Die Welt in funkelnden Splittern

Der Gedichtband „Streit mit dem Sonnengott“ erscheint in einer zweiten Auflage

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Annette Hagemann veröffentlichte vor rund zehn Jahren ihren ersten Gedichtband Streit mit dem Sonnengott. Dass dieser nun in einer zweiten Auflage erscheint, ist aus vielen Gründen bemerkenswert. Welche Sammlung moderner Lyrik erreicht heute schon eine zweite Auflage? Bemerkenswert ist außerdem, dass mit dem Nachdruck zwar kein Gedicht verlorengeht, wohl aber die komplette diegetische Bebilderung. Die erste Auflage wurde von Ricardo Cortez illustriert. Dessen bunte Collagen aus Fotos, nackten Körpern, wilden Kritzeleien und wuchernden Pflanzen ließen Assoziationsfarne aus den Zeilen wachsen. Sie überzogen die Seiten mit Traumbildern. Annette Hagemann dankte Cortez vor zehn Jahren auf der letzten Seite des Bandes für „seine wunderbar suggestiven Gedichtporträts“. Nun stehen die Texte allein – und die Gedichte wirken auch ohne die Kommentierung durch jene Bilder, deren teils groteske und sogar humoristische Bestandteile vom Text wegführten.

Streit mit dem Sonnengott gewinnt durch die radikale Befreiung von der Illustration. Schließlich entwickeln die Worte ein Eigenleben, erzeugen immer neue Bilder. Hier zerfällt die Welt und setzt sich in funkelnden Splittern wieder zusammen. Der Leser kann sich des Eindrucks nicht erwehren, er sehe die Welt im Gegenlicht. Die Gedichte sind nicht euphorisch und gewaltig, sondern eher punktloses Sinnen, zielloses und manchmal verspieltes Wohlgefallen an der fühlbaren Fülle der Dinge. Jede sinnliche Erfahrung wird mit Licht verbunden. Ein kunstvoller Höhepunkt des Lichtspiels ist das Glimmen zweier Zigaretten im Gedicht an einem sommerabend (es ist schon dunkel) / zigaretten zusammen rauchen. Zwei Menschen rauchen synchron – voneinander getrennt und verbunden über die Mobiltelefone. Sie „sprechen sich“ mit nackten Füßen an einem Sommerabend im Freien sitzend „fast wund“. So ist die Funkverbindung der Träger der Sehnsucht und der Liebe. Doch große Liebesmythen verdampfen in den Gedichten von Hagemann wie Sommerregen in der Wärme der Abendsonne. Hier werde nur am „Leierkasten der Liebe“ gekurbelt, wird die Situation entzaubert. Begann im ersten Gedicht der Tag, so endet die Reise des „Streits mit dem Sonnengott“ in der Dunkelheit und mit der Frage, weshalb man jeden Tag erwachen sollte. „Es gibt keinen menschen der nicht verschwindet“, resümiert das lyrische Ich fast verzweifelnd.

Der Leser trifft einen kleinen Herrn mit Bierbauch, sieht braune Lederschuhe und riecht Zigarettenrauch in einer Bremer Kneipe. Die Protagonisten in Hagemanns Lyrik haben eine meist schmerzhafte Vergangenheit, die sie ihre Träume vergessen ließ. Dennoch blicken sie in die Zukunft. Es wurden Entscheidungen getroffen, die „automeilen hinter“ ihnen liegen. Ein Paar ist „schon längst / entzwei“. Hagemann gelingt es, immer das zu thematisieren, was sich am Leben eher nicht verständlich machen lässt. Es sind die immer wiederkehrenden Gegensätze von Tag und Nacht, Leben und Tod, Trivialem und Erhabenem. Weshalb manches nicht funktioniert und es zugleich Hoffnung gibt, weshalb sich ein Blick in die Zukunft lohnt und Licht in der Dunkelheit gefunden werden kann, wird mit quasiexpressionistischer Emphase gebündelt. Dabei bleibt auch immer eine gewisse Rätselhaftigkeit.

Nicht zuletzt entsteht diese auch durch die Form. Ohne Punkt und Komma prasseln die Bilder auf den Leser ein. Syntaktische Konstruktionen werden abgelehnt. Alle Wörter sind durchgängig klein geschrieben. Hagemann will ihren Gedichten keine Schranken setzen, sie will die Fesseln der Form sprengen. Merkwürdig ist, dass Absätze und Zeilenzusammenhänge nicht wichtig zu sein scheinen. Hagemann hat beispielsweise das Gedicht nixenbefragung aus ihrem 2008 erschienenen Band auch 2013 auf ihrem Blog veröffentlicht, dort aber einen Absatz entfernt und Zeilen anders gruppiert. Derartige Variationen gibt es zwischen den beiden Auflagen des Buches nicht.

Die zweite Auflage des Gedichtbandes ist empfehlenswert. Wer daran zweifelt, der muss nur einen Blick auf die Liebeserklärung altonaer frau mit karamellenhaaren werfen. Das Gedicht preist die einzigartige Verbindung von Schicksalen, Seeluft, Rauem und Herzlichem in der modernen Hansestadt Hamburg wie kein anderes. Hagemanns Kompositionen verdienen Beachtung. Es gibt also wenig Ausreden, sich nicht mit der Reise des Streits mit dem Sonnengott zu befassen. Außerdem bringt der Wehrhahn Verlag das Buch zu einem verblüffend günstigen Preis auf den Markt.

Titelbild

Annette Hagemann: Streit mit dem Sonnengott. Gedichte.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2018.
58 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783865256584

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