Von A wie Abenteuer bis Z wie Zynismus

Das von Hans-Peter Müller und Tilman Reitz herausgegebene Handbuch zum Klassiker der Soziologie Georg Simmel

Von Maurizio BachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maurizio Bach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Henkel einer Vase, ein ästhetisches Problem? Der Schmuck als Objekt soziologischer Analyse? Sind die Alpen einer ernsthaften philosophischen Betrachtung wert? Ist die Koketterie ein seriöses Sujet soziologischer Theoriebildung? Kein Autor ist den kuriosesten, vielfältigen und scheinbar banalsten Ausdrucksformen materialer Gestaltungsfähigkeit, Sinngebung und sozialer Interaktionsformen der Menschen so beharrlich und fruchtbar nachgegangen wie der Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858-1918). Wie keinem anderen gelang es diesem bedeutenden Essayisten, aus der akribischen Beschreibung auch unscheinbarster menschlicher Artefakte und elementarster zwischenmenschlicher Vorgänge feinsinnige und allgemeingültige Erkenntnisse über die conditio humana und die Bedingungen sowie Formen des gesellschaftlichen Lebens zu gewinnen.

In mehr als einhundert, von durchwegs ausgewiesenen Autorinnen und Autoren verfassten Beiträgen behandelt das vorliegende Simmel-Handbuch eine Vielzahl von Begriffen und Sujets des Mitbegründers der deutschsprachigen Soziologie: Ob Adel oder Brief, Geschlecht oder Goethe, Mode oder Luxus, Porträt oder Tod, Venedig oder Zahl, Ruine oder Geheimnis – es wird ein bunter Reigen von mikro-soziologischen Themen aufgespannt. Jedes einzelne von ihnen rückt den jeweiligen Realitätsausschnitt in eine ungewöhnliche Perspektive und macht grundlegende gesellschaftliche Funktionen und Mechanismen lesbar.

Schmuck etwa, also Dinge wie Uniformen oder Orden, Damenohrringe oder Parfüme, lehrte Simmel uns (wie Jürgen Kaube zeigt), nicht nur als reine Dekoration zu sehen, sondern als eine mitteilungsreiche, aber wortlose Kommunikationsform, als verweisungsreiche Symbolisierung von sozialer Zugehörigkeit, Status und Besitz.

Zu Simmels wichtigsten und einflussreichsten mikrosoziologischen Einsichten zählt zweifellos seine Analyse des Streits (im Band von Stephan Lessenich behandelt): Konflikte unter Menschen sind ihm zufolge im gesellschaftlichen Leben nicht nur unausweichlich, sondern geradezu notwendig, damit gesellschaftliche Ordnung entstehen kann. Der Konflikt ist für Simmel, so Lessenich, „ein genuin soziales Phänomen […]. Denn wenn auch ex negativo, so ist er doch Ausdruck sozialer Verbundenheit, der Gegensatz zur Gleichgültigkeit als einer sozialen Beziehung der Beziehungslosigkeit. Im Konflikt meint die Differenz nicht […] Indifferenz; sondern vielmehr ist sie sowohl Effekt bestehender wie Quelle neuer sozialer Interaktionen und Bindungen“.

Liebe dagegen, ein anderes großes Thema in Simmels Soziologie, verbindet die Menschen viel weniger, als man dies aus der Alltagssicht erwarten würde. „Liebe wird […] nach Simmel im Ich erschaffen und ohne äußerliche Vermittlung erlebt, d.h. als absolute Innerlichkeit. Liebe ändert das Ich […], jedoch wird der soziale Bezug in der Form Liebe ‚ausgeschaltet’ oder ‚hinter sich gelassen’“ (Kornelia Hahn in dem Band). Während Liebe also eher antisozial wirken soll, steht der Streit für Verbindung, ja „Vergesellschaftung“ schlechthin. Konflikte bringen nach Simmel Beziehungen hervor, etwa in Form von Allianzen bei gemeinsamen Gegnern oder Zusammenhalt bei äußerer Bedrohung. Durch den Kampf entstehen aber auch soziale Klassen und werden Persönlichkeiten geformt. Liebe dagegen isoliert und vereinzelt die Betroffenen.

Das sind keine Spitzfindigkeiten eines überspannten Abstraktionsakrobaten, sondern immer wieder überraschende, der Intuition des gesunden Menschenverstandes konträre Einsichten in die realen Widersprüche und Paradoxien der sozialen Welt, gleichsam in ihre innere „Mechanik“. Stets dieser Dialektik des Sozialen auf der Spur, gründet Simmels Werk, dem oft vorgehalten wurde, es verbleibe im bloß Essayistischen und entbehre einer soliden Systematik, auf zahllosen soziologischen Miniaturen dieser Art. In ihrer Gesamtheit fügen sie sich zu einer Systematik, deren Charakteristika kognitive Offenheit und Erweiterungsfähigkeit sind.

So präsentiert sich das „Simmel-Handbuch“ als umfassendes Nachschlagewerk zum theoretisch-analytischen Werk des großen fin-de-siécle-Intellektuellen, der um 1900 zu einer geistigen Kultfigur in Berlin avanciert war. Zugleich können die Simmelschen Begriffe aber auch als eine Art philosophisch-soziologische Kartographie zum Lebensgefühl in der Moderne gelesen werden, als Vademekum zum Flair der Großstädte, etwa zu den Reizen der Künste und Künstler, zum Charisma der Werte, zu den Binde- und Lösekräften der Gefühle, den schillernden Denk- und Stilformen und vielem mehr.

In seiner gediegenen „Einführung“ – einer informativen Synthese zu Biographie und Werk des soziologischen Klassikers – beschreibt der Mitherausgeber und Professor für Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin Hans-Peter Müller die Singularität Simmels folgendermaßen: „Heute würde man von einer Marke ‚Simmel’ sprechen, um die Unnachahmlichkeit von Themenwahl, Eigenart des Stils, Eigenwilligkeit der Sprache und essayistische wie hochgradig seriöser Argumentation zu charakterisieren“.

Die „Marke Simmel“ findet sich im Handbuch (im Anschluss an die „Einführung“) in drei große Abteilungen gegliedert: Neben den Einträgen zu den zentralen Begriffen und prominentesten Referenzautoren Simmels, wie etwa Max Weber, Gustav Schmoller, Arthur Schopenhauer oder Heinrich Rickert, finden sich in einem zweiten Teil Besprechungen sämtlicher von Simmel verfassten Monographien, von „Über sociale Differenzierung“ (1890) und „Philosophie des Geldes“ (1900) bis hin zu seinem philosophischen Testament, den „Lebensanschauungen“ (1918).

Die „Philosophie des Geldes“ (im Band behandelt von Heiner Ganßmann) sollte sich als sein Opus magnum erweisen. Simmel wollte damit, wie er selbst schreibt, nichts weniger als einen „ersten Versuch“ unternehmen, , „die Entwicklung der ganzen seelischen Menschheitskultur an einem einzelnen Symbol darzustellen“. Geld ist für ihn nicht nur eine rein ökonomische Größe, ein instrumentelles Tauschmittel, sondern eine „Lebensform“, ja, die Essenz der modernen Kultur mit der ihr eigenen Rationalität, Berechenbarkeit, Differenzierung und Individualisierung. Das alles existierte ohne das monetäre Medium schlechterdings nicht. „Systematisch ist Geld wohl das beste Beispiel dafür, wie ein Mittel sich zum Selbstzweck aufschwingen kann. Was das im Einzelnen heißen kann, diskutiert Simmel in einer Art Psychopathologie des Geldgebrauchs von Gier, Geiz und Verschwendung, aber auch der asketischen Armut, dem modernen Zynismus und der Blasiertheit“ (so Hans-Peter Müller in dem Band).

In der eigentümlichen Doppelrolle des Geldes kristallisiert sich mithin die essentielle Ambivalenz der Moderne: „einerseits Mittel und Medium, gleichsam als unschuldiger Diener wirtschaftlichen und sozialen Verkehrs; andrerseits Ziel und Zweck, als unsichtbarer Herr über Begehren, Bedürfnisse und Wünsche der Menschen“ (Müller). Simmels Analyse der Geldökonomie und ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen und Effekte ist, unvergleichlich und unübertroffen, ein Jahrhundertwerk, das gerade heute, im Zeitalter des globalen (Finanz-)Kapitalismus von größter Aktualität ist.

Den dritten Teil des Handbuchs bilden insgesamt sechs „Essays“. Sie behandeln Simmels „Modernität“, seinen „relationalen“ Soziologiebegriff, seine „Stadtsoziologie“, die „Theorie der Emotionen“, die „Geschlechtertheorie“ sowie die „Lebensphilosophie“. So aufschlussreich die einzelnen Essays auch sind, deren systematischer Status im Zusammenhang des Handbuchs erschließt sich nicht so recht. Für eine Art Conclusio sind die ausgewählten Themen zu disparat, für eine Querschnittsdiskussion aber zu beliebig: Warum die Stadtsoziologie und nicht die in der Soziologie viel wirkmächtigere Konfliktsoziologie, warum die „relationale Soziologie“ und nicht (auch) der „Symbolische Interaktionismus“? Und für eine Spurensuche zur Anschlussfähigkeit und Aktualität der Simmelschen Reflexionen sind sie überflüssig, da dies bereits von den meisten Beiträgen zu den Begriffen im Hauptteil des Handbuchs geleistet wird.

Sämtliche Beiträge zu diesem insgesamt sehr verdienstvollen Handbuch bemühen sich, jenseits der lexikalischen Verdichtung, um eine sorgfältige Einordnung der Themen in das Simmelsche Oeuvre, aber auch um den Aufweis seiner vielfältigen Anschlussfähigkeit für die aktuelle soziologische Theoriebildung und die empirischen Kulturwissenschaften. So wird nicht zuletzt deutlich, wie viele und welch tiefe Spuren Simmels Werk bei nachgeborenen Sozialwissenschaftlern hinterlassen hat, und zwar weltweit: Adorno gehört dazu, aber auch Ernst Bloch und Norbert Elias, Zygmunt Bauman und Ervin Goffman, um nur die wichtigsten zu nennen.

Wer einen übersichtlichen und zugleich fundierten Leitfaden durch das großartige Gebäude von Simmels Denken und seine Schriften sucht, ist mit diesem Handbuch gut bedient. Neugierigen Leserinnen und Lesern, die mehr von der Phänomenologie sowie Alchemie des Sozialen, den Eigengesetzlichkeiten und verborgenen Mechanismen des gesellschaftlichen Lebens verstehen möchten, bietet das Simmel-Handbuch einen kundigen und verlässlichen Führer. Für Soziologinnen und Soziologen, die sich noch ihren Klassikern und damit dem geistigen Legat des Faches verpflichtet fühlen, wird es künftig gewiss unentbehrlich sein.

Titelbild

Hans-Peter Müller / Tilman Reitz (Hg.): Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität.
Unter der Mitarbeit von Cosima Langer, Jakob Schultz. Steven Sello und Florian Eyert.
(suhrkamp taschenbuch wissenschaft).
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
960 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783518298510

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