Ganzheitliche Wahrnehmungen

Eine ambitionierte wissenschaftliche Unternehmung rückt mit einer begonnenen Werkausgabe den russischen Denker und Theologen Sergij Bulgakov in ein west-östliches Blickfeld

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 war in der Heimat der russischen Religionsphilosophen ein Nachdenken über jene Persönlichkeiten in Gang gekommen, die über Jahrzehnte hinweg zum Schweigen verurteilt waren. Kurioserweise gerieten damit auch in Europa mit Verspätung wieder jene Autoren in das Blickfeld, die einst einer in Ost und West aufgeteilten Realität zum Opfer gefallen waren.

Sergij Bulgakov (1871–1944) gilt bis heute als einer der profiliertesten Vertreter der russischen Religionsphilosophie und der orthodoxen Theologie. Als junger Philosoph hatte er im zaristischen Russland, in ähnlicher Weise wie Nikolaj Berdjajew, Simon Frank oder Petr Struve, die akademische und politische Bühne als Marxist betreten, wandte sich aber noch vor der bolschewistischen Oktoberrevolution von dieser Weltanschauung ab. Die meisten dieser freien Denker waren 1922 auf persönliche Anweisung Lenins als reaktionäre und konterrevolutionäre Elemente auf den legendären „Philosophenschiffen“ in den Westen abschoben worden.

Der Band Aus meinem Leben enthält verstreut publizierte autobiografische Schriften Sergij Bulgakovs. Eine Zweiteilung gibt zum einen die „Autobiographischen Aufzeichnungen“ von 1939 wieder, die im engeren Sinne über die biografische Herkunft, den jugendlichen Bruch mit dem christlichen Glauben und dem in diesem Zusammenhang später einsetzenden inneren Ringen sowie die Hinwendung zur Orthodoxie berichten. In einem zweiten Block werden eine Reihe autobiografischer Notizen abgedruckt, die im Zeitraum zwischen 1912 und 1939 verfasst worden sind. Hierbei wird auf Briefe, Notizen, Tagebucheinträge sowie auf Vorträge Bulgakovs zurückgegriffen. Die Vielfalt der Beiträge, die über nahezu vier Jahrzehnte entstanden sind, vermittelt ein lebendiges Porträt eines russischen Intellektuellen, dessen Lebenslauf der dramatischen und wechselvollen Geschichte seines Landes ausgesetzt war. Neben einer aufmerksamen Zeitzeugenschaft hatte Bulgakov immer auch als Handelnder versucht, in die Geschehnisse einzugreifen. Das Schicksal seiner Heimat war Bulgakov nie gleichgültig gewesen. Dies traf bereits auf seine Phase als junger Marxist zu, als er als unabhängiger „christlicher Sozialist“ in die Duma gewählt worden war. Aber auch nach seiner zeitweisen Hinwendung zur slawophilen Erneuerung und vor allem in den Jahrzehnten nach seiner Weihe zum orthodoxen Priester im Jahr 1918 widmete er sich neben seiner Lehrtätigkeit einer Vielzahl von Aktivitäten, um sein Land zu einer geistlichen wie politischen Gesundung zu führen. Insofern lassen sich aus einer entfernteren Perspektive in Bulgakovs Wirken, trotz aller Wandlungen in seinem Leben, bestimmte Konstanten finden. Da seine ideologischen Brüche eher den Charakter von Häutungen darstellten, entfalteten sie ihre Wirkkraft umso authentischer.

In besonderer Weise hatte sich Bulgakov seit den 1920er Jahren für die Gründung des Institut St. Serge in Paris eingesetzt, dem er ab 1940 als Dekan vorstand.

Exemplarisch lässt sich Sergij Bulgakovs Weg in seinem Vortrag Vom Marxismus zur Sophiologie nachvollziehen, den er im Oktober 1936 an der Columbia University gehalten hat. Das amerikanische Publikum staunte nicht schlecht, als es einen russischen orthodoxen Priester vor sich stehen sah. Auf eindrucksvolle Weise unternahm Bulgakov hier den Versuch, einem Publikum der Neuen Welt sein „persönliches Paradoxon darzulegen“. In der für ihn charakteristischen Weise skizzierte er seine denkerische Entwicklung, welche die vollzogene Abwendung von der christlichen Erziehung ebenso kennengelernt hatte wie das intensive philosophische Suchen nach Erkenntnis und Wahrheit, bis hin zur späteren Überwindung marxistischer Überzeugungen. Bulgakov war es dabei wichtig, die Ernsthaftigkeit seines geistigen Ringens wie auch politischen Engagements herauszustellen: „Jeden Schritt habe ich nicht nur persönlich erlebt, sondern auch philosophisch erforscht und logisch gerechtfertigt“.

In seiner Aufzeichnung Rufe und Begegnungen berichtete er 1917 von jener inneren Reifung, die nach seiner atheistischen Phase zum christlichen Glauben führen sollte. In bewusster Anlehnung an Friedrich Engels, der in seiner Schrift Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft das planmäßige und selbstbestimmte Handeln des Menschen mit einem „Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“ umschrieben hatte, formulierte Bulgakov seinen scheinbar widersinnigen Vorsatz gegen alle Vernunft: „In meiner Seele reifte der ‚Wille zum Glauben‘, der Entschluß, endlich den für die Weisheit der Welt unsinnigen Sprung an das andere Ufer zu wagen, ‚vom Marxismus‘ und jeglichen daraus folgenden –ismen … zur Orthodoxie“.

Die erlebte Lebendigkeit des christlichen Glaubens verschaffte Bulgakov die Gewissheit, in seiner Entwicklung des Denkens wie auch eines künftigen Handelns eine neue Qualität erlangt zu haben. Das Gespür für die Relevanz konkreter sozialer Lebensverhältnisse sollte sich Bulgakov ein Leben lang ebenso bewahren wie die unverzichtbare Notwendigkeit eigenständiger Denkleistung. Neben einem umfangreichen Werk beeindruckt seine Aufgeschlossenheit zur ökumenischen Begegnung wie vor allem auch eine gewaltige Rezeptionsleistung. Es liegt ein Denken – und letztlich auch eine konkrete Lebensform – vor, das von der Rezeption der Heiligen Kirchenväter sowie weltlicher Philosophen gleichermaßen durchdrungen ist und bis heute in seiner eindrücklichen Kraft nichts von seiner Faszination eingebüßt hat.

Die „Forschungsstelle Sergij Bulgakov“ an der Universität Fribourg hat sich unter der Leitung von Barbara Hallensleben und Regula M. Zwahlen die Herausgabe einer Werkausgabe von Sergij Bulgakov zur Aufgabe gemacht. Mit dem bereits veröffentlichten Band 1 Philosophie der Wirtschaft ist erstmals ein bedeutendes Frühwerk von Bulgakov in deutscher Übersetzung erschienen. Die beiden vorliegenden Ausgaben Aus meinem Leben und Bibliographie bilden die Bände 2 und 3.

Die bisherigen Bände unterstreichen eindrucksvoll, dass die ambitionierte Unternehmung einen glücklichen Start genommen hat. Neben einem Namensverzeichnis, einem Personenregister sowie einem tabellarischen Lebenslauf bieten die vorzüglichen wissenschaftlichen Erläuterungen der Texte erschöpfende Auskünfte über zeit- und ideengeschichtliche Hintergründe.

Das Bändchen Bibliographie gibt umfassend Auskunft über „Werke, Briefwechsel und Übersetzungen“ Sergij Bulgakovs, dessen Schriften in über einem Dutzend Sprachen erschienen sind. Zudem wird ausgewählte Sekundärliteratur angeführt.

In Zeiten geistiger Defizite und sachlicher Fehlinformationen bildet diese entstehende Werkausgabe einen längst überfälligen soliden Grundstock, der kompetent über Hergang und Hintergründe geistiger wie politischer Entwicklungen Russlands berichtet, immer auch im Zusammenhang mit europäischen Denktraditionen.

Bereits mit den bisher veröffentlichten Bänden hat die „Forschungsstelle Sergij Bulgakov“ eine wahre Fundgrube für weitergehende Forschungen bezüglich russischer Theologie und Religionsphilosophie erschlossen.

Titelbild

Sergij Bulgakov: Aus meinem Leben. Autobiographische Zeugnisse.
Aschendorff Verlag, Münster 2017.
280 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783402120361

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Titelbild

Sergij Bulgakov: Bibliographie. Werke, Briefwechsel und Übersetzungen.
Aschendorff Verlag, Münster 2017.
150 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783402120385

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