Auf einen Sprung

Ursula K. Le Guins (alters)kluge Blog-Einträge lohnen die Lektüre

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hierzulande ist Ursula K. Le Guin vor allem als Autorin beliebter Fantasie- und innovativer Science-Fiction-Romane bekannt. Dass sie in vielen anderen Textsorten nicht minder erfolgreich unterwegs war, weiß im deutschsprachigen Raum kaum jemand. Das liegt auch daran, dass bislang kaum einer ihrer Essays oder gar eines ihrer Gedichte übersetzt wurde. Was erstere betrifft, hat sich das jetzt immerhin ein wenig geändert. Ihr Band No Time to Spare: Thinking about What Matters liegt nun unter dem Titel Keine Zeit verlieren. Über Alter, Kunst, Kultur und Katzen in deutscher Übersetzung von Anne-Marie Wachs vor.

Bei der amerikanischen Originalausgabe handelt es sich um das letzte Buch, das die Anfang 2018 verstorbene Autorin noch zu Lebzeiten selbst herausgeben konnte. Es versammelt Einträge aus ihrem 2010 im Alter von 81 Jahren begonnen Blog. 2017 erschien der Band in den USA und – oh Wunder – ein Jahr später auch hierzulande. Es handelt sich bei der deutschsprachigen Ausgabe um ein Wunder, weil bislang noch keiner ihrer Essaybände ins Deutsche übersetzt worden war. Und Blogeinträge kommen Essays ja schon recht nahe. Zumindest einige von ihnen, denn obgleich Le Guin bereits in ihrem ersten Text auf den Unterschied zwischen ihren Essays und ihren Blogeinträgen zu sprechen kommt, sind letztere oft doch nicht weniger nachdenklich als gestandene Essays.

In ihren Blogeinträgen räsoniert Le Guin über Gott und die Welt ebenso wie sie über scheinbar banalste Dinge des Alltags sinniert. So hat sie etwa eine kleine Anleitung verfasst, wie man ein Frühstücksei zubereitet und verzehrt. Insbesondere aber reflektiert sie über das Leben in den 80ern – nicht etwa die des vorigen Jahrhunderts, sondern ihres eigenen Lebens. Ein zweites großes Thema ist die Literatur und ihr Betrieb. So erörtert Le Guin die Frage, wie „erzählerische Begabung“ und „literarische Qualität“ zusammenhängen und welcher Aspekt für eine „herausragende Qualität“ literarischer Erzeugnisse maßgeblich ist. Dabei vertritt sie die Auffassung, „dass eine gute story, mit oder ohne plot, wenn sie richtig erzählt ist, als solche und für sich selbst überzeugt“. Aber eben „im ‚richtig-erzählt-Sein‘“ liege das „Mysterium“.

Sie bekennt, dass Philip Roth sie „zur Weißglut“ bringt, während sie James Joyce nur für „überschätzt“ hält. Und selbstverständlich ist ihr nicht entgangen, dass der Literaturbetrieb unter männlicher Hegemonie steht. „Eine Frau“, schreibt sie, „die erfolgreich mit Männern auf einem Feld konkurriert, das Männer als von Rechts wegen als das ihre betrachten, riskiert bekanntlich, dafür bestraft zu werden. Literatur ist ein solches Feld.“ Die „erste und effektivste Bestrafung“ sei der postume „Ausschluss aus dem literarischen Kanon“. In den Kanon der Science-Fiction- und Fantasy-Literatur hat Le Guin es mit den Earthsea-Bänden oder den Romanen The Left Hand of Darkness und The Dispossessed zumindest geschafft. Als eine in beiden Genres erfolgreiche Autorin erläutert sie, „wie phantastische  Literatur funktioniert“ und „wie sie zu den Naturwissenschaften in Beziehung steht“. Hier lehnt sich Le Guin auch schon einmal recht weit aus dem Fenster und erklärt, phantastische Literatur sei „mehr als alle anderen Arten von Texten von Natur aus subversiv“. Selbstverständlich entwickelt die Autorin der ambigen Utopie The Dispossessed auch „einige Gedanken zu Utopia und Dystopia“. Sie führen die Tao-Philosophin zu dem Schluss, Eutopie und Dystopie verhielten sich wie Yin und Yang und seien somit stets ineinander enthalten. Unzutreffend aber sei die „verbreitete maskulinistische Annahme“, „dass Yang dem Yin überlegen“ ist.

Auch auf Literaturpreise kommt sie zu besprechen. Bekanntlich hat sie im Laufe ihrer literarischen Karriere einige eingeheimst. Einen aber, den sie nie erhalten hat, findet sie ganz besonders notwendig: den Sartre-Preis. Angesichts dessen, was sie über ihn schreibt, ließe sich annehmen, die Spezialistin für Phantastik habe ihn sich ausgedacht. Auch das Internet scheint nichts über ihn zu wissen. Doch verweist Le Guin auf das Literary Supplement der London Times als ihre Quelle. Also scheint es ihn wohl tatsächlich zu geben.

In anderen Texten beklagt Le Guin die „Sorglosigkeit im Hinblick auf die Quelle eines vermeintlichen Zitats“ oder reflektiert über die Variantenarmut amerikanischer Flüche, die sich in Literatur und Film in den letzten Jahren überdies auf die einfallslose Wiederkehr der immer gleichen Schimpfworte „Shit“ und „Fuck“ reduziert habe. Dann wieder wendet sie sich nachdrücklich gegen den „Kult um das Innere Kind“. Oder sie kritisiert heftig den Spruch, man sei immer so jung, wie man sich fühlt. Alter sei „keine Geisteshaltung“, sondern „eine existentielle Situation“. Je länger das Leben währe, umso größer werde der „Anteil, den das Alter darin einnimmt“.

Doch ihre Themenfelder sind noch weiter gestreut. Mal erweist sie Homer ihre Referenz, mal fragt sie sich, „wie Wirtschaftswissenschaftler weiterhin von Wachstum als einem positiven ökonomischen Ziel sprechen können“. Am Beispiel der Frauenbewegung denkt sie über Wut nach – wann sie zu Recht empfunden wird und nützlich ist und wann nicht. Dann wieder weist sie darauf hin, dass Angst „selten vernünftig und niemals freundlich“ ist. Unter dem neologistischen Titel Vegempathie wiederum kleidet sie ein ernstes Thema in ein satirisches Gewand. Wiederholt befasst sie sich, nun ganz ernsthaft, mit dem Unterschied zwischen Glauben und Wissen oder sie räsoniert über Weihnachten, den nach dem Fest benannten Mann und den dazugehörigen Baum.

Nicht eben optimistisch hofft Le Guin, dass die heutige Generation ihren Kindern, „die Erde  nicht völlig ruiniert überlassen“ werde. Ihre früheren „Hoffnungen, dass kommende Generationen gut und in Freude werden leben können“, seien „doch sehr gedämpft“ worden. Denn Krieg sei etwas, „das die Menschen nun mal betreiben“. Sie sehe „keine Anhaltspunkte dafür, dass sie damit aufhören werden“.

Zwar legt Le Guin dar, warum es „falsch und nicht zu entschuldigen“ ist, „ein Kind  anzulügen“, doch hält sie es mit der Wahrheit zweifellos selbst nicht immer ganz genau. Dass sie „philosophischen Argumenten gedanklich nicht folgen“ könne und wolle, dürfte allenfalls zur Hälfte zutreffen. Jedenfalls trägt die Autorin ihre Klugheiten ganz und gar unprätentiös in ebenso schlichten wie treffenden Worten und Sätzen vor, als säße sie nicht schreibend vor ihrem PC, sondern einem plaudernd im Sessel gegenüber. Und der wohl berühmteste Satz aus ihren Romanen fällt irgendwann auch einmal. Zwischengeschaltet hat sie alldem kurze Texte über das gemeinsame Dasein mit ihrer wer weiß wievielten Katze.

Le Guins Blogs seien „allesamt ein wunderbares Sprungbrett für eigene Überlegungen“, meint ihre kaum minder erfolgreiche Science-Fiction-Kollegin Karen Joy Fowler in der Einführung zu dem vorliegenden Band. Sie hat Recht. Wagen Sie also den Sprung vom Brett!

Titelbild

Ursula K. Le Guin: Keine Zeit verlieren. Über Alter, Kunst, Kultur und Katzen.
Übersetzt aus dem Englischen von Anne-Marie Wachs.
Golkonda, Berlin 2018.
256 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783946503507

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