Das Beste 1968 war Georg Kreislers „Weg zur Arbeit“

Zu einem übersehenen Jubiläum

Von Markus JochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Joch

„Was sind für Sie die wichtigsten deutschen Texte 1968?“, löcherte mich kurz vor Weihnachten eine japanische Kollegin, wohl weil das Jubiläumsjahr zu Ende ging. Mit „Geschmackssache“ zog ich mich lasch aus der Affäre. Dabei hätte man die „Bottroper Protokolle“ von Erika Runge nennen können, die den Zug der Sechziger-Literatur zum Dokumentarischen und Egalitären auf die Spitze trieben. Oder hätte, ganz andere Schiene, Rolf Dieter Brinkmanns „Piloten“-Gedichte für ihre Öffnung zur Popkultur rühmen sollen. Österreich nicht zu vergessen: Peter Handkes experimentelle (lyrische?) Textformen in „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ sind zwar erst im März ’69 erschienen, aber „Die japanische Hitparade vom 25. Mai 1968“ auf Suhrkamp-Seiten zu hieven, zeugt von vorbildlich erweitertem Literaturbegriff.

Nur, sind das alles Texte, die einen noch 50 Jahre später beschäftigen, wirklich beeindrucken? Schafft es von damals überhaupt einer? Fragte ich mich tags darauf auf dem Weg zur Arbeit in einer Tokioter Privat-Uni – und kam auf „Weg zur Arbeit“, das Lied von Georg Kreisler. Ja, genau, der beste deutschsprachige Text von 1968 ist ein Songtext. Steile These, die jetzt nur noch begründet werden muss. Materialiter überprüfen können Sie sie am leicht zu findenden YouTube-Clip zu „Weg zur Arbeit“.

Nötig ist eine Erinnerung an Kreislers Stück allemal. Keiner der Rückblicke auf 1968 im vergangenen Jahr hat es thematisiert, niemand im Feuilleton, Radio und Fernsehen, niemand im Internet.

Dabei ist die Kreislerlücke nur verständlich. Den Komponisten, Sänger und Dichter vom Jahrgang 1922 assoziiert man schwerlich mit den 68ern; schon sein Dresscode zur Protestzeit ‒ Anzug, Krawatte ‒ markiert habituellen Abstand. Auch erschien „Weg zur Arbeit“ im Mai 1968 auf „Die heiße Viertelstunde“, einer mit Topsy Küppers eingespielten, als Unterhaltungskunst geltenden und heute außerhalb der Kreislergemeinde in Vergessenheit geratenen LP. Die Wiederveröffentlichung auf „Everblacks drei“, der Best-of-Sammlung von 1980, wie auch das Covern durch Tim Fischer 2007 hat den Bekanntheitsgrad etwas erhöht, aber aufs wünschenswerte Niveau?

Was einer Wahrnehmung des Lieds im Kontext von 1968, Literatur und Revolte am meisten entgegensteht, ist Kreislers Image als Meister makabrer Komik. Allein schon der Mega-Erfolg von „Taubenvergiften“ (1956) machte den schwarzen Humor zu seinem Markenzeichen, das vielen bis heute den politischen Künstler verdeckt. Zu den Ausnahmen zählt Jutta Ditfurth, die besagten Clip 2015 auf Facebook postete und in ihm  offenbar ein Schlüsselwerk der antiautoritären Bewegung erkannte. Als solches sollte man es jetzt auszeichnen. Warten wir damit bis zum nächsten Jubiläum, Mai 2068, könnte es genetisch eng werden.

Der jüdische Remigrant Kreisler, 1938 aus Österreich in die USA geflohen und 1955 zurückgekehrt, schildert einen Weg zur Arbeit, auf dem das Ich die braune Vergangenheit der Wiener Mitbürger, denen es begegnet, offenlegt. Klingt zunächst nur nach einem musikalischen Gegenstück zur Ohrfeige, die Beate Klarsfeld dem deutschen Kanzler und ehemaligen NSDAPler Kurt Georg Kiesinger im November ’68 verpasste. Und dass es von alten Nazis seinerzeit noch wimmelte, kann man Binse nennen. Das Thema allein macht den Text noch nicht interessant, wichtiger als das Was ist das Wie.

Der Anfang täuscht Normalität vor: „Jeden Morgen gehe ich zirka acht Minuten lang / Außer wenn ich krank bin, von meiner Wohnung in meine Kanzlei / Das ist schon seit Jahren so. Ich bin nicht der Einzige / Für die meisten Leute geht das Leben so vorbei.“ Wehmut über solcherart verrinnende Lebenszeit dürfte jede/r zweite Berufstätige dieser Welt kennen. Es scheint um Menschlich-Allzumenschliches zu gehen, was sich mit den Folgesätzen allerdings ändert: „Ich grüße freundlich die Verkäuferin meiner Zeitung / Sie hat es schwer heute seit jenem grausigen Prozess / Ihr Mann ist eingesperrt wegen so mancher Überschreitung / Sie wurde freigesprochen, denn sie war nicht in der SS / Obwohl sie wusste, was da vorging.“ Nach „SS“ ganz kurzes Aussetzen der Klavierbegleitung, elegantes Betonungszeichen.

Das harmlose Allerweltssujet, das auch der Titel vorspiegelt, ungeahnt zum dunklen Thema zu lenken, heißt, die Kunst des jähen Umschlags fortzusetzen, die bereits Kreislers Evergreen eignet. Der kommt über eine Strophe lang als Frühlingsidyll daher („Schau, die Sonne ist warm und die Lüfte sind lau“), um dann Zeile zehn, „Gehn wir Tauben vergiften im Park!“, wie einen Blitz einschlagen zu lassen. Nur dass Plötzlichkeit nun ins Politische gewendet wird. Mit der Zeitungsverkäuferin begegnen wir einer Mentalität, die die Ehe mit einem SS-Mann nicht anstößig fand und jetzt umso geneigter ist, das eigene Los zu betrauern statt das der Opfer („hat es schwer“ und „grausiger Prozess“ statt „grausige Tat“). Von Schuldbewusstsein ist nichts zu erfahren, mit seinem Fehlen ist das Leitmotiv eingeführt.

Entfaltet und verstärkt wird es durch die folgenden Variationen der Schamlosigkeit. Friseurgehilfe Navratil, „der auch in der SS war, oder war es die SA?“, findet nichts dabei, seinem jüdischen Kunden anzudeuten, „was damals in Dachau mit dem Rosenblatt geschah“, obwohl es auf ihn, Navratil, doch ein trübes Licht wirft. Der Grund für die Nonchalance ist Eigennachsicht. Das Ich buchstabiert sie mit einem beschwingten „Er war erst zwanzig“ aus, macht die bequeme Selbstexkulpation und beliebte Leier der Nachkriegszeit so wie nebenbei lächerlich.

Noch ungenierter als der Friseur agiert Buchhändler Hammerschlag. 1938, erinnert sich das Ich, hat er „Thomas Mann und Lion Feuchtwanger verbrannt / Und Erich Kästner und den Kafka und den Heine / Und viele andere, die heute sein Schaufenster verzier’n / Und er verkauft sie mit einem Lächeln an der Leine / Ja, er muss leben und seine Kinder woll’n studier’n / Er hat ja selbst den Doktor.“ Die Pointe besteht nicht nur in der Maximalheuchelei, wiewohl bereits deren treffsichere Darstellung ihresgleichen sucht und die heiter-melancholische, in Worten kaum beschreibbare Intonation des Kreuzreims Heine‒Leine ein Übriges tut (YouTube 1:40, 1:50). Nein, noch mehr sardonischen Witz hat das ironische Einverständnis mit dem Opportunisten, das dessen Sicht übernimmt, die Sachzwänge des Doktors ,empathisch‛ berücksichtigt und dadurch ein heruntergekommenes Bildungsbürgertum umso wirkungsvoller seziert.

Wenn Kreisler, statt sie anzuklagen, Täter und Mitläufer durchs Imitieren ihrer Ausflüchte vorführt, ähnelt seine Souveränität der des Billy Wilder. Der jüdische Filmregisseur, 1933 geflohen und ebenfalls österreichischer Herkunft, nimmt 1961 in der Berlin-Komödie „Eins, Zwei, Drei“ die Figur eines dienstbeflissenen deutschen Angestellten auseinander, Schlemmer, der seinem amerikanischen Chef versichert, während des Nationalsozialismus als U-Bahn-Fahrer („Underground!“) nichts vom oberirdischen Geschehen mitbekommen zu haben. Später stellt sich heraus: Er war bei der SS. Aber nur – so die neue Ausrede – als Konditor. „Ich war ein sehr schlechter Konditor!“ Wilder und Kreisler eint in den Sechzigern, Wut über wendige Mitmacher in Witz zu verwandeln. (Rühmann fand die beiden unsympathisch, ich wette.)

Relevant ist das Paar als Erinnerungsinstanz inmitten der Populärkultur wie auch wegen seiner künstlerischen Qualität, einer posthumen Demütigung des Reichspropagandaministers. Goebbels, der der Welt beweisen wollte, das deutsche Kulturleben könne auf Juden ohne Niveauverlust verzichten; der den Geflohenen 1936 hinterherrief, die These ihrer Nicht-Ersetzbarkeit sei „glänzend widerlegt“; der die berechtigten Minderwertigkeitskomplexe der Nachrücker bediente, er blamiert sich noch post mortem, seit Mitte der 1950er Jahre, angesichts der Überlegenheit Wilders und Kreislers im filmischen bzw. kabarettistischen Feld. Sie belegte die Nicht-Ersetzbarkeit glänzend, denke ich beim Grüßen meiner betagten Nachbarin, Frau Suzuki, der wenig goebbelshaften. So wie die Rasanz von Wilders Komödien das zeitgenössische deutsche Unterhaltungskino bieder aussehen ließ, bräsig, lahm, pennälerhaft, war Kreisler den nichtjüdischen Liedermachern seiner Zeit voraus. Erstens textuell, kraft der Fähigkeit, attackierte Objekte in ihrer eigenen Sprache zu schlagen, gern in erlebter Rede, die die Wahrnehmung von Erzähler und erzählter Figur vermischt. Zweitens durch eine Technik, die 2009 der Musikwissenschaftler Friedrich Geiger unterstrichen hat: einen Kontrast zu erzeugen zwischen betont unbeschwert dahinperlendem Klavierspiel und schockierenden Textinhalten, so dass „sich ein Abgrund zwischen musikalischer und verbaler Semantik auftut“, am beklemmendsten in „Weg zur Arbeit“.

Aufwieglerische Potenz birgt der Text, weil das Ich beim freundlichen Grüßen der Passanten eine Erbitterung unterdrückt, die es mit den 68ern teilt: über einstige Stützen und Nutznießer des Nationalsozialismus, die heute den musterhaften Staatsbürger geben. „,Habe die Ehre, Herr Direktor!‛ Der ist gute fünfundsechzig / Also muss er was gewesen sein. Heute ist er Demokrat / Das sind wir schließlich alle.“ Wenn man den angewiderten Sarkasmus hört, mit dem Kreisler den letzten Satz prononciert (YouTube 2:32), eine Phrase, in der die Selbstgefälligkeit des Mitläufers und die fassungslose Wiedergabe durch einen Juden zusammenklingen; die den Unterschied zwischen frischgebackenen und überzeugten Demokraten, Naziprofiteuren und -opfern durch ein fiktives Wir einebnet – wer hörte dann in der Verachtung des Georg Kreisler nicht auch die der 68er für die Täter- und Mitläufergeneration? Sein Sarkasmus verdichtet den Zorn auch der Jüngeren, sein Ton archiviert ihren Hauptantrieb besser, als sie selbst es konnten.

Anders als bei den 68ern, viele von ihnen bekanntlich Nazi-Kinder, die gegen die Eltern rebellierten, äußert sich hier allerdings ein jüdischer Rückkehrer. Dies auch ein Unterschied zu Wilder, der von Hollywood aus abrechnete. Folge distinkter Sprecherposition: Das Ich sieht sich auf Schritt und Tritt mit den Tätern von gestern konfrontiert, glaubt aber, höflich mit ihnen umgehen zu müssen, formvollendet, so schwer es fällt: „,Verehrung, Herr Professor, wie geht es der Frau Gemahlin? / Danke. Sie schauen blendend aus. Wie bleiben Sie so jung?‘ / Das war Professor Töpfer, seinerzeit ,Völkischer Beobachter‘ / Anthropologie und Rassenkunde. Jetzt ist er beim Funk.“

Natürlich hat allein schon die Karriereschilderung ihren Provokationswert, zumal weil im Österreichischen Rundfunk vorgetragen („Die heiße Viertelstunde“ war zunächst eine Kabarettsendung). Beim Hervorrufen antisemitischer Zuschauerkommentare erzielt Kreisler denn auch schöne Erfolge („Hören Sie auf und überlassen Sie das Feld den Einheimischen. Tel Aviv wartet bestimmt auf Sie“). Doch geht es ihm nicht nur ums Entlarven, darum, dass der und der früher das und das gemacht hat und heute immer noch obenauf ist, den ausgebliebenen Elitenwechsel. Es geht auch um die Verstellung des allzeit freundlich grüßenden Juden, sein permanentes Sich-arrangieren-Müssen mit der postnazistischen Gesellschaft. Die Höflichkeit für reine Ironie zu halten, wäre naiv.

Spannende Koinzidenz: Im April 1968 fordert Handke die Ablösung eines Theatertheaters, dessen institutioneller Rahmen aufklärerische Energien neutralisiere, durch Straßentheater. Fast zeitgleich verweist Kreisler auf ein Straßentheater, das es längst gibt, das Juden täglich aufgenötigte Theater der Freundlichkeit. Zur Anziehungskraft des Textes trägt dieses zweite Motiv viel bei, wegen der Verschränkung von Allgemeinem und Besonderem. Jeder dürfte unterwegs schon mal freundlich gegrüßt und gedacht haben: Was für ein Hansel, was für eine Schnepfe. Nur versteht auch jeder, der noch ganz bei Troste ist, dass ein jüdisches Ich im Wien der Nachkriegszeit bessere Gründe für unfreundliche Gedankenrede hat als Sie und ich. „Weg zur Arbeit“ präzisiert einen ubiquitären Reflex chronotopisch, verleiht ihm dadurch Eindringlichkeit. Diesen Satz hätte Kreisler allerdings zu akademisch gefunden.

Wer ist das jüdische Ich, das mitspielt? Identisch mit der Autorperson ist es offensichtlich nicht. Es ist auf dem täglichen Weg in seine Kanzlei – wo es am Ende, nach acht Minuten trauriger Erinnerungen und Selbstverleugnung, dreimal tief wird durchatmen müssen. Täglich aufgesucht werden Kanzleien von Anwälten. Kreislers Vater war einer, bevor er mit der Familie nach Amerika floh und auf Steuerberater umsattelte. Der Sohn spielt durch, welche Verrenkungen Dr. Siegfried Kreisler geblüht hätten, wäre er nach 1945 nach Wien zurückgekehrt, um seinen alten Beruf auszuüben. Schwierigkeiten der Remigration blitzen auch in der fünften Strophe auf, an der Figur des ehemaligen Café-Besitzers Winkelmann, der nach dem Krieg noch einmal zurückkehrt, um dann wieder wegzugehen. Nur nachvollziehbar angesichts der Omnipräsenz der Hammerschlags, Töpfers und der Arisierungsgewinner – so die implizit bleibende Erklärung. Mehr als nötig sagt Kreisler nie.

Ohnehin könnte die Botschaft klarer nicht sein. Remigration ist nur um den Preis der Konformität zu haben. Man macht gute Miene zu Leuten, die 1938 freudig zusahen, wie Juden mit Wurzelbürsten Parolen von Straßen schrubben mussten, nun so tun, als wäre nichts passiert, und von den Rückkehrern das Gleiche erwarten. Womit der Autor einen performativen Widerspruch herausspielt. Handelt er von einem Ich, das seine Gefühle gegenüber Gestalten mit Nazi-Vergangenheit verschweigt, bricht er das Schweigen. Nicht nur das einer vaternahen Figur („immer ein ängstlicher Mensch“, urteilt die Autobiographie „Letzte Lieder“), sondern auch das eigene. 1955, auf der Überfahrt nach Europa, hatte sich Kreisler Aggressionsverzicht verordnet: „Meine Erwartungen waren nüchtern. Natürlich würde ich alte Nazis kennenlernen und mit ihnen sprechen, als ob nichts gewesen wäre.“ Erst 13 Jahre nach der Rückkehr macht er seine Vorbehalte öffentlich.

Wie wichtig ihm die Selbstüberwindung war, lässt sich daran ermessen, dass er den in die Phase davor fallenden Erfolgssong später kritisch, als Übersprungshandlung betrachten wird. „Machen wir uns nichts vor“, resümiert „Mein Heldentod“ (2003), „,Taubenvergiften‘ war ein Anpasserlied. […] Ich habe mich damals geniert, Gerechtigkeit zu verlangen, es wäre auch vergeblich gewesen. Ich habe ,Taubenvergiften‘ geschrieben statt ein paar Worte oder Klänge, über die ich Blut verloren hätte. Aber ich war ausgesaugt.“ Das charmanteste Anpasserlied ever, werden Fans einwenden, schon wegen „Der Hansl geht gern mit der Mali / Denn die Mali, die zahlt’s Zyankali“. Doch ändert das nichts an Plausibilität und Implikation der Selbstbeschreibung – „Weg zur Arbeit“ machte Schluss mit der Selbstverleugnung als jüdischer Künstler. In ihrer ausgezeichneten Biographie von 2005 schreiben Hans-Juergen Fink und Michael Seufert über die Situation im Protestjahr: „Georg Kreisler sieht, dass die Käseglocke des konservativen Konsens zum ersten Mal Sprünge bekommt.“ Das wäre in unserem Kontext zuzuspitzen. Erst das Klima von 1968 ermöglicht diesem Künstler Klartext in eigener Sache. Das schönste Kompliment, das man dem Jahr machen kann, und womöglich das Ende der Nachkriegszeit.

Feierlich genug? Noch nicht ganz. Erstens haben diese und andere Kreisler-Lyrics den seltenen Vorzug, der Musik nicht unbedingt zu bedürfen. Man kann sie auch ohne lesen. Was auf frühe Arbeiten von Biermann ebenfalls zutrifft („Ermutigung“, „Die Stasi-Ballade“), aber dessen Schaffen verschwand nach ’89 ja in den Fluten der Ich-Anbetung. Von ihnen hat sich Kreisler, obgleich 1976 badebehost auftretend, stets ferngehalten. Hut ab.

Zweitens funktioniert der Text von „Weg zur Arbeit“ auch interkulturell, zumindest bei den Germanistik-StudentInnen Japans. In einem Bachelor-Seminar vor zwei Jahren jedenfalls kam Kreisler gut an, und das nicht nur wegen seiner gleich als kawaii (süß) bejubelten Hornbrille. Die Klientel hier zählt meist zu Nippons linksliberaler Gemeinde – Milieu wäre geprahlt. Sie hat es mit einem Land zu tun, das sich mit Antisemitismus wenig auskennt, aber bei Fremdenfeindlichkeit und Ultranationalismus vor 1945 mithalten kann (Nanking-Massaker). Vor allem kennt es auch die Unzahl danach ungestraft davongekommener Biedermänner. Kreislers Auseinandersetzung mit diesem Typus, dem gemeinsamen Problem, fanden die StudentInnen „politisch sehr richtig“, zumal deutliche Worte wie seine hier auch nach ’68 selten geblieben sind. „Mutiger Chrysler“ kann man trotzdem nicht durchgehen lassen.

Drittens verband der Verfasser noch im Oktober 1984 das Genre Politisches Lied mit Konstantin Wecker, Bettina Wegner und Hannes Wader, also eher mit dem Ende von „Heart of Darkness“ („The horror! The horror!“). Denn sie klangen immer so, als müssten sich die Zuhörer jetzt ganz fest bei den Händen halten. Da begegnete ich, auf den Tipp des Vaters eines Schulfreunds hin, „Weg zur Arbeit“. Vier Minuten, die einem zeigten, dass es auch subtiler geht. Heute würde ich das Stück natürlich nicht mehr gegen die drei W’s ausspielen, die schon okay waren. Es ist keine Schande, neben Georg Kreisler zu verzwergen.