Einmal Internetruhm und zurück

Die Journalistin Natasha Stagg beschreibt in ihrem Debütroman „Erhebungen“ Liebe in Zeiten von Social Media

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Colleen arbeitet für ein Marktforschungsinstitut in einem Einkaufszentrum in Arizona. Ihr Job besteht nach außen darin, Einkaufende dazu zu überreden, an Umfragen teilzunehmen und Warenmuster auf ihre Attraktivität hin zu bewerten. Da jedoch das Klientel der Mall in den meisten Fällen ganz und gar nicht der Zielgruppe entspricht, die später die teuren Produkte erwerben soll, gibt Colleen den Befragten Hinweise, welche Antworten gewünscht sind, manipuliert die Umfragen oder füllt die Bögen gleich selbst aus. Nur dann, wenn die ‚richtigen‘ Ergebnisse geliefert werden, ist die Zentrale zufrieden, denn nur dann sind auch die Kunden zufrieden, die Parfum- und Schnapshersteller, die viel Geld dafür ausgeben, sich davon überzeugen zu lassen, dass ihre Ideen genau die richtigen sind.

So perpetuiert sich ein Spiel mit dem Schein. Colleen und ihre Kollegen spielen sich gegenseitig Rollen vor – einer der Mitarbeiter behauptet beispielsweise, er käme aus Australien, hat in Wirklichkeit jedoch lediglich eine australische Frau, die er bequemerweise nicht erwähnt, wenn er versucht, mit den Kolleginnen anzubandeln – und sie geben den Umfrage-Teilnehmern vor, welche Lebensumstände diese vortäuschen sollen. Die Teilnehmer selbst sind oft bauernschlau genug, zumindest zu verschleiern, wie oft sie an den Befragungen teilnehmen, und sie geben bereitwillig zu Protokoll, was immer von ihnen verlangt wird. Zentrale und Werbekunden dürften sich im Klaren darüber sein, dass sie betrogen werden, und selbstverständlich wissen auch die späteren Käufer um die hohlen Versprechen der Hochglanz-Produkte. Doch Wert entsteht durch die Zuschreibung, und so beteiligen sich alle am Spiel mit Selbst- und Fremdbild, täuschen vor, spiegeln wieder, bis nur noch Abbilder übrig sind.

Colleen sucht permanent nach Bestätigung ihres Selbst – leichthin und gleichgültig prostituiert sie sich bei flüchtigen Bekannten, macht auch sich selbst zum Produkt: „Die ganze Welt war jetzt irgendwie leichter zu verdauen: Du arbeitest und wirst dafür bezahlt. Du wachst auf, und jemand legt deinen Wert fest. Du wirst älter, und dein Preis fällt.“ Auch der Spanner, der sie in ihrer Wohnung bedrängt, bis sie die Polizei rufen muss, zeugt zunächst erst einmal nur davon, dass sie fähig ist, Begehren zu wecken.

Schließlich lernt sie über Social Media einen „Semi-Promi“ namens Jim kennen, „ganz besonders männlich und zurückgezogen“, gleichzeitig aber umgänglich genug, dieses Image erfolgreich im Netz zu verbreiten. Er gefällt ihr so sehr, dass die beiden eine Online-Affäre beginnen, um ihre Follower „zusammenzulegen“: „Endlich war da jemand, der verstand, wie dringend ich in die Öffentlichkeit wollte, um dort alles sagen zu können, was ich wollte. Auch er war bereit, für eine positive Reaktion alles stehen und liegen zu lassen.“

Was Colleen in der Öffentlichkeit sagen will wird nicht berichtet, ihre Berichte bleiben ausgespart – die Lücken symbolisieren die tatsächlichen Leerstellen im Leben der jungen Frau. Es ist letztlich vollkommen gleichgültig, was sie ihren Followern erzählt, wichtig ist, wie diese sich dazu verhalten, was sie zu lesen meinen, dass sie glauben, durch die Lektüre am fremden, intensiveren, optimierten Dasein teilnehmen zu dürfen.

Überhaupt lässt der Roman vieles unbeschrieben. Auch, wofür Colleen und/oder Jim bekannt geworden sind, erfährt der Leser nicht. Vermutlich sind sie Selbst-Darsteller im wörtlichen Sinne. Sie liefern ihren Anhängern exakt das, was diese zu lesen und sehen wünschen – eine perfekt auf ihre Follower zugeschnittene Version von Leben. Dabei stolpern Colleen und Jim irgendwann lediglich von einer Party zur nächsten, einem anonymen Hotel zum nächsten, einem Werbeauftritt zum nächsten. Die beiden leben davon, dass sie ihren Namen für Partys und Produkte hergeben, wofür sie „nur ein paar E-Mails beantworten mussten“. Colleen ist sich oft nicht einmal im Klaren darüber, wen sie trifft, wofür sie wirbt, wobei sie Spaß haben sollte. Sie scheint sich selbst nur noch durch die Augen ihrer Follower zu sehen, lebt nur noch im Brennspiegel der Aufmerksamkeit ihres Publikums. „Es wäre wohl schwierig, Jim oder mich zu dieser Zeit zu beschreiben, weil ich so viel Energie darauf verwendete, mich für Jim neu zu erfinden, und ich auf alles reagierte, was er tat.“

Doch dann beginnt Jim eine Affäre mit einer anderen Frau – was genau geschieht, wo er sie kennen lernt, wie weit die beiden gehen, bleibt wiederum unerzählt. Erzählenswert ist vielmehr, wie die neue Konkurrenz Colleen beeinflusst: Sie beginnt, die Nebenbuhlerin online zu stalken, jeden Beitrag oder auch das Fehlen eines Eintrags wahrzunehmen und zu bewerten. Lucinda erscheint als die verbesserte Version Colleens – sie nutzt die sozialen Medien bewusster, setzt sich mit ihrer Online-Persona auseinander, bleibt im Austausch mit der realen Welt.

Lucinda schreibt ein Essay über die Rolle der Prominenz in der Zukunft, in dem sie erkennt, dass Berühmtheit auch damit zu tun hat, sich ausbeuten zu lassen. Daneben arbeitet sie an einem Buch, ohne Auszüge daraus zu veröffentlichen – was Colleen erstaunt und sie neidisch werden lässt: „Es gibt Menschen, die ohne Publikum jeden Tag an etwas arbeiten.“ Sie sehnt sich nach Authentizität, misstraut jedoch gleichzeitig jeder Aktion, die nicht auf eine Reaktion zielt.

Das Internet macht es ebenso leicht, sich neu zu erfinden und fremde Rollen einzunehmen, wie es selbiges Verhalten erschwert – das Netz vergisst nichts, Kommentare sind noch jahrelang aufzurufen; eine nicht aufzufindende Vergangenheit in Social Media zeugt von der Notwendigkeit, etwas zu verbergen, mithin Unaufrichtigkeit. Die Technologie fordert ein beständiges Katalogisieren, Erklären und Aufpolieren der eigenen Erlebnisse für die Unterhaltung der Masse, die allerdings zur gleichen Zeit für die Validation des Daseins für sich selbst sorgt: „Im Internet konnte man meine Berühmtheit deutlich sehen, und deshalb mussten auch alle anderen meinen Status anerkennen.“ Colleen ist nicht mehr als die Summe ihrer Likes und Replies. Selbsterkenntnis erlangt man dadurch, dass man weiß, was andere über einen denken. „Schon immer will jeder Mensch auf der Welt wissen, wie er oder sie wahrgenommen wird“. Online kann Colleen sich permanent rückversichern, jede Äußerung auf ihr Publikum ausrichten, das umgekehrt ihre Person gesellschaftskompatibel zurechtschleift. Lucinda dagegen löscht irgendwann ihre gesamte Online-Präsenz aus dem Netz. Dass jemand diese definierende Berühmtheit aufgeben könnte, muss Colleen als hinterhältige List erscheinen.

All das wird in einem trockenen, nüchternen Ton erzählt – Colleen berichtet mit der gleichen Affektlosigkeit von ihren ereignislosen Tagen im Einkaufszentrum wie von den drogengetriebenen Partys zu den Hochzeiten ihres Social-Media-Ruhms. Sie bleibt immer unbeteiligt, ihr Leben austauschbare Fassade. Das ist ebenso passend wie irritierend. Die Monotonie lullt die Lesenden ein, und der Text bietet wenig Orientierungshilfe.

Zudem erscheint die Hauptfigur seltsam gebrochen und die Dialoge bleiben oft auf dem Niveau einer Vorabendserie. Im Gegensatz dazu denkt Colleen im inneren Monolog reflektiert über ihre Berühmtheit und deren Anfangs- und Endpunkt nach: „Wir stellten Fragen über Kunst und Repräsentation, und über die zeitgenössischen Vorstellungen von einem Mann und einer Frau, die eine Liebesbeziehung führen. Wir stellten den Leuten Wende-Schilder auf ihre Straßen, lächelten einander an und fuhren geradeaus.“

Offen bleibt, ob die Hauptfigur des Textes raffinierter und manipulativer ist, als man ihr zunächst zutrauen würde – oder ob es Stagg nicht gelingt, stringent durchzuerzählen. Aber vielleicht ist auch das ein dem Text inhärenter Kunstgriff – Colleen ist sich zumindest der Anziehungskraft von Lückenhaftem bewusst. Ihre Hausarbeiten während des Studiums, so erklärt sie einmal, seien jedenfalls immer besser bewertet worden, je collagenartiger und unstrukturierter sie wirkten: „Tatsächlich schien das Interesse der Dozenten immer größer zu werden, je unzusammenhängender die Absätze in meinen Arbeiten waren.“ Und so sagt die Reaktion auf den Text möglicherweise auch mehr über die Lesenden selbst aus als über den Roman.

Titelbild

Natasha Stagg: Erhebungen. Roman.
Übersetzt aus dem US-amerikanischen Englisch von Georg Felix Harsch.
Edition Nautilus, Hamburg 2018.
191 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783960540816

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