Zum Tod von Rosa Luxemburg vor 100 Jahren

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Literaturkritik.de (Ltk): Frau Frieling, in Ihrem kürzlich erschienenen Buch mit dem Titel „Rebellinnen“ über Hannah Arendt, Rosa Luxemburg und Simone Weil hat die Überschrift zum Portrait über „Rosa Luxemburg“ den Zusatz: „– ein Kammerstück“. Auch der Titel Ihres Beitrags zu den „Theatergesprächen“ über Rosa Luxemburg am 16. Januar in Münster verwendet das Wort. Man ahnt nach der Lektüre, was das besagt, aber vielleicht können Sie diese Wortwahl ein wenig erläutern.

Simone Frieling (SF): Rosa Luxemburg war eine leidenschaftliche Briefeschreiberin, dadurch wissen wir von ihr sehr viel Persönliches. In der Isolation der Gefängniszelle, der „Kammer“, intensivierte sich das Schreiben, es nahm noch einmal eine andere Qualität an: Aus der scharfzüngigen Agitatorin Luxemburg wurde die Dichterin. Das hat mich besonders interessiert, wie ein Mensch, dem die Freiheit, die politische Handlungsfähigkeit, die Freunde und täglichen Genüsse genommen sind, nicht klagt, sondern über sich hinauswächst. Luxemburg wurde in ihrem Leben neun Mal inhaftiert und in sieben verschiedenen Gefängnissen untergebracht. Mit Ausnahme der Haft in Warschau 1906 schaffte sich Luxemburg immer die Bedingungen, um so weit wie möglich ihr ‚normales‘ Leben weiterzuführen. Sobald sie einsitzen musste, begann sie sich die Zelle wie eine kleine Wohnung einzurichten und mit all ihren Freunden in brieflichen Kontakt zu treten. Sie hielt auch ihren gewohnten Tagesablauf aufrecht: Vormittags arbeitete sie an politischen Schriften, abends las sie, bis um zehn das Licht ausgemacht wurde, nachmittags malte sie, schrieb Briefe, presste und bestimmte Pflanzen für ihr Herbarium, beobachtete Wolken und lauschte den Vögeln. An Luise Kautsky, die ihr die liebste Freundin geworden war, schrieb sie noch 1917 aus der Festung Wronke: „Und dann bleibt mir noch alles, was mich sonst erfreute: Musik und Malerei und Wolken und das Botanisieren im Frühling und gute Bücher und Mimi und Du und noch so manches – kurz ich bin steinreich und gedenke es bis zum Schluss zu bleiben.“

Natürlich machte nicht allein die häuslich eingerichtete Zelle Luxemburg die Zeit der Haft erträglich, sondern der Reichtum ihrer Persönlichkeit, ihre vielen Begabungen, die zum Teil gleichberechtigt nebeneinander existierten. Hannah Arendt spricht davon, dass Luxemburg sich „genau so gut in Botanik oder Zoologie“ hätte „vertiefen können oder in Geschichte, Nationalökonomie und Mathematik.“ Noch wichtiger scheint mir die Einschätzung von Luise Kautsky zu sein, die ihre Freundin als eine „Dichternatur“ und „Künstlerseele“ ansah, die ohne Literatur, Musik und Malerei nicht leben konnte – als Rezipientin und Produzentin.

Ltk: Zu den Motiven der vielen Scherenschnitte, mit denen Sie als Zeichnerin Ihre schriftstellerische Arbeit an dem Portrait begleitet haben und die demnächst bei einem Gespräch über das Buch im Literaturhaus Berlin ausgestellt werden, gehören etliche Vögel. Welche Bedeutung hatten sie für Rosa Luxemburg?

SF: Das Beobachten von Vögeln, ihr Füttern und Zähmen gehörten bis in die letzten Tage der Haft zu Rosa Luxemburgs wichtigsten und glückhaftesten Beschäftigungen. Sie hatte ein starkes ornithologisches Interesse, konnte Vogelarten bestimmen, ihre Rufe täuschend echt nachahmen und sie anlocken, kannte ihre Flugrouten und Gewohnheiten. Aber das allein wird nicht der Grund der Anziehung gewesen sein: Vögel waren für die Marxistin und areligiöse Jüdin Wesen von besonderer Art, sie waren eng mit Himmel und Wolken verbunden, waren unabhängig und frei. An nichts heftet sich der Blick eines Gefangenen so sehr wie an den Flug eines Vogels, nichts kann seine Phantasie mehr anregen.

Ihrer Freundin Sophie Liebknecht schrieb sie im Mai 1917 von der Festung Wronke:

Glauben Sie mir, Sonjuscha, daß mich ein kleiner Vogelruf, in den so viel Ausdruck liegt, tief ergreifen kann. Meine Mutter, die nebst Schiller die Bibel für den höchsten Weisheit Quell hielt, glaubte steif und fest, daß König Salomo die Sprache der Vögel verstand. Ich lächelte damals mit der ganzen Überlegenheit meiner 14 Jahre und einer modernen naturwissenschaftlichen Bildung über diese mütterliche Naivität. Jetzt bin ich selbst wie König Salomo: ich verstehe auch die Sprache der Vögel und der Tiere. Natürlich nicht, als ob sie menschliche Worte gebrauchten, sondern ich verstehe die verschiedenen Nuancen und Empfindungen, die sie in ihre Laute legen. Nur dem rohen Ohr eines gleichgültigen Menschen ist ein Vogelgesang immer ein und dasselbe. Wenn man die Tiere liebt und für sie Verständnis hat, findet man große Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, eine ganze Sprache.

Wenn Rosa Luxemburg in den langen Jahren der Haft, die fast bis zu ihrem gewaltsamen Tod andauerte, von Depressionen heimgesucht wurde, hatte sie „manchmal das Gefühl, ich bin kein richtiger Mensch, sondern auch irgendein Vogel oder ein anderes Tier in Menschengestalt; innerlich fühle ich mich in so einem Stückchen Garten wie hier in Wronke oder im Feld unter Hummeln und Gras viel mehr in meiner Heimat als – auf einem Parteitag. Ihnen kann ich ja wohl das alles sagen: Sie werden nicht gleich Verrat am Sozialismus wittern. Sie wissen, ich werde trotzdem hoffentlich auf dem Posten sterben: in einer Straßenschlacht oder im Zuchthaus. Aber mein inneres Ich gehört mehr meinen Kohlmeisen als den ‚Genossen‘.“

Ltk: Büffel sind auch dabei. Sie sehen sehr traurig aus …

SF: Ja, eine der stärksten, schönsten und traurigsten Tiererzählungen, die man mit vollem Recht zur Weltliteratur zählen kann, hat Rosa Luxemburg geschrieben. Ihre Beschreibung geschundener Büffel im Gefängnishof von Breslau hat eine Intensität, der sich kaum ein Mensch entziehen kann. Als Karl Kraus im Mai 1920 auf Luxemburgs Büffel-Brief stieß, entschied er sich gleich dafür, ihn in seine Vorlesungen aufzunehmen. Zwei Monate später dann, im Juli, veröffentlichte er ihn in seiner Zeitschrift Die Fackel mit den Worten: „Der tiefste, je in einem Saal bewirkte Eindruck war die Vorlesung des Briefes von Rosa Luxemburg, den ich am Pfingstsonntag in der Arbeiter-Zeitung gefunden und auf die Reise mitgenommen hatte. Er war im Deutschland der unabhängigen Sozialisten noch völlig unbekannt. Schmach und Schande jeder Republik, die dieses im deutschen Sprachbereich einzigartige Dokument von Menschlichkeit und Dichtung nicht allem Fibel- und Gelbkreuzchristentum zum Trotz zwischen Goethe und Claudius in ihre Schulbücher aufnimmt und nicht zum Grausen vor der Menschheit dieser Zeit der ihr entwachsenden Jugend mitteilt, daß der Leib, der solch eine hohe Seele umschlossen hat, von Gewehrkolben erschlagen wurde. Die ganze lebende Literatur Deutschlands bringt keine Träne wie die dieser jüdischen Revolutionärin hervor und keine Atempause wie die nach der Beschreibung der Büffelhaut: und die ward zerrissen“.

Den Brief hatte Rosa Luxemburg Mitte Dezember 1917 in Breslau an Sophie Liebknecht geschrieben. Er wurde 1920 in dem Bändchen Briefe aus dem Gefängnis veröffentlicht:

Ach, Sonitschka, ich habe hier einen scharfen Schmerz erlebt; auf dem Hof, wo ich spaziere, kommen oft Wagen vom Militär, voll bepackt mit Säcken oder alten Soldatenröcken und Hemden, oft mit Blutflecken…, die werden hier abgeladen, in die Zellen verteilt, geflickt, dann wieder aufgeladen und ans Militär abgeliefert. Neulich kam so ein Wagen, bespannt, statt mit Pferden, mit Büffeln. Ich sah die Tiere zum ersten Mal in der Nähe. Sie sind kräftiger und breiter gebaut als unsere Rinder, mit flachen Köpfen und flach abgebogenen Hörnern, die Schädel also unseren Schafen ähnlicher, ganz schwarz, mit großen sanften Augen. Sie stammen aus Rumänien, sind Kriegstrophäen… die Soldaten, die den Wagen führen, erzählen, daß es sehr mühsam war, diese wilden Tiere zu fangen, und noch schwerer, sie, die an die Freiheit gewöhnt waren, zum Lastdienst zu benutzen. Sie wurden furchtbar geprügelt, bis daß für sie das Wort gilt „vae victis“… An hundert Stück der Tiere sollen in Breslau allein sein; dazu bekommen sie, die an die üppige rumänische Weide gewöhnt waren, elendes und karges Futter. Sie werden schonungslos ausgenutzt, um alle möglichen Lastwagen zu schleppen, und gehen dabei rasch zugrunde.  Vor einigen Tagen kam also ein Wagen mit Säcken hereingefahren, die Last war so hoch aufgetürmt, daß die Büffel nicht über die Schwelle bei der Toreinfahrt konnten. Der begleitende Soldat, ein brutaler Kerl, fing an, derart auf die Tiere mit dem dicken Ende des Peitschenstieles loszuschlagen, daß die Aufseherin ihn empört zur Rede stellte, ob er denn kein Mitleid mit den Tieren hätte!

‚Mit uns Menschen hat auch niemand Mitleid‘, antwortete er mit bösem Lächeln und hieb noch kräftiger ein… Die Tiere zogen schließlich an und kamen über den Berg, aber eines blutete…

Sonitschka, die Büffelhaut ist sprichwörtlich an Dicke und Zähigkeit, und die war zerrissen. Die Tiere standen dann beim Abladen ganz still erschöpft, und eines, das, welches blutete, schaute dabei vor sich hin mit einem Ausdruck in dem schwarzen Gesicht und den sanften schwarzen Augen, wie ein verweintes Kind. Es war direkt der Ausdruck eines Kindes, das hart bestraft worden ist und nicht weiß, wofür, weshalb, nicht weiß, wie es der Qual und der rohen Gewalt entgehen soll… ich stand davor, und das Tier blickte mich an, mir rannen die Tränen herunter – es waren seine Tränen, man kann um den liebsten Bruder nicht schmerzlicher zucken, als ich in meiner Ohnmacht um dieses stille Leid zuckte. Wie weit, wie unerreichbar, verloren die freien, saftigen, grünen Weiden Rumäniens! Wie anders schien dort die Sonne, blies der Wind, wie anders waren die schönen Laute der Vögel oder das melodische Rufen der Hirten. Und hier – diese fremde schaurige Stadt, der dumpfe Stall, das ekelerregende, muffige Heu, mit faulem Stroh gemischt, die fremden, furchtbaren Menschen, und – die Schläge, das Blut, das aus der frischen Wunde rinnt… O, mein armer Büffel, mein armer, geliebter Bruder, wir stehen hier beide so ohnmächtig und stumpf und sind nur eins in Schmerz, in Ohnmacht, in Sehnsucht.

Rosa Luxemburgs Beziehung zu Tieren war von völlig anderer Art als die zu Menschen, zu denen sie, bei aller herzlichen Verbundenheit, immer eine letzte Distanz behielt. Tiere konnten ihr nicht nah genug sein; ausdrücklich identifiziert sie sich in der Büffelerzählung mit dem Tier und nicht mit dem Menschen. Im Schmerz und Blut ist sie mit dem Tier eins; die Aufzählung des minderwertigen Futters für das Tier erinnert an ihre schlechte Gefängniskost, die verlorenen Weiden an ihre verlorene Freiheit, das Leid der Tiere an ihr Leid. Rosa Luxemburg hat hier ein Tier- und Menschenbild geschaffen, das von tiefstem christlichen Humanismus geprägt ist. Zu Recht könnte man sie als einen weiblichen Franziskus bezeichnen.

Ltk: Können Sie etwas zu Rosa Luxemburgs Aussehen und ihrer Haltung sagen?

SF: Sie war klein, etwas korpulent, durch ein Hüftleiden hinkte sie, verbarg aber das Leiden geschickt unter weiten Röcken. Sie war eine große Fußgängerin, obwohl das Gehen ihr schwer fiel. Andere beurteilte sie nach der Ausdauer beim Gehen; den verachtete sie, der nur am Schreibtisch saß. Sie hatte einen unfehlbaren Blick für persönliche Schwächen – bei anderen wie bei sich selbst. Über ihre lange Nase und ihren großen Kopf, die von Karikaturisten ihrer Zeit zum Vorwand für Ressentiments gegen sie benutzt wurden, machte sie Scherze, sie war zur Selbstironie fähig. Sie war außerordentlich gepflegt, ihre Kleidung bis zu den blankgeputzten Schuhen anspruchsvoll. Ihr langes, dunkles und volles Haar war hochgesteckt, um sie etwas größer zu machen. Zu Hause, wie bei öffentlichen Auftritten und später im Gefängnis bemühte sie sich um Haltung – äußere und innere –, was ihr fast immer gelang. Sie war mit vollem Bewusstsein eine Frau, sie war emanzipiert und eigenständig; in ihrer Familie galt sie als die Klügste. Sie flößte, auch wenn sie noch nichts gesagt hatte, ihrem Gegenüber Respekt ein. Sie war bis zum Leichtsinn großzügig gegenüber Freunden, half, auch wenn sie selbst kein Geld hatte. Sie war nicht gewillt zu sparen; ihr Ansprüche – auch im Gefängnis – waren die einer Bildungsbürgerin. Sie war im Umgang weder steif noch förmlich, im Gegenteil, sie liebte ihre Freunde überschwänglich und voller Hingabe. Luxemburg war konsequent, auch im Selbsttadel. Politisch war und blieb sie eine Außenseiterin ohne Macht; das ist vielleicht ihre Tragik, dass sie zu einem bürgerlichen Leben im besten Sinn viel mehr begabt war als zu dem einer Revolutionärin.

Ltk: Wie empfand man sie bei ihren öffentlichen Auftritten?

SF: Paul Fröhlich, der im Pariser Exil 1939 die erste Luxemburg-Biographie schrieb und wie sie zu den radikalsten Kriegsgegnern gehört hatte, war von ihren öffentlichen Auftritten tief beeindruckt. „Rosa Luxemburg war eine hinreißende Rednerin“, erinnerte er sich nach ihrem Tod. „Doch nie machten rhetorische Mittel ihr Glück. Sparsam in großen Worten und Gesten, wirkte sie allein durch den Inhalt ihrer Reden, und nur die silberhelle, volltönende, melodische Stimme, die ohne Anstrengung einen großen Saal füllte, kam ihr zu Hilfe. Sie sprach stets frei. Am liebsten ging sie beim Reden lässig auf der Tribüne auf und ab, weil sie sich so den Hörern näher fühlte. Nach wenigen Sätzen hatte sie mit den Menschen Kontakt und nahm sie dann ganz in den Bann.“

Wenn kein Rednerpult zur Verfügung stand, bestieg Luxemburg bei größeren Versammlungen spontan einen Stuhl, um sich bemerkbar zu machen. Aber auch hier, in der freien Rede, war jedes Wort wohl bedacht. Karl Kausky, mit dem Luxemburg aufs freundschaftlichste verbunden war, bis es 1914 wegen der Bewilligung der Kriegskredite zum endgültigen Bruch kam, nuanciert etwas anders: „Meisterin des Wortes und der Feder, reich belesen, mit starkem theoretischen Sinn, scharfsinnig und schlagfertig, mit einer nahezu fabelhaften Unerschrockenheit und Respektlosigkeit, die sich vor niemandem beugte – den einzigen Jogiches ausgenommen – erregte sie schon bei ihrem ersten Auftreten allgemeine Aufmerksamkeit und gewann die begeisterte Zustimmung, ja stellenweise geradezu schwärmerische Bewunderung derjenigen, deren Sache sie vertrat, sowie den bittersten Hass derjenigen, gegen den sie den Kampf aufnahm.“

Da Luxemburg die Sache vertrat, für die sich auch der ‚Genosse‘ Paul Fröhlich einsetzte, gehört er eher zu den schwärmerischen Bewunderern. Karl Kautsky hingegen spricht auch von dem Hass, den Luxemburg auf sich zog. Der kam nicht von ungefähr. Luxemburg war eine kämpferische Person, die sich nicht scheute, das Wort als Waffe zu gebrauchen, mit scharfer, manchmal spitzfindiger Rhetorik ihren Gegner zu verletzen, seinen Standpunkt durch Polemik der Lächerlichkeit preiszugeben.

Lenin bot sie die Stirn bei privaten Gesprächen, aber auch bei öffentlichen Anlässen. Auf dem Parteitag in London 1907 schloss sie ihrer Rede mit dem frechen Satz: „Wir anerkennen, daß in der Theorie der Genossen Bolschewiki ein Körnchen Wahrheit enthalten ist, das durch eine dicke Schicht fraktioneller Auflagerungen verdeckt wird“. Lenin verbot, diesen Satz ins Parteitagsprotokoll aufzunehmen.

Walter Jens betonte noch einen anderen Aspekt: „Da präsentiert sich, zum ersten, eine Frau, die, als Journalistin, Agitatorin, Parteitagsrednerin, Lehrerin an der Hochschule der Sozialdemokratie und wissenschaftliche Publizistin, den Männern den Schneid abkaufte, weil sie präziser – freilich auch extremer und pointierter (gelegentlich am Rand der kalkulierten Provokation) – als die Funktionäre zu argumentieren verstand, Enthusiasmus und Logik, die Spontaneität der Taktikerin und die Vernunft der Strategin miteinander vereinend“.

Rosa Luxemburg war eine Ausnahmeerscheinung in der Politik: als promovierte Frau, die vor männlichen Autoritäten nicht zurückschreckte. Auf fast allen Fotos von Parteitagen der SPD und Versammlungen ist sie die einzige Frau – und sie bewegte sich wie selbstverständlich in dieser Männerwelt.

Dabei hatte sie eine Abneigung gegen den Feminismus. Und wenn ihre Freundin Clara Zetkin sie zu stark bedrängte, sich für die Frauenfrage einzusetzen, konnte Luxemburg sarkastisch werden. Nachdem Zetkin sie einmal gebeten hatte, ihren Vortrag zum Frauenwahlrecht kritisch durchzusehen, antwortete Luxemburg: „Die ganze Arbeit ist, wie gesagt, herzerfrischend und war mir ein Labsal. Auch eine Fundgrube, denn ich hatte keine Ahnung von dieser ganzen Fülle von Tatsachen aus der Weiberwelt…“

Ltk: „Blutige Rosa“ wurde sie von ihren Gegnern genannt. Welchen Eindruck machte Rosa Luxemburg auf Menschen, die sie kannten oder die sie zum ersten Mal sahen?

SF: Es ist erstaunlich, wie viele Menschen Rosa Luxemburg in ihren Bann zog, wie viele Menschen bereit waren, ihr in Zeiten, als „die Welt aus den Fugen geraten“ war, beizustehen. Dabei war Luxemburg eine komplizierte Persönlichkeit, sie hatte hohe Ansprüche an ihr Gegenüber, konnte aufbrausend sein, streng und besserwisserisch. Mit Nachdruck wollte sie, dass man ihren Geschmack, ihre Ansichten teilte. Und trotzdem war sie außerordentlich begabt für die Freundschaft – weniger für die Liebe. Viele Menschen halfen ihr während der Gefängnisjahre, ohne sie zu kennen, allein vom Hörensagen. Andere hatten, wie ihre Haushälterin und Sekretärin Mathilde Jacob, sie nur ein Mal gesehen und erwiesen ihr jeden Dienst, obwohl das nicht ungefährlich war.

Mathilde Jacob schildert ihre erste Begegnung so: „Als Rosa Luxemburg das erste Mal zu mir kam, machte sie sofort einen tiefen Eindruck auf mich. Ihre großen, leuchtenden Augen, die alles zu verstehen schienen, ihre Bescheidenheit und Güte, ihre fast kindliche Freude an allem Schönen, ließen mein Herz für sie höher schlagen. So oft ich auch Rosa Luxemburg später zu Versammlungen, Konferenzen oder Demonstrationen begleitete, der erste Eindruck blieb bestehen: Sie sah so bescheiden und anspruchslos aus, daß Menschen, die sie noch nicht gesehen hatten, verwundert ausriefen: ‚Das ist Rosa Luxemburg?‘ Sprach sie dann in ihrer temperamentvollen Art, so wuchs sie über ihr zartes Figürchen hinaus und faszinierte die Hörer.“

Und Luise Kautsky findet diese Worte: „Das Geheimnis der zauberischen Wirkung ihres Wesens bestand nicht zum geringsten darin, daß ihr, wie wenigen, die Kunst eignete, sich für andere Menschen menschlich zu interessieren und sie menschlich zu behandeln. Sie besaß die seltene Gabe, mit konzentrierter Aufmerksamkeit zuzuhören, und wie ihr Ohr offen war für jede Klage, so stand ihr Herz offen für den Schmerz jeglicher Kreatur. Ihr Schatz an Menschenliebe war unerschöpflich“.

Ltk: Waren die öffentliche Politikerin Rosa Luxemburg und die Privatperson völlig unterschiedliche Charaktere?

SF: Ja, Politiker sind ‚öffentliche Personen‘ und damit ganz anderen Bedingungen unterworfen als Privatpersonen, das galt auch und besonders für Luxemburg. Denn ihre eigentliche Natur war die einer Einsiedlerin. Als glänzende Rednerin vor großem Publikum konnte sie nur bestehen, weil sie die Disziplin der Politikerin über die Empfindsamkeit der Privatperson stellte. Anonyme Verhältnisse konnte sie kaum aushalten, sie musste immer den einen Menschen vor Augen haben, zu dem sie in persönlicher Verbindung stand. Ging diese Verbindung verloren in einer Masse, von denen sie niemanden kannte, litt sie entsetzlich: „Im übrigen ist mir, wie gewöhnlich, von der Berührung mit der Masse fremder Menschen schlecht“. Umgekehrt bedeutete das nicht, dass sie zur Masse eine negative Beziehung gehabt hätte, solange sie sich diese als viele einzelne, ihrer Hilfe bedürftigen, Matrosen, Arbeiter und Soldaten vorstellte.

In einem undatierten Brief aus Wronke erklärt sie sich gegenüber ihrer Freundin Luise Kautsky: „Weißt Du, welcher Gedanke mich verfolgt und ängstigt? Ich stelle mir vor, daß ich wieder in einen überfüllten Riesensaal muß, daß auf mich das grelle Licht, das Stimmengewirr der Menge eindringen und mich der übliche tosende Beifall empfängt und begleitet, während ich mich zum Podium durchdränge – ich habe das Gefühl, daß ich plötzlich ausreißen werde!“

Es kam sogar einige Male in ihrem Leben vor, dass ihr die „ganze gottverdammte Politik oder vielmehr diese blutige Parodie eines ‚politischen‘ Lebens“ vergällt war; besonders wenn sie an die Versäumnisse ihren Eltern gegenüber dachte. Wochen-, monatelang hatte sie die Briefe ihrer Eltern nicht beantwortet, ihre Mutter nicht besucht, als diese an Magenkrebs erkrankte und innerhalb eines halben Jahres starb. In größter Bitterkeit warf sie ihrem Geliebten Leo Jogiches vor, keine Zeit für ihre Eltern gehabt zu haben, „wegen dieser weltbewegenden Aufgaben (und das dauert bis zum heutigen Tag an), und Du wurdest mir verhasst als derjenige, der mich für immer an diese verfluchte Politik geschmiedet hat“.

Ltk: Sie beschreiben Rosa Luxemburg als Persönlichkeit mit ungemein vielfältigen Begabungen, Interessen und Aktivitäten – und vergleichen sie dabei sogar mit Goethe. Die Goethe-Gesellschaft in Weimar hat einen Vortrag  von Ihnen angekündigt mit demTitel „Rosa Luxemburg und Goethe – eine Wahlverwandtschaft“.

Was hat Sie zu diesem Vergleich veranlasst und was bewundern Sie an ihr am meisten?

SF: Nein, ein Vergleich mit Goethe wäre unsinnig. Aber Luxemburg hat von Goethe gelernt, ihm nachgeeifert und im Gefängnis seine Haltung dem Leben gegenüber als Vorbild angenommen. Auch hasste sie wie Goethe den Krieg. Und sie war wie Goethe vielseitig begabt und an ganz verschiedenen Dingen interessiert.

Sie lernte neben ihrer Muttersprache schon als Kind Russisch und Deutsch, in der Schule Latein und Altgriechisch, sprach fließend Französisch, konnte englische und italienische Literatur im Original lesen. Sie hatte ein professionelles Interesse an Botanik, Zoologie und Geographie. Sie arbeitete als Journalistin, verfasste wissenschaftliche Bücher, war eine feinfühlige Übersetzerin von literarischen Texten und eine umjubelte Rednerin. Sie war auch eine sehr gute Zeichnerin. Viele ihrer Briefe sind mit Federzeichnungen oder Aquarellen geschmückt. Sie hatte Verständnis für Musik, sang in Gesellschaft Arien von Mozart, in der Zelle Lieder von Hugo Wolf und war über alle Maßen belesen. Sie hatte einen ganz eigenen Blick für die Qualität von Literatur und Musik; in ihrem Urteil war sie sicher und folgte keinem Klischee.

Wie Goethe betrieb sie alles intensiv; sie musste immer etwas haben, „was mich mit Haut und Haaren verschlingt“. Die Akkumulation des Kapitals schrieb sie wie im Rausch, dann fand sie sich als Malerin berufen und träumte „von morgens bis abends“ nur von Malerei. Als sie an den Stadtrand von Berlin in die Lindenstraße gezogen war, packte sie „die Leidenschaft für Pflanzen; ich fing an zu sammeln, zu pressen und zu botanisieren. Vier Monate lang machte ich buchstäblich nichts anderes, als im Feld schlendern oder zu Hause zu ordnen und zu bestimmen, was ich von den Streifzügen mitbrachte“. Zwölf „vollbepackte Pflanzenhefte“ waren ihre ständigen Begleiter im Gefängnis und wurden weiterhin mit der ‚heimischen Flora‘ des Lazaretthofes im „Weibergefängnis“ angefüllt. Die Qualität ihrer Herbarien und Zeichnungen können sich mit denen Goethes durchaus messen.

Was ich an Luxemburg bewundere, sind ihr Mut, ihr unabhängiges Denken, ihre Begeisterungsfähigkeit und ihre Gabe, Härten hinzunehmen. Mich persönlich verbindet mit ihr am stärksten: die ‚Anbetung‘ der Natur. Sie war eine Naturmystikerin, der das Einssein mit der Natur letztendlich das höchste Gut war.

Ltk: In der November-Ausgabe 2017 ist ein Teil Ihres Portraits erschienen, der über die „Rebellin“ in den ersten beiden Revolutionsmonaten November und Dezember erzählt, nachdem sie aus dem Gefängnis entlassen wurde. Wie ist sie wenig später, am 15. Januar vor 100 Jahren, gestorben?

SF: Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden am 15. Januar 1919 aus einer Wohnung in der Mannheimer Straße in Wilmersdorf abgeholt, weil irgendjemand sie verraten hatte. Luxemburg packte, wie immer, ihr Köfferchen mit Kleidung und Büchern, als stünde ihr nichts anderes bevor als eine weitere Haft.

Man brachte die beiden in das Eden-Hotel am Kurfürstendamm, heute Budapester Straße, in dem die Gardekavallerie-Schützendivision ihr Stabsquartier hatte. Ganz still soll Rosa Luxemburg in einer Ecke gesessen haben mit Goethes Faust II auf dem Schoß, während Liebknecht verhört, misshandelt und zur Ermordung nach draußen in einen bereitstehenden Wagen geschafft wurde.

Luxemburg wird nicht mehr zum Lesen gekommen sein, Goethes Faust aber wie einen Schutzschild der Humanität in Händen gehalten haben: das Buch, seine Worte, die Literatur. Aus der einen Kugel, die sie für ihren Tod so oft beschworen hatte, wurden viele brutale Schläge. Gäste und Hotelpersonal waren zugegen, die kalten waren belustigt oder gleichgültig, die anderen wagten nicht einzugreifen. Ein Dienstmädchen, das die Misshandlung mitansehen musste, stammelte immer wieder vor sich hin: „Nein, ich werde den Anblick nicht wieder los, wie man die arme Frau niedergeschlagen und umhergeschleift hat“.

Gegen die Antimilitaristin Rosa Luxemburg entlud sich nun der ganze Hass des Militärs, der sich seit ihren populären Reden im Jahr 1914 aufgestaut hatte, in denen sie die unmenschlichen Zustände in der Armee angeprangert hatte – sie sprach von Soldatenmisshandlung und hatte 30.000 Zeugenaussagen gesammelt. Man hat sie schrecklich misshandelt, halbtot aus dem Hotel geschleift, mit einem Schuss in den Kopf getötet und am Ende von der Lichtensteinbrücke in den Landwehrkanal geworfen.

Am 16. Januar 1919 eilte Mathilde Jacob zu der Redaktion Die Rote Fahne, wurde dort von Freikorpssoldaten abgefangen und in das Moabiter Gefängnis gebracht. Auf die Frage, was der Aufruhr in den Straßen zu bedeuten habe, bekam sie zur Antwort: „Nichts Neues. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sind ermordet. Nun ist wieder Ruhe eingetreten“.

Leo Jogiches, der am 14. Januar selbst verhaftet worden war, aber unerkannt entkommen konnte, verlor mit dem Tod Luxemburgs den Mittelpunkt seines Lebens. Ihm ging es nur noch darum, ihre Mörder ausfindig zu machen und ihr literarisches Erbe zu sichern. Als er die Täterschaft und Hintergründe der Ermordung an die Presse weitergab, besiegelte er damit sein eigenes Todesurteil. Er wurde am 10. März 1919 verhaftet, identifiziert und bei erster Gelegenheit erschossen. Von den Mördern, Otto Wilhelm Runge und Kurt Vogel, gibt es ein Foto, auf dem sie in bester Stimmung die Liquidierung von Luxemburg und Liebknecht feiern und sich in eben dieser Stimmung im Gerichtsaal einfanden. Das Strafmaß, das über sie verhängt wurde, war lächerlich.

Vier Monate nach Rosa Luxemburgs Ermordung war es Mathilde Jacob, die die vom Wasser des Landwehrkanals zersetzte Leiche identifizierte. Sie erkannte gleich die „weichen Glacéhandschuhe 6 ¼“, die sie gekauft und in das Weibergefängnis Barnimstraße gebracht hatte.

Mathilde Jacob, der „gute Geist“ von Rosa Luxemburg, ist am 27. Juli 1942 – fast siebzigjährig – als Jüdin in das Lager Theresienstadt deportiert worden, wo sie am 14. April 1943 starb. Luise Kautsky, die vertrauteste unter den Freundinnen, ist 1944 – achtzigjährig –  nach Auschwitz deportiert worden. Als sie dort angekommen war, wurde sie von Mithäftlingen von der Selektionsrampe in die Häftlings-Krankenbaracke geschmuggelt; sie starb wenige Wochen später an Herzschwäche.