Verlierer mit Beharrungskraft

Jens Jessen fragt sich, „Was vom Adel blieb“

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel von Jens Jessens handlichem Essay erinnert an Kazuo Ishiguros modernen Klassiker The remains of the day, in deutscher Übersetzung: „Was vom Tage übrigblieb“. Nur auf der Oberfläche geht es in dem mit Anthony Hopkins in der Hauptrolle mit großem Erfolg verfilmten Roman um die wehmütigen Erinnerungen eines alternden Butlers. Diese ‚kleine‘ Geschichte liefert den Anlass für das Erzählen einer eminent politischen, ‚großen‘ Erzählung des 20. Jahrhunderts mit dem europäischen Adel in der Hauptrolle. Im Roman des Nobelpreisträgers ist es nämlich der Herr und Meister des Butlers, der, ganz in der Tradition des Diplomaten von Stand, zwischen den Mächten zu vermitteln versucht. Dass der zur Rückkehr ins europäische Boot eingeladene Staat das von Adolf Hitler regierte und durch britisches Appeasement gestärkte Deutsche Reich ist, verleiht der Geschichte eine tragische Dimension. Hierzu will sich das sture Knechtsethos des Butlers fügen, der sich sein persönliches Lebensglück damit ebenso verscherzt hat wie den Rang eines mündigen Menschen.

Sich an dem nach wie vor gegenwärtigen und, wie man sieht, keineswegs harmlos-unproblematischen Phänomen Adel zu reiben, trägt keine Lorbeeren ein, nicht einmal bei den Adeligen selbst. Jessen wählt für Was vom Adel blieb die kleine Form und kommt doch nach 100 Seiten zu dem paradoxal formulierten Ergebnis: „Vom Adel blieb, dass er der Gesellschaft zu fehlen begann, kaum dass er abgetreten war.“ Im Jahr 2018 ausgesprochen, verweist der Satz auf das Epochenjahr ein Säkulum zuvor, das dem Adel in Deutschland und mehr noch in Österreich seine politische Macht endgültig genommen hat. Darüber, wie tot oder lebendig der ‚reale‘ Adel und, davon zu unterscheiden, die Kultur des Adels sei, ist ziemlich müßig. Der historische Verlierer von 1789 hat seitdem noch allerlei Raketenstufen zünden können, hat sich mit Beharrungskraft und nicht selten zu weit gehendem Anpassungsvermögen (siehe die Liaison vieler Adeliger mit dem Nationalsozialismus!) erfolgreich ins 21. Jahrhundert katapultiert. So weit, so gut.

Dass aussterbende und gerade noch vorhandene Spezies ein Stück Kultur bewahren, ist evident. Denkmäler bleiben aber auch über dieses Aussterben hinaus, und Jessen verweist zurecht auf die immensen kulturellen Leistungen, die in Europa im Namen und zum Ruhm des Adels erbracht wurden – meist auf dem Rücken der kleinen Leute, wie etwa die marxistische Adelsforschung zu betonen nicht müde wurde. Dieser Einwand müsste also nicht wiederholt werden, die abendländische Kultur als über weiteste Strecken vom Adel getragene steht für sich. Derweil kulturkritisch die Schöpfungen der „egalitären Demokratie“ rundheraus abzutun mit den Stichworten „Massenquartiere und Basare“ – das kann nicht angehen, das hat insbesondere die bürgerliche Kultur der Moderne nicht verdient.

Überhaupt: das Bürgertum. Jessen nennt seinen Essay im Untertitel eine bürgerliche Betrachtung (hier klingen natürlich Friedrich Nietzsche und Thomas Mann an), doch heißt, von einem bürgerlichen Standpunkt aus zu schreiben, wie er selbst weiß, auf Sand gebaut zu haben, ist das Bürgertum doch vielleicht schon toter als der Adel. Es geht diesem Autor also im Grunde darum, einer kulturellen Formation auf die Spur zu kommen, die sich längst in einem höchst diesseitigen Leben nach dem Tod eingerichtet hat. Jessen gibt sich denn auch als Freund oder besser Komplize so mancher Adeligen zu erkennen, würzt seine Ausführungen mit kleinen Adelsanekdoten, die in Philologen-Manier als Fußnoten verkleidet daherkommen – so viel also zum ‚realen‘ Adel.

Einfach dageblieben zu sein, obwohl er schon weg vom Fenster war – das mag die große Provokation des Adels sein, das Tröstliche und Vorbildliche, das, wie Jessen weiß, das Bürgertum nicht einfach kopieren kann, auch nicht in der Rolle des Dandys. Nicht zufällig bemüht er den ausgesprochen zynisch klingenden, idyllisierenden Vergleich mit den sozial Deklassierten von heute, die sich – Jessen muss das ja wissen – einen Teufel um Leistung scheren. Hier klagt der bürgerliche Renegat: „Die Quelle des Hasses ist das Leistungsideal“ – und sucht den Stallgeruch des Adels. Ein riskantes Spiel, aber eines mit Unterhaltungswert. Dabei ist ihm bewusst, dass er stets vom Ideal des Adels spricht, nicht oder nur anekdotisch von der Empirie. Seine Sympathie gehört dem vermeintlich Typischen, also dem Exzentrischen, Halbseidenen, dem Flirt mit dem Scheitern.

Natürlich ist Jessen nicht der Erste, der auf nonchalante Art die Leistungen der Adelskultur für das 21. Jahrhundert herausstreicht; es sei an Alexander von Schönburgs lässigen Ratgeber Die Kunst des stilvollen Verarmens oder an Asfa-Wossen Assarates Buch Manieren erinnert. Doch ist insbesondere Jessens dezidiert bildungsbürgerlicher Standpunkt eigentümlich, neben Erzählminiaturen und Beobachtungen in kultursoziologischer Absicht fließen literarische Lektüren in die Betrachtung ein – und die Sehnsucht des fleißigen und das Ephemere fürchtenden Bürgers nach Dauer und fragloser Anerkennung, die Lust am Unnützen und Müßigen. Hierauf reduziert, ist der Adel kein Verlierer, sondern beinahe schon wieder Avantgarde.

Da er nur aufgrund seiner soziokulturellen Abgeschlossenheit überleben und nun als idealisierter Gegenstand von bürgerlichen Intellektuellen gerühmt werden kann, verkörpert der Adel gerade kein Zukunftsmodell. Obgleich überall dort, wo Privilegien fortexistieren und Engagement, Mitmenschlichkeit und selbst Ökonomie die zweite Geige spielen, aristokratische Wurzeln stecken mögen, muss man den adeligen Prinzipien der Exklusivität nicht das Wort reden. Allein als Gedankenspielerei hat die Adelskultur auch im Jahr acht nach Guttenberg ihren Reiz nicht verloren.

Titelbild

Jens Jessen: Was vom Adel blieb. Eine bürgerliche Betrachtung.
zu Klampen Verlag, Springe 2018.
101 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783866745803

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