Realer Trash

Matthias Herzʼ „Das Privat-Fernsehen“ und Anja Rützels „Trash-TV“ nähern sich auf unterschiedliche Weise dem (fast) gleichen Thema

Von Romy TraeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Romy Traeber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was hat man in den letzten Jahren nicht alles hören und lesen können über das sogenannte „goldene Zeitalter des Fernsehens“, über Qualitätsserien, Kinoästhetik auf dem kleinen Bildschirm, Streamingdienste wie Amazon und Netflix, die plötzlich die Fernsehpreisverleihungen dominieren und mit ständig steigenden Abonnentenzahlen aufwarten können. Schnell vergisst man dabei allerdings, dass das klassische (Privat)Fernsehen vor allem von etwas völlig anderem dominiert wird: Von als Reality-TV bezeichneten Formaten, die behaupten, echte Situationen von echten Menschen aus dem echten Leben zu zeigen und dabei natürlich mindestens einem situationsvorgebenden Drehbuch folgen. Diese auch Scripted Reality oder weniger charmant Trash-TV genannten Sendungen rücken ins Interesse der Bücher von Matthias Herz und Anja Rützel.

Bei Herzʼ Text handelt es sich um seine Dissertation Das Privat-Fernsehen. Reality TV als Trägerkonzept medienvermittelter Privatheit im deutschen Fernsehen, die 2016 in der Reihe Schriften zur Kultur- und Mediensemiotik des Schüren Verlags erschien. Es ist somit eine wissenschaftliche Publikation und sie erfüllt auch all die Erwartungen, die man an eine solche hat: Gegliedert ist sie in Einleitung, Forschungsinteressen und Zielsetzung, einer Erklärung zum Aufbau der Arbeit, einem anschließenden theoretischen Teil, dem Hauptteil, der sich der Analyse von Schlüsselformaten widmet, und dem abschließenden Kapitel „Ergebnisse und Perspektiven“. Der Autor bemüht sich in seinem Buch, die Forschungsdiskussionen der letzten Jahre zu sichten und wiederzugeben und seine gesammelten Theorien schließlich in einer Art praktischem Teil direkt an ausgewählten Formaten wie Big Brother, Deutschland sucht den Superstar, Ich bin ein Star – Holt mich hier raus oder Die Super Nanny anzuwenden.

Als Einstieg in das Thema ist Herzʼ Text durchaus geeignet – auch weil er genug Verweise auf weiterführende Literatur anbietet. Von Vorteil ist dabei allerdings eine gewisse Vorbildung im Bereich medienwissenschaftlicher und soziologischer Theorien, weil die Bezüge für den Laien im Theorieteil nicht immer klar verständlich sind. Der Analyseteil ist dagegen durch die Anbindung an die Beispiele deutlich leserfreundlicher; die Erkenntnisse werden kontextuell eingebettet und damit leichter nachvollziehbar. „Relevante Faktoren für die Auswahl der behandelten Formate sind dabei im Wesentlichen ihr Erfolg bzw. Marktanteile, Laufzeit, ihre Originalität und der Umfang und die Intensität der daran anschließenden Diskurse.“ Zu überraschenden Erkenntnissen kommt Herz allerdings kaum; dass alle Sendungen „einen expliziten Anspruch auf Authentizität […] vertreten“ – so ein Ergebnis der Arbeit –, während die vorgebliche Privatheit natürlich bis ins Letzte inszeniert ist, wusste man auch schon vorher. Immerhin vergnüglich wird es, wenn Herz an solche Absurditäten wie beispielsweise Volker Becks Androhung, Big Brother wegen der Verletzung der Menschenwürde verbieten zu lassen, erinnert.

Das Hauptproblem des Buches von Matthias Herz liegt in seinem Ursprung als Doktorarbeit: Durch das lange Arbeiten am Dissertationsprojekt (alle, die das schon hinter sich haben oder noch daran sitzen, werden es kennen) muss man einfach irgendwann eine Grenze ziehen, sowohl was die Menge der Untersuchungsgegenstände als auch die Aktualität angeht – schließlich kann nicht kurz vor der Abgabe noch schnell ein Kapitelchen geschrieben werden, weil da eben noch etwas in der Fernsehwelt passiert ist. Diese Einschränkungen hat Anja Rützel nur bedingt. Zwar musste auch sie irgendwann eine Grenze ziehen und außerdem hat das Format 100 Seiten von Reclam eine ziemlich genau bemessene Seitenzahl, sie konnte sich aber, losgelöst vom Anspruch einer wissenschaftlichen Arbeit, in ihrem Buch Trash-TV ganz dem Genre widmen. Als (quasi) ausgewiesene Expertin für derlei TV-Formate – sie schreibt schließlich unter anderem jährlich die Reviews der Dschungelcamp-Folgen für Spiegel Online – profitiert die Leserschaft hier von ihrem speziellen Witz und der umfassenden Kenntnis so ziemlich jeder auch nur denkbaren Sendung. Ganz „unwissenschaftlich“ soll aber auch das nicht sein, so begründet sie ihr „Forschungsinteresse“ mit einem Satz aus ihrer Studienzeit in Tübingen: „Man darf als Kulturwissenschaftler nicht vor scheinbar niederen Themen und Phänomenen zurückschrecken, weil sich ein Müllmann auch nicht vor dem Müll fürchten darf.“

Wie auch Herz geht Rützel zunächst der Entstehung des Begriffs Trash-TV und der Geburtsstunde der Formate auf die Spur: Früher schlicht Reality-TV genannt, bestanden diese vor allem aus Sendungen, die „Verbrechen, Unfälle und Rettungsversuche“ als Nacherzählungen realer Begebenheiten (Stichwort: Notruf mit Hans Meiser) zum Thema hatten. Da lag es dann irgendwann nahe, aus den Nacherzählungen Inszenierungen zu stricken – die Geburtsstunde des Trash-TV, denn fortan war einer der bestimmenden Faktoren – wenn nicht gar der bestimmende – die Skandaltauglichkeit. Der von Kritikern immer wieder beschworene „Untergang des Abendlands“ hat nach Rützels Ausführungen 1948 in den USA mit der Sendung Candid Camera (eine Art Versteckte Kamera) und 1970 in Deutschland in der Familienshow Wünsch dir was dank einer durchsichtigen Bluse schon viel früher eingesetzt, als man denkt. So richtig trashy wurde das Fernsehen aber erst, als die Mitwirkenden sich ihrer „Überwachung“ bewusst wurden und dies Auswirkung auf ihr Verhalten hatte. Das geschah 1973 in den USA mit der Doku-Serie An American Family, während die Kritik in Deutschland sich derweil noch an ARD-Abendshows abarbeitete, bevor im Jahr 2000 mit dem Start von Big Brother das, was man heute allgemein unter Trash-TV (oder weniger nett „Unterschichtenfernsehen“) versteht, auch in Deutschland Einzug hielt – eine Einschätzung, die auch Herz teilt. Die Definition des Begriffs gerät bei beiden etwas länger, was aber nicht den Autoren, sondern vor allem der Vielfältigkeit und der Entwicklungsgeschichte der Begriffe „Reality-TV“ beziehungsweise „Trash-TV“ geschuldet ist. Rützel versucht es mit Definition durch Abgrenzung – „Trash-Fernsehen ist […], was diese Sendungen alles nicht sind“ – und führt das auf weiteren 3 Seiten noch aus; Herz fasst nach einem langen Kapitel inklusive Betrachtung der Begriffsgeschichte und Sichtung so ziemlich sämtlicher Forschung seine Erkenntnisse in einer nicht ganz so knackigen Definition zusammen:

Als Reality-TV sei eine hybride Programmform verstanden, die Charakteristika anderer Gattungen vereinnahmt, um auf der Grundlage eines größtmöglichen Authentizitätsanspruches bei gleichzeitiger Thematisierung seiner medialen Verfasstheit je nach Format divergierende Sujets zu verhandeln, die primär im zwischenmenschlichen Bereich angesiedelt sind, und im Zuge dieser Inszenierung mittels Werkzeugen wie wiederkehrenden Protagonisten, festen Ereignisstrukturen und seriellem Charakter eine strikte Kontinuität im Rahmen einer klar festgesetzten Dramaturgie zu erzeugen.

Diese mehrzeilige Definition gestaltet Rützel etwas anschaulicher, wenn sie die klassischen Trash-Formate nach Kategorien in Selbstoptimierungsshows, Laborstudie, Leistungsschau, Scherbenreise, Pseudodoku, Hilfsdetektivs-Ermittlung und Schein-Lebenshilfe unterteilt und dem Sonderfall Dschungelcamp sogarein eigenes Kapitel widmet: „Doch wenn es schon mal Schund sein darf, dann wenigstens der beste Schund. Das Dschungelcamp ist zweifellos das saftige Filetstück in der stellenweise durchaus etwas angegammelten Trash-Fleischtheke.“ Ergänzend dazu hübschen Übersichtskästen (beispielsweise zu sogenannten Serientätern, also „Prominenten“, die in mehreren Formaten zu sehen waren) und Grafiken (unter anderem zu den Einschaltquoten von DSDS) die Texte auf und geben Interessierten noch mehr Informationen für die nächste Trash-TV-Diskussion an die Hand – wo bekommt man sonst eine handliche Übersicht der Dschungelkönige von 2004 bis 2016 mit Angaben zur geschätzten Gage oder gar eine ungekürzte schriftliche Version des legendären Erdbeerkäse-Monologs?

Wer sich aus privatem Interesse dem Thema Trash-TV nähern möchte – und sei es nur, damit man sich bei der nächsten Staffel Dschungelcamp nicht mehr ganz so schuldig fühlt –, dem sei das Bändchen von Anja Rützel ans Herz gelegt. Für die wissenschaftliche Beschäftigung eignet sich die Untersuchung von Matthias Herz mehr. Lesenswert sind beide – und Vergnügen und wissenschaftliches Interesse liegen manchmal doch näher zusammen, als man glaubt.

Titelbild

Matthias Herz: Das Privat-Fernsehen. Reality TV als Trägerkonzept medienvermittelter Privatheit im deutschen Fernsehen.
Schüren Verlag, Marburg 2016.
280 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783894729820

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Anja Rützel: Trash-TV. 100 Seiten.
Reclam Verlag, Stuttgart 2017.
102 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783150204337

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch