Über Wilhelm Genazinos Roman „Ein Regenschirm für diesen Tag“

Aus dem Literarischen Quartett am 17. August 2001

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das ist das erste Buch von Genazino, das ich überhaupt gelesen habe. Und ich habe es gelesen mit Vorwürfen, Gewissensbissen. Wie war das möglich, dass ich diesen Autor bisher übersehen habe? (…) Ich habe noch nichts von ihm gelesen, das ist ja ein sehr begabter Autor. Wir lesen so viele schreckliche und schlechte, langweilige Bücher, von denen wir manche im Quartett besprochen haben. Und diesen Autor, den habe ich nie gelesen. Ich glaube, ich weiß, warum ich ihn nicht gelesen habe. Das ist meine Schuld, aber eine Fama war um den Autor herum. Nämlich: Er schreibt Angestelltenromane. – Wenn ich das schon höre! Angestelltenromane, also das will ich nicht! Also das geht nicht! (…)

Nein, er hat Romane geschrieben, in denen Angestellte vorkommen, weiß Gott ist das in Ordnung, und man hat ihn abgestempelt als einen Autor für Angestelltenromane. Der Mann ist sehr hoch begabt, hochinteressant, und es ist wenigstens jetzt, wo er kein junger Autor ist, gut, dass wir auf ihn hier mit Nachdruck aufmerksam machen können. Das Buch hat einen ganz großen Vorzug: Es ist Prosa mit Charme. (…)

Es ist sehr fließend, hat sehr viel Charme in dieser Prosa, und es ist eigentlich eine leichte, klare, durchsichtige Prosa. Und dann ist noch etwas: Er ist ein fabelhafter Beobachter. Sie sprachen von den Sexualszenen. Sexualszenen sind sehr originell bei ihm. Er schildert das Sexualleben ganz normal, man regt sich nicht auf, man verliebt sich nicht, man geht halt miteinander ins Bett – so ist der Alltag. Wie er das beschreibt, dieses Sexualleben in diesem Roman, habe ich so auf diese Weise in der deutschen Literatur der letzten Jahre nicht gefunden. Er zeigt etwas, was offenbar in Deutschland, in Mitteleuropa vor zwanzig, dreißig Jahren anders war. Er zeigt, wie die Erotik heute aussieht, den Alltag der Erotik – und da ist ein Wort wichtig: Sachlichkeit. Es ist so sachlich alles geschrieben. (…)

Das ist ein mit Charme geschriebener, leichter Roman, ein sehr beachtliches Buch. Nur vorsichtig, dass hier nicht jemand auf die Idee kommt, jetzt aus dem Mann ein Genie zu machen! Und dann wird man wieder bremsen müssen, aber es ist in diesen Grenzen glänzend gemacht. Da ist noch etwas: Ich habe es nicht ganz gern – Frau Radisch, ich meine Sie –, ich habe es nicht ganz gern, wenn man Bücher lobt dafür, was sich ein Autor vor hundert Jahren oder jetzt vorgenommen hat. Ich beurteile Bücher danach, was ein Autor tatsächlich gemacht hat. Er hat sich nicht viel vorgenommen, der Genazino, gar nicht viel. Aber das hat er glänzend gemacht. Und die Autoren, die sich Weltromane vornehmen, dann wird das nichts. (…)

Er hat sich nicht viel vorgenommen, aber was er sich vorgenommen hat – fabelhaft!

Hinweis der Redaktion: Vorlage für die hier aus Anlass des Todes von Wilhelm Genazino in Auszügen zitierten Beiträge Reich-Ranickis im Literarischen Quartett vom 17. August 2001 ist Marcel Reich-Ranicki: Meine deutsche Literatur seit 1945. Hg. von Thomas Anz. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2015. S. 525 f. (mit editorischen Hinweisen auf S. 564). Teilnehmer an der Diskussion waren neben Reich-Ranicki: Iris Radisch, Hellmuth Karasek und Robert Schindel.

Titelbild

Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2001.
174 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446200495

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