Vom Versuch, das Paradies zurückzuerobern

Über Paolo Giordanos Roman „Den Himmel stürmen“

Von Christina DittmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Dittmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Apulien in den 1990er Jahren. Teresa verbringt dort als Teenager mit ihrem Vater, wie jeden Sommer, die Ferien bei ihrer Großmutter. Ihre Mutter bleibt zu Hause in der Industriestadt Turin im Norden, da sie es nicht erträgt, wie der Mezzogiorno ihren Mann, den sonst immer akkuraten Ingenieur, in einen halbnackten, wüst fluchenden Süditaliener verwandelt.

Mit Faszination beobachtet Teresa den Nachbarhof, auf dem drei Jungen wohnen. Laut Großmutter sind es immer wieder verschiedene, zusammen mit ihrem Vater, beziehungsweise Ziehvater, Cesare und seiner Frau Floriana. Die Familie lebt nach christlich-buddhistischen Glaubensgrundsätzen und streng vegetarisch in einer scheinbar kommunistischen Utopie. Für die Frösche, die im Pool von Teresas Großmutter verenden, veranstalten sie feierliche Beerdigungen. Obwohl das Leben auf dem Hof dem einer Sekte gleicht, scheinen die Jungen Nicola, Tommaso und Bern dort glücklich. 

Schon bald fühlt sich Teresa von Bern angezogen. Gemeinsam schälen sie im Hof Mandeln für seine leibliche Mutter, die sich für den folgenden Tag angekündigt hat. Als sie ohne Erklärung doch nicht kommt, schenkt Bern die Mandeln schließlich Teresa, die sie nach Turin mitnimmt und solange in einer Schreibtischschublade aufbewahrt, bis ihre Mutter sie wegwirft. Teresa hinterlässt Bern als Dankeschön unter den Mandelschalen ihren Walkman, mit markierter Play-Taste, da Bern noch nie ein solches Gerät in der Hand hatte.

Zwei verschiedene Welten prallen aufeinander, der Norden und der Süden, Moderne und Tradition. Für Teresa ist der Nachbarhof das Paradies. Zurück in Turin sehnt sie sich nach dieser heilen Idylle. Jedes Jahr kehrt sie zurück und wird zusammen mit den Nachbarjungen erwachsen. Doch der Sommer, in dem eine zarte Liebe zwischen ihr und Bern erwacht, ist auch zunächst der letzte, in dem sie ihn sieht. Als sie im nächsten Jahr zurückkehrt, ist er verschwunden. Was genau passiert ist, erfährt sie erst viel später von Tommaso.

Deutlich wird der biblische Subtext, der dem Roman zugrunde liegt. Durch eine gemeinsam begangene Sünde werden die Ziehbrüder vom „paradiesischen“ Hof vertrieben. Schließlich wird er auch von Cesare und seiner Frau verlassen und in der Folgezeit von radikalen Umweltaktivisten besetzt – darunter auch Bern. Die Abkehr vom Glauben lässt die Suche nach der Reinheit der Natur an die Stelle der Religion treten. So fällt Bern von dem einen Extrem in ein anderes: Nihilismus statt Gottesfürchtigkeit und radikaler Umweltaktivismus statt intensiver Gespräche mit dem spirituellen Führer.

So führt ihn schließlich seine Sinnsuche zum letzten Stück unberührter Natur auf Erden. Aber gibt es so etwas überhaupt noch? Und würde dieser Ort nicht zerstört, wenn der erste Mensch ihn betritt? Oder würde dieser Ort den ersten Menschen, der ihn betritt, zerstören? Teresa wird das erfahren. Natürlich wird sie das, wo sie doch jeder Spur folgen würde, die sie näher an Bern heranbringt.

Teresa und Bern nähern sich an, entfremden sich wieder, aber kommen nicht voneinander los. Schließlich werden die beiden mit einem Problem konfrontiert, das sie auf eine harte Probe und Teresa vor eine schwierige Entscheidung stellt.

Die Beziehung zwischen den drei Ziehbrüdern unterliegt ebenfalls starken Schwankungen. Wirken sie teilweise wie ein Wesen, beispielweise wenn sie von der rätselhaften Violalibera verführt werden, so entfremden sie sich mit zunehmendem Alter voneinander. Cesare, dessen angeblicher Liebling sein Neffe Bern ist, der aber seinen leiblichen Sohn Nicola bevorzugt behandelt, wenn es um dessen Ausbildung geht, verstärkt diese gegenseitigen Ressentiments noch.

Den Himmel stürmen hinterlässt beim Lesen eine schale Bitterkeit, so fremd wirken die Handlungen der Figuren zum Teil. Der Selbstfindungsprozess Berns scheint von einem leichtfertigen Egoismus getragen, der von Teresa nicht hinterfragt wird. Leider wird die Chance vertan, die emotionale Abhängigkeit und blinde Hingabe der Protagonistin auch einmal kritisch zu beleuchten. Allgemein bleibt die Figur blass und tritt hinter Bern zurück. Eigene Ziele im Leben scheint sie nicht zu haben.

Dennoch ist der Roman durchaus lesenswert, die intertextuellen Bezüge sind raffiniert eingeflochten und auf die Gegenwart übertragen. Die Figuren und ihre komplexen Hintergründe und Gefühlswelten tragen die Narration, der man mit Spannung folgt. Der Schluss jedoch ist zu melodramatisch geraten – bisweilen grenzt er ans Absurde.

Titelbild

Paolo Giordano: Den Himmel stürmen. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Barbara Kleiner.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018.
528 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783498025335

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