburtstag, im Sommer 1966, schreibt Ingeborg Bachmann einen leicht obskuren Abschiedsbrief von der Literatur. Sie sei „kopfkratzig“, möchte „abtreten“, ihren Eifer abgeben, denn „mit vierzig macht man Platz oder man macht sich lächerlich“ und da seien „die Jungen“, die sollten „es tun“. Wurde mit diesem Brief auch das Ende des Austauschs mit den Kollegen und Freunden, also auch mit Enzensberger angedeutet? Danach gibt es nur noch zwei abgeschickte Briefe von ihr an ihn.

In seiner Vignette über die Überlebenskünstlerin Ingeborg Bachmann bilanziert Enzensberger: „Ihr Leben reicht für mehr als einen Roman, der hoffentlich nie geschrieben und nie in den Buchhandlungen liegen wird.“ Diesen beschützend-sensiblen Wunsch kann man durchaus im Gegensatz zum Projekt einer insistierenden Gesamtausgabe sehen, die im Jahr 2017 mit der Veröffentlichung intimster Texte Bachmanns begonnen hatte und damit eine veritable Diskussion los stieß. Die bisweilen inszeniert wirkende Exzentrizität Bachmanns war nicht nur Spiel. Sie ist leider eben auch das Resultat von Alkohol, Psychopharmaka (sie besorgt sie sich von einem Schweizer Arzt kontingentlos), Depressionen, Liebesleid und Entzugserscheinungen. Die Arbeit am Todesarten-Zyklus zwingt sie sich ab. Es ist ein Ringen mit existenziellen Hochs und Tiefs. Ihr Briefwechsel mit Hans Magnus Enzensberger ist ein Mosaiksteinchen in dem Bild einer sich über viele Jahre selbstzerstörenden Frau. Man ertappt sich dabei, es manchmal nicht so genau wissen zu wollen, um welchen Preis dieses großartige Werk entstanden ist.

Titelbild

Ingeborg Bachmann / Hans Magnus Enzensberger: „Schreib alles was wahr ist auf“. Der Briefwechsel Ingeborg Bachmann – Hans Magnus Enzensberger.
Herausgegeben von Hubert Lengauer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
479 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783518426135

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