Warum geschieht, was geschieht?

Heinz Helles „Die Überwindung der Schwerkraft“ ist ein radikales Stück Literatur

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Angst, der Schmerz und die Einsamkeit stehen im fröstelnden Herzen des neuen Romans von Heinz Helle. Die Überwindung der Schwerkraft ist der literarisch avancierte Versuch einer Selbst- und Weltvergewisserung in unsicheren Zeiten. Es die existentielle Frage danach, warum geschieht, was geschieht. Der Schweizer Autor knüpft damit an sein 2014 vorgelegtes Debüt Der beruhigende Klang von explodierenden Kerosin an, in dem er mit einer hochreflexiven Kopf-Prosa von der zermürbenden Unmöglichkeit erzählte, das Leben im Hier und Jetzt zu erleben und zu lieben.

Den roten Faden des aktuellen Romans bildet ein exzessiver Kneipengang von zwei namenlosen Brüdern durch München. Sie reden, trinken, torkeln, umarmen und schlagen sich und versuchen dabei Licht in das Dunkel der Welt zu bringen – in die Geschichte mit ihren Kriegen und Massenvernichtungen, in die aktuelle Lage mit Terror und Trump. Immer wieder kommt der ältere Bruder auf den Fall Marc Dutroux zu sprechen, auf die Ungeheuerlichkeit seiner Taten und auf die Möglichkeit von Vergeltung und Reue.

Der ältere Bruder zeigt sich im Verlauf des Romans als ein radikaler Idealist, der am Bösen in der Welt leidet, am „Grauen der Vergänglichkeit“ und an der „Tragödie der Hoffnung“. Er, der bald Vater wird, wird gepeinigt durch „die immer und überall anwesende Angst, vor Einsamkeit, Armut und Tod“. Dieses Leiden und diese Angst kann er nur durch ein exzessives Trinken auslöschen. Nähe und Geborgenheit bietet nur der Rausch.

Der jüngere Bruder erzählt die Geschichte acht Jahre nach dem für ihn völlig unerwarteten Tod des älteren Bruders. Der nächtliche Kneipengang mit seinem rauschhaft assoziativen Philosophieren und Reflektieren ist die letzte Begegnung mit ihm, der an Krebs sterben wird und eine große Leerstelle hinterlässt.

Die Überwindung der Schwerkraft ist ein radikales Stück Literatur, das unerbittlich danach was fragt, warum geschieht, was geschieht. Als kurvenreicher Bewusstseinsstrom windet sich der Roman über 200 Seiten absatzlos dahin, zieht den Leser hinein in seine Verzweiflung und existenzielle Sinnsuche. Es ist kein Text, der Spaß und Freude macht, aber einer, der unerbittlich danach fragt, wie man das Leben leben kann, ohne von der Last der Geschichte und des Leids, von der Angst vor dem Tod erdrückt zu werden. Eine Antwort darauf gibt es allerdings nicht.

Titelbild

Heinz Helle: Die Überwindung der Schwerkraft. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
180 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428238

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