Ein bürgerliches Heldenleben

Georg-Michael Schulz porträtiert Leben und Werk von Carl Sternheim

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1915, der Krieg hatte noch nicht die Peripetie erreicht, erscheint bei Kurt Wolff in der Reihe Der jüngste Tag eine Novelle. Der Autor Carl Sternheim war dem Publikum weitläufig bekannt durch eine Reihe erfolgreicher Theaterstücke, darunter Komödien wie Bürger Schippel, Die Kassette oder Die Hose. 1915 jährten sich zum 100. Mal der Abschluss des Wiener Kongresses und damit das Ende der napoleonischen Herrschaft über Europa. Insofern mag man kaum von Zufall sprechen, dass der Autor als Titel den Namen Napoleon wählte.

Der Protagonist, ein 1820 in Waterloo geborener Koch, dem Ort, an dem Bonaparte seine letzte Schlacht verloren hatte, erlebt einen märchenhaften Aufstieg. In Paris liegen ihm die Leute zu Füßen, man nennt ihn im Gegensatz zum Kaiser den „König Napoleon“. Am Vorabend des deutsch-französischen Krieges von 1870 charakterisiert er zynisch und wissend die Politik, den Egoismus der Politiker und die Regierung, die mit den Bürgern „nach Gutdünken“ verfahre: „Es genügt ihnen zuzurufen: Das Vaterland ist in Gefahr! Sie fragen niemals: Durch wen im letzten Grund? Lassen sich bewaffnen, morden jeden beliebigen als Erbfeind, erst zögernd, dann, aus Gewohnheit, mit Überzeugung und Hochrufen.“ Unschwer ist zu erkennen, dass hier das aktuelle Geschehen des europäischen Krieges von 1914 Modell gestanden hat.

Als der Held der Erzählung seine geliebte Frau verliert, spürt er die „Kluft sich auftun zwischen einer modernen, rein merkantilen Weltauffassung und dem eigenen Universalismus.“ Seine Empörung dagegen wächst von Tag zu Tag, gegen die „Häuptlinge der neuen Geldaristokratie“ empfindet er zunehmenden Abscheu, er kehrt zurück an seinen Geburtsort, ins Exil, gleichsam wie der große Namensvetter, wo man sich Geschichten seines Ruhms als Koch der oberen 10.000 erzählt, er aber verdingt sich als einfacher Kellner in einem noblen Restaurant, in dem man ihn, den alten Mann, mit Nachsicht, mit „teilnehmender Aufmerksamkeit“ behandelt. Darüber kommt er zur Ruhe, findet „Gleichmaß“ und Frieden – jenseits der vita activa und jenseits des irdischen Strebens nach Geltung, Geld und Prestige: Der Napoleon der Novelle ist ein Gegenbild zu wilhelminischer Großmannssucht und reichsdeutschem Machthunger, Kontrapunkt zu den ins Kraut schießenden kulturellen Überhöhungen und Rechtfertigungen, der Kriegslyrik, des Kriegskitsches und der Kriegspropaganda. Als er stirbt, so lautet der letzte Satz, „war er gut und fromm.“

Das ist die Lesart des Rezensenten, eines Historikers. Der Literaturwissenschaftler Georg-Michael Schulz setzt in seiner Studie über Leben und Werk Carl Sternheims andere Akzente. Auch er betont die Abneigung des Autors gegen „kapitalistische Gesinnung“ und den dominant werdenden „Kampf ums Dasein“. Die daraus erwachenden Gefühle von Ablehnung, ja von Hass, auch Mordgelüste gegen seine Gäste münden ein in radikale Abkehr des Protagonisten von seiner bisherigen Existenz als gastronomischer Stern der hauptstädtischen Elite. „Befreit von der Fixierung auf Erwerb, gewinnt er ‚Überlegenheit‘, ‚Unabhängigkeit‘, ‚Verfügung über sich‘ selbst“, schreibt Schulz. Die Erzählung ist in dieser Perspektive die Geschichte eines Mannes, der nach langen Irrungen und Wirrungen auf dem Weg zur Befriedigung sozialer Aufstiegsambitionen zu seinem Wesenskern findet, zur Einheit mit sich und der Natur, nicht jedoch mit der Gesellschaft, deren Zeitgenosse er ist. Der Preis dafür ist Amnesie. „An Vergangenheit, viel Macht, Ehre, Leid, Elend, häusliches, bürgerliches Wesen, an Einzelnes erinnerte er sich nicht mehr“, heißt es bei Sternheim. Ob der Name für seinen Helden wirklich ein „sonderbarer Einfall“ gewesen ist, wie Wilhelm Emrich, der Herausgeber der Werkausgabe, meint, sei dahingestellt. Sternheim hat ihn in seinen Memoiren auf einen Kellner in einem Wirtshaus nahe Brüssel zurückgeführt, wo er eine Zeit lang seine Zelte aufgeschlagen hatte. Es sei eine „ironische Pointe“, resümiert Schulz, dass die Namenswahl in Verbindung mit dem Geburtsort Waterloo sowohl das „Imperial-Sieghafte“ als auch das „Desaster“ einschließe, was indes als solches in der Erzählung nicht thematisiert wird.

Nach etlichen nicht sonderlich beachteten Versuchen gewann Sternheim erst in der Phase unmittelbar vor dem Krieg von 1914/18 an Resonanz. Da war er bereits in zweiter Ehe mit Thea Löwenstein, geborene Bauer, verheiratet, die ihm als reichlich bedachte Erbin einen großzügig bemessenen Lebensstil finanzierte. Der Erfolg stellte sich mit einem Kranz von Komödien ein, die Begebenheiten und Charaktere „aus dem bürgerlichen Heldenleben“ auf die Bühne brachten. Das Personal bewegt sich in einem eher kleinbürgerlichen, auch spießigen Milieu, das sich in alltäglichen, episodisch dargebotenen Konfigurationen, in Konflikten, Sehnsüchten und Liebeshändeln offenbart. Gemeinsam ist ihnen der Blick auf banale, höherer Repräsentanz entbehrende Wirklichkeiten, denen der Stückschreiber allerdings nicht mit erhobenem Zeigefinger begegnet, sondern als unvoreingenommener, nicht auf Wertungen versessener Beobachter. Ihm geht es weder um programmatische Wahrheiten noch um moralische Entrüstung oder Erziehungsmaximen. Das ändert sich im Laufe des Krieges. Sternheim deutet nun, wie Schulz notiert, „entschiedene Zustimmung“ zum Verhalten seiner Hauptpersonen an, will auf die Zuschauer einwirken, sie zu einer „nicht ideologisch verfälschten Bejahung ihrer selbst und zur Selbstverwirklichung verhelfen.“

Parallel dazu schärfen sich die politischen Überzeugungen. Der Zorn auf den Geist des Kapitalismus, auf die Welt der Moderne durchdringt die nichtfiktionalen Texte, Zeit- und Gesellschaftskritik schieben sich in den Vordergrund. Schulz exemplifiziert das unter anderem am 1920 publizierten Essay Berlin oder Juste Milieu, eine wortgewaltige Abrechnung mit Deutschlands Hauptstadt. Diese habe sich binnen weniger Jahrzehnte von einer beschaulichen Residenz kleinstädtischen Zuschnitts zur weltweit beachteten Metropole aufgeschwungen. Jeder Tag bringe hier „neue Rekorde des Kolossalen“, die Zahl als solche,  gesteigert zum „Statistiktaumel“ regiere die Gemüter, „Geschäft, Armee, Flotte“ dominierten. Jeder wolle den andern überbieten: Die Deutsche Bank sei an die Stelle der Universität getreten, die Kirche habe ihre Rolle an die Börse abgetreten, die Arbeiterschaft werde mit  „mit billigem Luxus“ betäubt. Allenthalben herrschten geistige Ödnis, literarische „Belanglosigkeit“ und das dürftige Maß einer wohltemperierten Mitte. Kaum einer der Kollegen entgeht der Lust, die Kontrahenten zu schmähen, ausgenommen sind einstweilen Franz Pfemfert und Maximilian Harden, deren Verachtung, mit der sie die Sozialdemokratie, die „Reichstagssozialisten“ traktieren, lobend hervorgehoben wird: „Konjunkturrevolutionäre“, die in „vollendeter Verlogenheit“ revolutionäre „Phrasen“ heulten.

Wenig Gutes ist von Sternheims Charakterzügen zu berichten. Schon früh fällt ein offenbar unstillbarer Hang zur Selbstbeobachtung, Selbstgerechtigkeit und Selbststilisierung auf, heute würde man vielleicht sagen: zum Selbstmarketing und Aufmerksamkeitsmanagement. Er habe, schreibt er 1905 an seine Geliebte und spätere Frau Thea, „nichts zu tun“, als die „Pflichten“ gegen sich „in peinlichster Weise zu erfüllen“, damit er „allezeit schaffensfähig“ sei: „eventuell unter gänzlicher Hintansetzung der Pflichten gegen andere.“ Um den Hang zu Vermessenheit, ostentativer Hybris und pauschaler Verunglimpfung zu illustrieen, breitet Schulz eine ganze Reihe treffender Zeugnisse aus. Er sei, verkündet Sternheim 1925, „das lebendigste Centrum des ganzen deutschen Theaters“. Keine Frage, dass er sich zum einzig wahren Genie erklärt, ebenso wenig eine Frage, dass er der einzige ist, der Johann Wolfgang Goethe in die Schranken weisen darf, keine Frage schließlich, dass er es ist, der Vincent van Gogh „in den Himmel wesentlicher Menschen“ hineinrettet. Das wird unter souveräner Missachtung einschlägiger Würdigungen einfach so behauptet. Man möchte ihm mit dem Historiker Hermann Heimpel zurufen: „Lektüre schützt vor Neuentdeckungen“. Ehefrau Thea beklagt 1927, kurz bevor sie sich von ihm trennt und kurz vor Ausbruch einer schweren psychosomatischen Erkrankung ihres Mannes, „die abgründige Tragik dieser nur noch von Eitelkeit und Größenwahn zerfressenen Seele“.  Gebündelt findet man Sternheims Eitelkeiten mitsamt mancher Stilblüte in seinem 1936 bei Querido in Amsterdam veröffentlichten Lebensbericht (Vorkriegseuropa), dem der Biograf jedoch zu Recht nur kursorische Beachtung schenkt.

Schulz’ Studie ist in einer Schriftenreihe namens Meteore erschienen – eine Metapher, die das Wirken des Protagonisten treffsicher erfasst. Sternheim leuchtet am literarischen Himmel vor dem Ersten Weltkriegs auf wie eine Sternschnuppe, um bald darauf wieder zu verglühen. Er zehrt von seinem Ruhm noch in den 1920er Jahren, aber er beginnt schon damals, zu zerbröckeln. Der Autor schließt mit einem Satz von Klaus Mann aus dem Exil im Jahr 1938: „Zu den Dokumenten, an denen ein späteres Geschlecht, entsetzt oder belustigt, Größe und Lächerlichkeit, Tragik und Witz dieses Zeitalters erkennen wird, dürften sicherlich ein paar Komödien und ein paar Dutzend Prosa-Seiten von Carl Sternheim gehören.“

Titelbild

Georg-Michael Schulz: Carl Sternheim.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2018.
224 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783865256317

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch