Grandioser unzuverlässiger Erzähler

„Die allertraurigste Geschichte“: Ford Madox Ford als moderner Tragödienerzähler

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ford Madox Ford ist einer jener Schriftsteller, die es erstaunlicherweise nie zu höchstem literarischen Ruhm beim Publikum gebracht haben – und das, obwohl einige seiner insgesamt rund 80 Werke von Kritikern als Meisterstücke der Moderne bewundert und von Verlagen auch immer wieder neu aufgelegt werden. In Deutschland hat der Eichborn Verlag seit Anfang des Jahrtausends fünf seiner wichtigsten Bücher in neuer Übersetzung herausgebracht. Darunter ist auch die grandiose Liebes- und Eifersuchtstragödie Manche tun es, die den Auftakt zu Fords Romantetralogie über den Ersten Weltkrieg bildet. Er präsentiert sich hier als eleganter Stilist, der zugleich die moderne Zerrüttung des Menschen unbarmherzig und detailliert ins Auge nimmt.

Genau das tut Ford Madox Ford auch in dem jetzt beim Diogenes Verlag in einem schönen Leinenbuch mit Schuber neu herausgegebenen Roman Die allertraurigste Geschichte, die im Original The good soldier heißt und erstmals 1915 erschien. Wie der Autor mit deutschen Wurzeln in einer später entstandenen Widmung schreibt, sei dies sein bestes – und eigentlich sollte es auch sein letztes sein. Er führt aus: „Ich hatte niemals wirklich versucht, in einen Roman von mir alles hineinzulegen, was ich von der Kunst des Schreibens wusste.“ Mit diesem Buch hatte er nun aber den Ehrgeiz, für den englischen Roman das zu leisten, was Guy de Maupassant mit Fort comme la mort (dt. Stark wie der Tod) geleistet hatte. Später wurde Fords Text auch als „schönster französischer Roman in englischer Sprache“ gewürdigt.

Ford Madox Ford erzählt in Die Allertraurigste Geschichte die Geschichte einer Freundschaft und eines mehrfachen Ehebruchs und Verrats. Im Zentrum stehen der Erzähler Dowell und seine herzkranke Frau Florence, die aus den USA stammen, sowie der herzkranke englische Hauptmann Edward Ashburnham und seine Frau Eleonora, die sich durch ihre vollendeten Manieren und grundsolide Anständigkeit auszuzeichnen scheinen. Sie lernen sich im Kurort Bad Nauheim kennen und bilden über viele Jahre hinweg ein festes Quartett. Ihr „vertrauter Umgang glich einem Menuett“ – bis der ahnungslose Ich-Erzähler nach dem Tod seiner Frau davon erfährt, dass Edward mit dieser jahrelang ein Verhältnis hatte und dass Edward auch zuvor schon ein Doppelleben geführt hatte. Dennoch kann Dowell diesem Edward, der wie in einem Vexierbild mal als empfindsamer Mensch und mal als Sexmonster erscheint, nicht böse sein und betont immer wieder: „Er war ein so prächtiger Kerl“.

Die allertraurigste Geschichte ist ein Buch der Widersprüche und der gezielten Unsicherheiten und Halbwahrheiten. Schon gleich mit dem ersten Satz führt Dowell als Erzähler den Leser aufs Glatteis, indem er schreibt: „Dies ist die allertraurigste Geschichte, die ich je gehört habe“ – und das, obwohl er ja selbst im Zentrum des Geschehens stand. Im Laufe des Romans entwickelt sich Dowell zu einem exemplarischen unzuverlässigen Erzähler in der modernen Literatur. Tastend umkreist er das Geschehen, geht vor und zurück, widerspricht sich, spricht den Leser fragend an und unterschlägt beständig wichtige Informationen, die dann erst an späterer Stelle für Aufhellung sorgen.

Die allertraurigste Geschichte ist eine äußerst geschickt komponierte und elegant erzählte klassische Tragödie, in der die menschlichen Charaktere in ihrer modernen Unzuverlässigkeit und in ihrem ganzen widersprüchlichen Spektrum detailliert nachgezeichnet werden. Niemand bekommt am Ende, was er eigentlich wollte und die Beteiligten sind entweder tot, wahnsinnig oder verzweifelt. Kategorien wie Gut und Böse lösen sich hier auf, je nach Perspektive ändert sich die Einschätzung des Geschehenen. Und so muss der Erzähler Dowell immer wieder seine mangelnde Erkenntnisfähigkeit und Urteilskraft eingestehen und konstatiert in verschiedenen Variationen: „Ich weiß nichts – wahrhaftig nichts – von den Herzen der Menschen. […] Es ist alles ein einziges Dunkel.“

Titelbild

Ford Madox Ford: Die allertraurigste Geschichte. Roman.
Mit einem Nachwort von Julian Barnes.
Übersetzt aus dem Englischen von Fritz Lorch und Helene Henze.
Diogenes Verlag, Zürich 2018.
306 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070385

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