Geistige Nahrung, gegrillt

In Vladimir Sorokins irrwitzigem Roman „Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs“ ist die Buchkultur am Ende

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Russland wird gerne gegrillt. Schaschlik heißen die Fleischspieße, die in geselliger Runde über offenem Feuer zubereitet werden. Dabei kommt es vor allem auf die Marinade an: Sie ist Alleinstellungsmerkmal, und jeder Hobbygrillmeister schwört auf sein persönliches Rezept. Das ganze Ritual ist in der Regel eine Angelegenheit der Männer – die Frauen sind allenfalls für die Beilagen zuständig.

Vladimir Sorokin hat sich nun für seinen neuesten Roman Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs eine kulinarische Besonderheit ausgedacht. Wir befinden uns im Jahr 2037. Auf der Erde ist unterdessen einiges geschehen: Kriege und islamische Revolutionen (und Gegenrevolutionen) haben stattgefunden, neue Staaten sind entstanden, darunter Monarchien und korrupte Bandenreviere. Es werden keine Bücher in Papierform mehr veröffentlicht – gedruckt wird nur noch Geld. Dafür stiehlt man die noch existierenden Bücher aus Antiquariaten oder Museen und handelt sie teuer. Denn seit ein paar Jahren gibt es einen neuen planetarischen Trend: das Book’n’Grill. Dabei werden Bücher als Brennmaterial für die Zubereitung exklusiver Speisen verwendet: Ein Schnitzel auf Schnitzler gefällig? Oder doch lieber ein Täubchen auf Achmatowa? Auch Zander auf Bulgakows Meister und Margarita wäre im Angebot!

Schon die Idee vom Grillen auf Büchern an und für sich ist eine köstliche Parodie auf das kulturelle Selbstverständnis Russlands. Man hat sich nämlich stets als eine literaturzentrische Kultur verstanden. In der Sowjetunion herrschte die Ansicht vor, man sei das am „am meisten lesende Volk“. Außerdem hat die Literatur in Russland in der Vergangenheit immer wieder Funktionen übernommen, die in anderen Ländern Diskurssystemen wie der Philosophie oder der Soziologie vorbehalten waren: Die Literatur hat bekanntlich – oft in verklausulierter Form – Themen verhandelt, die sonst nicht in die öffentliche Diskussion eingebracht werden konnten. Die schöne Metapher von den Büchern als geistiger Nahrung wird also von Sorokin ernst genommen, zugleich aber auch ad absurdum geführt: Der Geist des Buchs geht bei ihm gewissermaßen ins Fleisch (oder auch ins Grillgemüse) ein. Das ist eine etwas andere Form der Aneignung von Literatur: Man ist ja schließlich, was man isst!

Book’n’Grill ist ein knallhartes Geschäft. Es ist im Grunde genommen illegal, wird von den Behörden kämpft, hält sich aber trotzdem in vielen Weltgegenden. Die Köche – Frauen sind übrigens auch hier nicht mit von der Partie – haben sich in der „Großen Küche“ kartellartig organisiert. Auf diese Weise schützen sie sich gegen außen und verhindern zugleich, dass sie einander ins Gehege kommen. Jeder hat sich entsprechend spezialisiert, so auch Géza, die Hauptfigur des Romans: Er grillt auf russischer Literatur. Man betrachtet sich im Übrigen als Künstler. Wir lesen Gézas Tagebuch, das sich über etwa einen Monat im Frühling erstreckt. Wir jetten mit ihm um die Welt, um live mitzuverfolgen, wie er für Kunden „kocht“. Géza ist seit neun Jahren in dieser Funktion unterwegs. Sein Job hat ihn zu einem modernen Arbeitsnomaden gemacht, der sich kaum irgendwo länger als einen Tag aufhält. Nur hie und da gönnt er sich eine kurze Pause – am liebsten mit ein paar hübschen Mädchen an einem Strand in Südostasien. Ansonsten sind seine einzigen Begleiter die für sein Handwerk benötigten Arbeitsutensilien und drei so genannte „kluge Flöhe“, eine technische Neuerung: Einer steckt im Hinterhirn und macht Géza gescheiter, ein anderer hat sich in den Haaren eingenistet und navigiert seinen Träger. Der dritte schließlich haust in der Ohrmuschel und ist für Information und Kommunikation zuständig. Es ist wie gehabt: Wer einmal Flöhe hat, wird sie kaum mehr los.

In den ersten paar Tagen erleben wir Géza auf Reisen und in Aktion. Das könnte ewig so weitergehen, doch eine beunruhigende Nachricht erreicht die Köche: Ein Unbekannter hat begonnen, mit einer Molekularmaschine riesige Auflagen von Vladimir Nabokovs Ada zu produzieren, wobei alle Exemplare lediglich Klone sind. Die Zunft der Köche ist alarmiert: Man kann diese Entwicklung nicht einfach hinnehmen, denn sie droht, das Geschäft komplett zum Erliegen zu bringen. Die Köche treffen sich daher zu einer geheimen Sitzung, einem „Konzil“, und fassen den Entschluss, dem Betrüger das Handwerk zu legen. Das Los fällt dummerweise auf Géza: Er wird beauftragt, die Molekularmaschine zu zerstören. Wie die Große Küche inzwischen weiß, befindet sich die Produktionsstätte mitten im Berg Manaraga im Uralgebirge, dem Rückgrat Russlands. Hier kommt es schließlich zum spektakulären Showdown, der in manchem an einen James-Bond-Film erinnert, der jedoch dann etwas anders ausgeht. Sobald offensichtlich ist, dass Manaraga auf dieses Finale hinsteuert, erhält die Geschichte einen neuen Drive, der ihr gut tut. Ihm verdankt es das Buch letztlich auch, dass seine Konstruktion bis zum Schluss hält.

Bis dahin ist allerdings noch ein wenig Zeit, in der wir Géza bei seiner Arbeit beobachten. Sorokin wäre nicht er selbst, wenn er das nicht für allerlei Parodien und postmoderne Spielereien nutzen würde. So wird Géza etwa zu einem norwegischen Kunden gerufen, einem Sonderling, der sich für Lew Tolstoi hält und entsprechende Erzählungen verfasst: Eine davon wird als Ganze zitiert – auf ihr wird Géza grillen. Oder wir fliegen mit dem Koch nach Transsylvanien, wo inzwischen ein „primitiver Feudalismus“ herrscht und wo wir mit einem mafiosen Gangstermilieu Bekanntschaft machen. Hier wird folgerichtig auf einer langen Liste von Büchern aus dem Bereich „Crime & Horror“ gegrillt (Ja, Dracula ist auch dabei.).

Sorokins Roman sprüht vor irrwitzigen Ideen. Er porträtiert schräge Milieus, bringt eine Typologie der Grillkunden, reproduziert Populärkultur und verspottet die Hochkultur. Allerdings gerät dabei bisweilen die durchaus ernste Frage etwas in den Hintergrund, wie es denn nun mit der Menschheit weitergehen soll, wo doch die Buchkultur quasi tot ist und das Wort „Buchhandel“ eine völlig neue Bedeutung erhalten hat. Es ist bezeichnend, dass Géza selbst darüber keine Gedanken wälzt: Er macht ja bloß seine Arbeit, jegliches Moralisieren ist ihm fremd. Es bleibt somit den Lesern überlassen, den Zustand der Welt von 2037 zu bewerten. Was ebenso beunruhigen müsste: Kaum jemand kann das Russische noch lesen, und es gibt immer mehr Köche, die Analphabeten sind.

Sorokins Manaraga als eine weitere Antiutopie und Satire vornehmlich auf Russland bezogen zu lesen, wäre zu kurz gegriffen. Hier wird – wenn schon – die mutmaßliche künftige Entwicklung der gesamten Welt, besonders aber Europas, aufs Korn genommen. Gewiss findet man auch in Manaraga einiges wieder, das man aus Sorokins letzten Büchern bereits kannte, etwa die technischen und digitalen Neuerungen, aber auch körperliche Mutationen bei den Menschen. Hingegen fehlen dieses Mal die Versatzstücke des Mittelalters fast völlig, die etwa in Der Tag des Opritschniks (2006) zentral sind: Sie zeigen dort den Rückfall der Gesellschaft in frühere Zeiten an.

Manaraga ist grotesk und satirisch, witzig und spritzig. Der Roman ist allerdings weniger komplex ausgefallen als frühere Texte des Autors, manchmal auch etwas banaler. Dafür ist er leichtfüßiger und süffisanter. Er ist auf jeden Fall ein Kochbuch der sehr besonderen Art. Einmal mehr darf man Andreas Tretner für eine großartige Übersetzung loben. Sorokin war immer gut darin, Tendenzen der Gegenwart zu erkennen, sie in die Zukunft zu projizieren und zugleich zu akzentuieren. Auf diese Weise hat er oft Entwicklungen frühzeitig erkannt, bevor diese sich dann tatsächlich durchzusetzen vermochten. Das muss zu denken geben: Aus dem Spaß könnte Ernst werden.

Titelbild

Vladimir Sorokin: Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Andreas Tretner.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018.
253 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783462051261

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