Wenn eine eine Reise tut, dann kann sie was erzählen

Angela Steidele nimmt den Leser mit auf Anne Listers Spuren von Russland bis Aserbaidschan

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1839 brachen Anne Lister und ihre Frau von Yorkshire zu einer Reise nach Russland auf: „Die 36-jährige Ann Walker glaubte, es gehe in einem weiten Bogen über Skandinavien bis nach Moskau und wieder zurück. Die 48-jährige Anne Lister betrachtete Moskau als erste Etappe auf dem Weg nach Teheran, ja Bagdad. Davon erzählte sie ihrer Gefährtin vorerst jedoch nichts.“ Lister hatte schon immer reisen wollen, vor ihrer Beziehung mit der jüngeren Frau fehlten ihr jedoch oft die Mittel. Mehrfach stritten die beiden über die Kosten der Reise, die vor allem von der besser situierten Jüngeren getragen wurden – die Fahrt bis nach Georgien und Aserbaidschan war teuer; Mietkutschen und Bedienstete mussten ebenso bezahlt werden wie Quartiere und Proviant.

Zudem war die Reise beschwerlich und gefährlich – man musste Räuber fürchten, der oft schlecht befestigte Weg führte zuweilen an tiefen Schluchten vorbei und einmal konnten sich die beiden Frauen gerade noch aus ihrer Kutsche befreien, als selbige in einen eiskalten Fluss stürzte. Dennoch hielten sich Lister und Walker wacker – letztere war abenteuerlustig, sie hatte bereits auf einer früheren Reise ohne Rücksicht auf Gesundheit und gesellschaftliche Erwartungen als erste den Vignemale in den Pyrenäen bestiegen, erstere folgte ihr auf dieser Fahrt zwar weniger begeistert, aber treu.

Angela Steidele, die mit ihrer Partnerin Susette auf den Spuren Listers reist, deren Biografie sie 2017 veröffentlichte, reflektiert in Zeitreisen. Vier Frauen, zwei Jahrhunderte, ein Weg ihre eigene Überraschung darüber, dass die beiden Frauen sich eine so weite und anstrengende Reise zutrauten. Zu allen Zeiten seien Frauen doch gepilgert, gewandert und gereist: „Nur vor dem Zerrbild der sittsamen, aufs Haus beschränkten Frau, das ab 1770 konstruiert wurde, erscheint das Reisen von Frauen wie Anne Lister und Ann Walker so spektakulär.“

Die beiden Frauen folgten dem zwischen 1839 und 1843 in Paris erschienenen, sechsteiligen Reiseführer Voyage autour du Caucase von Frédéric Dubois. Angela Steidele wiederum verwebt die Schilderungen Dubois’, die Tagebucheinträge und Briefe Anne Listers und den Reisebericht Karl Kochs, der ebenfalls zwischen 1836 und 1838 den Kaukasus bereist hatte, gekonnt mit Beobachtungen und Erlebnissen während ihrer eigenen Lesereise. Manches hat sich bemerkenswert wenig geändert – so wundert sich die Autorin beispielsweise darüber, „dass Sankt Petersburg noch oder wieder so aussieht wie zu Anne Listers und Ann Walkers Zeit“ –, an manchen Orten scheint die Vergangenheit so präsent, als seien 180 Jahre mit einem Wimpernschlag vergangen. Andere Reiseziele Listers lassen sich kaum wiedererkennen – der Basar in  Tbilissi wurde im 20. Jahrhundert geschlossen, „und die Läden, Häuser und Felsen, die auf keiner historischen Abbildung fehlen, wurden gesprengt, um Platz für eine vier- bis sechsspurige Uferstraße zu schaffen (je nach Interpretation der Autofahrer)“.

Es sind unter anderem diese Beziehungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die den Reisebericht Steideles so amüsant machen. Auch ihr eigener Aufbruch aus der Heimat ist nicht ohne Schwierigkeiten: Schon der Versuch, sich ein Visum für die Reise ausstellen zu lassen, wird zum Abenteuer – die Online-Eingabe ihrer Daten scheitert daran, dass die beiden nachweisen müssen, rückreisewillig zu sein, eine Garantie dafür soll ein Reiseveranstalter ausstellen, der jedoch zunächst einmal nur wortkarg ihre Pässe einkassiert und in einem Koffer verschwinden lässt. 

Auch wenn die Befürchtung, die Ausweispapiere könnten für immer verschwunden sein, sich nicht erfüllt und die Einreise reibungslos funktioniert: Unterwegs kommt es erneut zu Problemen. Die beiden entdecken im Internet einen Sonderzug von Sankt Petersburg nach Moskau, den sie wegen der angenehmeren Abfahrtszeit bis Nowgorod nehmen möchten. Doch wo erhält man Fahrkarten für diese Bahn? Sie werden wie in einem Slapstickfilm von einem Schuppen zum Fahrkartenschalter und wieder zurück geschickt – letztlich nimmt sich ihnen ein Bahnbeamter an, an einem anderen Schalter verkauft man ihnen Tickets für „besonders schöne Plätze“ im Zug bis nach Moskau, die gegenüber dem „normalen“ Nahverkehr mehr als sechsmal so teuer sind. Bei der Fahrkartenkontrolle stellt sich dann auch noch heraus, dass ihnen ein Kinderticket für den überteuerten Preis verkauft wurde. Der Zugchef lässt sie trotzdem mitfahren, und beim Aussteigen macht die Schaffnerin mit ihnen ein Foto: „Am Abend kann sie prustend von diesen zwei dummen Deutschen erzählen, die für die kurze Fahrt von Sankt Petersburg nach Nowgorod das teuerste Schlafwagenabteil nach Moskau gebucht haben.“

Darüber hinaus tragen auch die Bemerkungen der Lebensgefährtin der Autorin zur Kurzweiligkeit des Textes bei: „‚Anne hätte so gern Armenien und Persien gesehen‘“, sagt Steidele einmal. Und ihre Partnerin antwortet lakonisch: „‚Dann fang ich schon mal mit Persisch an‘“.

Lister und Walker reisen nicht als Paar, sondern als Tante und Nichte – Ann galt als Gesellschafterin der etwas älteren Frau. Für zwei gemeinsam reisende Frauen war das Reisen weniger gefährlich als für Männer, liefen sie doch nicht Gefahr, der Spionage verdächtigt zu werden, sondern galten höchstens als spleenig. „Ein Frauenpaar schützte sich gegenseitig, auch vor Nachfragen. Gerade ihre Zweisamkeit sorgte für den nötigen Anstand.“

Auch Steidele und ihre Frau dürfen sich in der Öffentlichkeit nicht als Paar zeigen, legen sogar noch zu Hause ihre Trauringe ab. Die Lesungen und Vorträge über Lister, die Steidele unterwegs in Sankt Petersburg, Moskau und Tbilissi hält, werden nur über geheim gehaltene Mailinglisten beworben und müssen vor Schlägern geschützt werden. Dass die Ehe für alle plötzlich in Deutschland Wirklichkeit geworden ist, erfahren die beiden mitten auf der Wolga: „In der Heimat geschieht Welthistorisches, und wir verpassen es.“

Während die Autorin und ihre Partnerin wieder gesund in der Heimat anlangen, stirbt Lister am „heißen Fieber“, und ihre Mitreisende war gezwungen, die einbalsamierten Überreste auf demselben Weg zurückzutransportieren, auf dem die beiden zum Kaukasus gekommen waren. Über diese Reise ist wenig bekannt, im Gegensatz zu Lister war Walker keine eifrige Diaristin, man kann sich nur vorstellen, wie viel es die Hinterbliebene gekostet haben muss, ihre Frau im Zinksarg über Tbilissi und Moskau zurück nach Yorkshire zu bringen.

Einmal überlegt Steidele, auf einer der mit Graffiti verzierten Felswände der Häuser in Uplisziche handfestere Spuren ihres Besuchs – und eine Erinnerung an ihre Vorgängerinnen – zu hinterlassen, nachdem sie ein verschnörkeltes Schreibschrift-A zu erkennen meint: „Ich könnte hier ‚AL + AW 1840‘ einritzen. Soll ich?“ Der Reisebericht ist vielleicht das literarische Äquivalent dieser Signatur: Spurensuche, Spurenlese und Spurenlegen. Zeitreisen stellt den zweiten Teil einer Trilogie zu biografischem Schreiben dar, die mit Anne Lister. Eine erotische Biografie begonnen wurde und 2019 mit einer Poetik der Biografie schließen soll.

Titelbild

Angela Steidele: Zeitreisen. Vier Frauen, zwei Jahrhunderte, ein Weg.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018.
269 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783957576354

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