Die Moral über der Stadt

Soziale Ungleichheit ist zentrales Thema in „Frankfurt, Dezember 17“

Von Theresa MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Theresa Müller

Frankfurt ist eine Stadt, prädestiniert als Kulisse eines Sozialdramas. Eine Stadt, die mit ihren zahlreichen Banken und Hochhäusern allein schon architektonisch Klassen voneinander trennt. Das hat sich wahrscheinlich auch die Regisseurin und Drehbuchautorin von Frankfurt, Dezember 17 (2018), Petra K. Wagner, gedacht. In ihrem vielschichtigen Fernsehspielfilm, der auf dem Festival des deutschen Films 2018 mit dem Medienkulturpreis ausgezeichnet wurde, verknüpft sie das Schicksal von Frauen aus unterschiedlichen Milieus. Der Film lebt vor allem von seinem Facettenreichtum und zeichnet ein Stadtpanorama, über das wir nur zu gerne hinwegsehen anstatt hinein.

Ein Obdachloser wird von drei Jugendlichen krankenhausreif geschlagen. Es ist eine der ersten Szenen von Frankfurt, Dezember 17, dabei wird dieser Überfall erst im späteren Verlauf der Handlung stattfinden. Die Regisseurin wählt für einen Fernsehfilm eine untypische Erzählform, indem schon zu Beginn gezeigt wird, was sich später ereignet. Denn bevor eine Beziehung zu einer der zentralen Figuren aufgebaut werden kann, stirbt sie. Viele Produzenten hätten an dieser Stelle sicherlich das Drehbuch umschreiben lassen oder gar abgelehnt. Es ist erfrischend, dass Wagner, die neben Drehbüchern auch Filmkritiken schreibt und selbst Geschäftsführerin der Produktionsfirma Moonfilm ist, einen Film produziert hat, der kein 08/15-Unterhaltungskrimi ist. Der Film orientiert sich nicht an typischen Erzählmustern und fordert damit die Zuschauer. Zeitsprünge irritieren und Figuren werden nur vage charakterisiert. Es ist ein Film, der zahlreiche kontroverse Themen anspricht wie Gewalt, Überwachung, Medien, soziale Differenz. Weniger wäre allerdings hier mehr gewesen, denn die 90 Minuten Fernsehspiellänge reichen für diese Themengewalt nicht aus. Am Ende bleiben viele Fragen ohne Antworten – manchmal ist das auch ein gutes Zeichen für einen Film.   

Im Vordergrund stehen drei Frauen. Eine davon ist Sam (Ada Philine Stappenbeck). Sie ist jung und lebt auf der Straße. Als sie hungrig auf eine Gruppe anderer Obdachloser an einem Lagerfeuer trifft, fragt sie nach Essen, woraufhin einer der Obdachlosen sie angreift. Lennard (Christoph Luser) hilft Sam und nimmt sie in seiner „Residenz“ auf, wie er seinen Zufluchtsort in einem leerstehenden Bürogebäude nennt. Er wirkt paranoid und verbietet ihr, jemals den Raum zu verlassen, denn überall lauern in seinen Augen die Überwachung und Kontrolle durch die Mächtigen, die Satelliten als Sterne tarnen. Sam und Lennard entwickeln mit der Zeit so etwas wie Vertrauen zueinander, bis Lennard eines Tages verschwindet, weil ihn drei Jugendliche brutal zusammenschlagen, wie zu Beginn des Filmes schon vorweggenommen wurde.

Die zweite Frau ist Irina (Lana Cooper). Sie ist Krankenschwester und beobachtet die Schlägerei aus dem Auto, während sie mit dem verheirateten Oberarzt Sex hat. Sie will dazwischen gehen, doch ihr Liebhaber hält sie zurück. Erst später ruft sie die Polizei und ist geplagt von Schuldgefühlen. Schließlich zeigt sie sich selbst bei der Polizei an, sodass einer der Jugendlichen identifiziert werden kann. Die dritte Frau ist Anne (Katja Flint), die Mutter des jungen Mannes, der Lennard brutal verprügelt hat. Sie ist eine erfolgreiche Immobilienmaklerin, die ruhelos nach der Wahrheit über den Tathergang sucht. Ihr Sohn schweigt darüber. Ihr Gerechtigkeitsdrang geht so weit, dass sie eine Freiheitsstrafe ihres Sohnes als fair empfindet, während ihr Exmann bereit wäre, der Zeugin eine hohe Summe Schweigegeld zu zahlen.

Die nicht chronologische Erzählweise unterscheidet Frankfurt, Dezember 17 von einfachen Mainstream-Fernsehproduktionen. Während Sam und Lennard sich kennenlernen, hadert Irina in einer parallel montierten Handlung mit ihrem Gewissen. Daneben spielt die Regisseurin mit dem Durchbrechen der vierten Wand. „Ich hätte aus dem Weg gehen können“, sagt Lennard in die Kamera blickend, als er die Jugendlichen sieht. An anderer Stelle hört man Sam sagen: „Ich versuche, nicht aufzufallen, unsichtbar zu sein“. Diese direkte Ansprache wirkt so eindringlich wie auch aufdringlich. In Ferdinand von Schirachs Terror (2016) wird dieses Stilmittel verwendet, um die Zuschauer ganz konkret nach ihrer ethischen Entscheidung als Richter zu fragen. Auch in Frankfurt, Dezember 17 verstärkt es die Frage nach dem eigenen moralischen Kodex. Jedoch hätte der Film dieses Stilmittel keinesfalls nötig gehabt, denn die Figuren und verdichteten Handlungen sprechen bereits zahlreiche Konflikte an, die auch ohne erhobenen Finger und wiederholte Hervorhebung zum Nachdenken anregen.

Die Story hat Potenzial. Die Umsetzung ist in vielerlei Hinsicht gelungen und auch gewagt. Dass die Produzentinnen Lili Kobbe und Liane Jessen vom Hessischen Rundfunk der Regisseurin einen relativ großen Spielraum gelassen haben, merkt man Frankfurt, Dezember 17 positiv an. Die Verdichtung und nicht-chronologische Erzählweise führen allerdings an manchen Stellen zu einer Überzeichnung der Figuren als unsympathische Stereotypen. Da ist der Oberarzt, der für seine Karriere alles tun würde. Oder der Obdachlose, der viel trinkt und zu sexueller Gewalt bereit ist. Die Heldinnen des Filmes sind Sam, Irina und Anne. Dabei erfährt man jedoch nur wenig über die Motive der Frauen. An manchen Stellen ist der Film zu verdichtet und kann so den Figuren nicht genügend Raum geben. Dennoch ist es gerade die Frage nach der eigenen Moral, die der Film hinterlässt. Nachdem Sam erfahren hat, dass Lennard im Koma liegt, steigt sie auf das Dach des Hochhauses und entzündet ein kleines Feuer, während sie von oben auf die Finanzstadt hinabschaut. Das sind Bilder, die im Kopf bleiben.

Frankfurt, Dezember 17
Deutschland 2018
Regie: Petra K. Wagner
Darsteller*innen: Lana Cooper, Ada Philine Stappenbeck, Christoph Luser, Katja Flint
Spieldauer: 90 Minuten

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Weitere Filmrezensionen hier