Knockin‘ on Mike’s door
„1000 Arten, Regen zu beschreiben“ überzeugt als stilles Familiendrama
Von Annika Vahle![RSS-Newsfeed neuer Artikel von Annika Vahle](/rss/rss.gif)
Endlich 18! Die Volljährigkeit ist für viele der entscheidende Übergang zum Erwachsensein. Kein Kind mehr sein, Autofahren ohne Begleitperson, Alkohol und Zigaretten kaufen – ab dem 19. Lebensjahr öffnen sich Türen, durch die man neue Erfahrungen sammelt. Offene Türen symbolisieren den Weg zu etwas Unbekanntem, neuen Möglichkeiten, die uns prägen. Verlassen wird das Vertraute, stattdessen wirft man den Blick über den Tellerrand. In jedem Haus findet man Türen, die die Übergänge von zwei Räumen darstellen. Auf der bildlichen Ebene gilt eine offene Tür als Verbindungs- oder Trennungselement zwischen Menschen. In Isa Prahls Filmdebüt 1000 Arten, Regen zu beschreiben (2017) wird die Symbolik von Türen zum Hauptgegenstand der Handlung. Denn bei Mike, 18 Jahre, bleibt die Tür geschlossen. Dauerhaft. Sein Zimmer verlässt er nur, um unbemerkt ins Badezimmer oder die Küche zu gehen.
1000 Arten, Regen zu beschreiben zeigt eine Familie, die durch die Isolation eines geliebten Menschen auseinander zu driften droht. Ob Mutter, Vater oder Schwester – sie alle verzweifeln an der Abkapselung von Mike und alle Versuche, ihn zum Öffnen der Tür zu bewegen, scheitern. Selbst als die Familie mit einem Geburtstagskuchen vor seiner Tür steht und ihm ein Ständchen singt, tritt Mike nicht heraus. Die Kerzen auf dem Kuchen brennen weiter. Genauso wenig erlischt die Hoffnung der Familie, Mike doch noch irgendwann zu Gesicht zu bekommen. Doch das einstige stabile Familiengerüst wird brüchig. Es scheint, als hätte Mike nicht nur mit seiner Kindheit, sondern auch mit seiner Familie abgeschlossen.
Die junge Filmemacherin Prahl spricht damit ein Thema an, dass besonders im asiatischen Raum weit verbreitet ist: Hikikomori, so werden Menschen in Japan bezeichnet, die sich aus freiem Willen zuhause in ihrem Zimmer oder ihrer Wohnung einschließen und sich von der Gesellschaft abschotten. Der Kontakt zur Außenwelt wird auf ein Minimum reduziert. Was in Japan zu einem anscheinend akzeptierten Zustand geworden ist, löst bei Mikes Eltern und seiner Schwester komplett unterschiedliche Reaktionen aus, die irritierend sind und dem Zuschauer abverlangen, sich voll und ganz auf die Familie einzulassen.
So ist es schwierig, bei dem Verhalten von Mikes Mutter (Bibiana Beglau) kein Unverständnis zu verspüren und nicht das Bedürfnis zu haben, sie durchzuschütteln. Denn sie stellt ihrem Sohn täglich das Essen und Trinken vor die Tür, alles schön hergerichtet auf einem Tablett. Selbst als Mike in eine Flasche uriniert und diese zurück vor die Tür stellt, um sein Zimmer nicht verlassen zu müssen, kümmert sie sich um die Entsorgung. Mikes Mutter ist die Flehende und Bettelnde in Prahls Film, die verzweifelt nach Antworten sucht. Penetrant sucht sie Mikes Freund Oliver (Louis Hofmann) auf und klammert sich an jeden Strohhalm, der sich ihr bietet. Sie übernimmt die Rolle der Ersatzmama für Oliver und verwöhnt ihn, wo sie nur kann. Wie riskant diese Nähe ist, veranschaulicht Prahl an der sich daraus entwickelnden ödipalen Neigung: Der Junge interpretiert die Zuneigung falsch und verliebt sich in sie.
Bei Mikes Vater hingegen (großartig: Bjarne Mädel) schlägt die Trauer schnell in Aggression um. Er brüllt, hämmert lautstark gegen die Tür und verbrennt sogar Mikes Spielsachen, darunter sein heiß geliebtes Skateboard. Kraftvolle Auseinandersetzungen zeigen, wie schmerzhaft Mikes Rückzug für den Vater ist und welche Mittel er wählt, um Mike aus dem Zimmer zu locken. Und als wäre das nicht schon kompliziert genug, befindet sich Mikes Schwester Miriam (Emma Bading) auch noch mitten in der Pubertät und benötigt dringend eine andere Bezugsperson außer ihrer egoistischen Freundin (Janina Fautz). Zwischen den Mädchen herrscht eine ungewöhnliche, rivalisierende Freundschaft, welche immer wieder auf harte Proben gestellt wird. Warum die beiden überhaupt befreundet sind, wird nicht deutlich.
Ebenfalls ohne Erläuterung bleiben die kleinen Zettelchen, die Mike seiner Schwester immer wieder unter der Tür hindurchschiebt. Die Hoffnung des Zuschauers, es würde sich um wertvolle Nachrichten handeln, wird jedoch enttäuscht. Stattdessen schreibt Mike auf die Zettel Daten mitsamt Koordinaten und benennt die dortige Form von Regen. Passend dazu werden in diesen Szenen Aufnahmen von wegschwimmenden Mülleimern oder starken Schauern gezeigt. Das Regenmotiv wird nicht nur bildlich, sondern auch sprichwörtlich aufgenommen: Alle Familienmitglieder werden von Mike im Regen stehen gelassen und verarbeiten ihre Trauer, indem sie sich selbst psychisch auffällig verhalten.
Prahl inszeniert auf geschickte Weise ein Familiendrama, das durch die Leitmotive Tür und Regen strukturiert ist und auf ausschweifende Dialoge verzichten kann. Damit greift sie nicht nur Handlungselemente des Dokumentarfilms 14 Arten, den Regen zu beschreiben auf, sondern geht auch stilmäßig in die gleiche Richtung. Wo anfangs drei gemeinsam kämpfende Familienmitglieder gezeigt werden, verbleiben in Prahls Film am Ende Einzelkämpfer, die nach eigenen Lösungswegen suchen und sich dabei vom eigenen Ich entfremden. Abnehmende Kommunikation verstärkt die Flucht in Sexualität, Kriminalität, Arbeitseifer und die Rolle der Ersatzmama. 1000 Arten, Regen zu beschreiben ist ein gefühlsintensiver Film, der durch seine Bilder ohne Dialoge glänzt. Hinzu kommen die Charaktere, die nicht beschönigt, sondern mit ihren Schwächen und Fehlern dargestellt werden. Es wird deutlich, welche Auswirkungen das Verhalten eines Familienmitglieds auf seine Angehörigen hat und dass dies sogar zu einer Spaltung der Familie führen kann. Dass es am Ende wenigstens eine Lösung gibt, die Mutter, Vater und Schwester vereint, ist beruhigend, obwohl der Film viele Fragen zurücklässt, die nicht beantwortet werden.
1000 Arten, Regen zu beschreiben
Deutschland 2017
Regie: Isa Prahl
Darsteller*innen: Bibiana Beglau, Bjarne Mädel, Emma Bading, Louis Hofmann, Janina Fautz u.a.
Spieldauer: 91 Minuten
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen