Versatzstücke menschlicher Identität

Gerhard Poppenbergs „Herbst der Theorie“ schwingt sich leichtfüßig auf, zur radikalen Vermessung des intellektuellen Menschen nach der Postmoderne zu werden

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man könnte den Blick auf Gerhard Poppenbergs aktuellen Text Herbst der Theorie zum Anlass nehmen, eine Eloge auf die Reihe Fröhliche Wissenschaft des Berliner Verlags Matthes & Seitz anzustimmen. Dessen Credo, Wissenschaft in prägnanter Kürze, subjektiv zuspitzend und versuchsartig darzustellen, sorgt auch und gerade in Poppenbergs Analyse für erfrischende Impulse und – so der Klappentext – „produktive Verunsicherung“. Der pointierte Text, als flirrende Mischung aus theoretischer Analyse, Erfahrungsbericht und literarischem Kommentar, macht die Zuspitzung auf ein zentrales Thema zunächst überaus schwierig. Elementar scheint jedoch die Fragestellung zu sein, welche Relevanz den Geisteswissenschaften in der (Post-)Postmoderne noch eingeräumt werden darf – und vor allem, welche Rolle der Rückgriff auf Geschichte und ein historisches Bewusstsein dabei spielt.

Die Brüche des 20. und 21. Jahrhunderts – Globalisierung und Kolonialismus, der Zivilisationsbruch Ausschwitz, die Radikalität ökonomischer Kapitalisierung – wirken vor dieser Folie entscheidend zurück auf das intellektuelle Bewusstsein der Zeit: Die Postmoderne wird zur „Ära des Zusammenbrechens der Geschichte als des Trägers einer europäischen Wirklichkeit“ und mutiert zum „geschichtsphilosophischen Problem“, was sich darin zeigt, dass die großen historischen Meta-Erzählungen ihre Überzeugungskraft verlieren, das Historische überhaupt zur Disposition steht. Gerade die Idee einer geschichtlichen Kohärenz europäischer Geistesgeschichte, die im Bewusstsein der historischen Sinnorientierung der menschlichen Identität insgesamt steht, wird hochgradig fragwürdig.

Damit stehen auch die Protagonisten dieser humanistisch gebildeten Lebensform, wie etwa Erich Auerbach oder Ernst Robert Curtius, in ihrer Perspektivierung eines geschichtlich übergreifenden Traditionsnarrativs zur Disposition. Poppenberg legt konzise dar, wie diese „Gelehrtenrepublik der Tradition“ gewissermaßen von einer stark am Fragmentarischen interessierten Postmoderne abgelöst wird, „weißes Rauschen“ und „intellektuelle Haltlosigkeit“ zu den neuen Paradigmen des Geisteslebens werden.

Am Beispiel des Romanisten Andreas Kablitz (als „Figur der Reaktion“) zeigt Poppenberg, wie die nostalgische Verklärung und die unkritische Rekonstruktion der Zeit vor der Postmoderne in die Irre führen. Diese „Rettung der Eindeutigkeit“ beweise letztlich nur eine groß angelegte Furcht vor der postmodernen Semantik des Entgrenzten, Widersprüchlichen und Vielfältigen. Auf der Ebene der (literarischen) Theorie zeige sich dies am Festhalten an einer Hermeneutik, die die zweifelsfrei einheitliche Auslegung einer homogenen Textintention beabsichtigt und das textuelle Kraftfeld ästhetischer Multiperspektivität der Postmoderne scheut. Auf der Ebene des gesellschaftlichen Hintergrunds manifestiere sich in Kablitz´ Position – so Poppenberg weiter – ein elaborierter Zuspruch für die vergangene, an Autorität, Ordnung und Regelhaftigkeit ausgerichtete BRD als Macht- und Zwangsgesellschaft zwischen 1945 und 1989. An dieser Stelle eröffnet sich eine subtil eingezogene Meta- und zugleich Anwendungsebene des theoretischen Diskurses: Neben den übergeordneten Reflexionen zum Status des Geschichtlichen in der Gegenwart flechtet Poppenberg die skizzenhaften Analysen von Frank Witzels RAF-Roman (2015) ein: Die Geschichte eines Teenagers, der vor dem Hintergrund der bleiernen und verkrusteten bundesrepublikanischen Wirklichkeit (als „Kontinuität des bürgerlichen Horrors der Normalität“) die RAF erfindet und sich in Freiheit von der Zwanghaftigkeit einer blockierten Gesellschaft emanzipiert, demonstriert die zeitgeschichtlichen Ambivalenzen.

Eine reflektierte und zukunftsorientierte Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach dem Umgang mit der Geschichte, dem Erbe der Gelehrtentradition und den Potenzialen der Literatur muss für Poppenberg hingegen anders als nostalgisch aussehen. Gerade die digitale Realität verweist dabei auf den intellektuellen Handlungsbedarf: Sie mache (auf der Grundlage der medientheoretischen Reflexionen Friedrich Kittlers) sichtbar, wie der menschliche Geist sukzessive durch das Medium ersetzt werde, die Medienpluralität das „Monomedium Buch“ verdränge und damit Grundannahmen des Menschenbildes außer Kraft setze: Schließlich gehe es hier nicht mehr um ein Denken, das sich in Reichweite menschlicher Verfügungsgewalt bewegt, sondern gewissermaßen ausgelagert wurde an technische Medien, die in derart komplexer Weise selbstorganisiert sind, dass der Mensch lediglich – mit seinen Grundkenntnissen dilettierend – danebensteht. Menschlicher Geist würde damit irrelevant und gleichzeitig seiner konstitutiven Freiheit beraubt werden.

Diese Metaproblematik des Digitalen wird gewissermaßen durch den postmodernen Bruch mit historischen Implikationen menschlicher Identitätsstiftung durch Geschichte flankiert und führt in Poppenbergs Text zu einer Neubewertung der Wichtigkeit der Geisteswissenschaften im Rekurs auf die umrissene Gelehrtentradition. Er entlarvt die permanente Zurichtung auf ökonomische Kriterien von Relevanz und Nutzen als fragwürdig – Geisteswissenschaften reagieren auf ein autonomes menschliches Grundbedürfnis der „Erforschung des Willens zum Wissen, Erkennen und Gestalten“ jenseits der Verwertbarkeit. Mit ihnen wahrt der Mensch seine eigene Geschichtlichkeit, stillt das eigene Bedürfnis nach historischer Kontinuität, nach Wissen um eigene narrativ vermittelte Wirkungszusammenhänge und schafft Identität. Dazu öffnet das geisteswissenschaftliche Instrumentarium einen weiten Raum des Nicht-Vertrauten, ermöglicht das methodische Reagieren auf Komplexität, bricht mit Alltäglichkeit, Stabilität und Gewohnheit und opponiert gegen Eindeutigkeit und Autorität. Dieser Zugang ist dabei nicht nur ein wissensbezogener, sondern ermöglicht Erkenntnis und Erfahrung im Nachzeichnen der großen Linien menschlicher Weltverhältnisse.

Was innerhalb dieser Rezension zielgerichtet und plädoyerhaft anmutet, zeigt sich in Poppenbergs ungemein gelehrter und disziplinübergreifend kundiger Analyse deutlich verwinkelter und experimenteller. Sie stellt ein provokantes Gesprächsangebot an die Widersprüche unserer breiten Gegenwart (Hans Ulrich Gumbrecht) dar und entwirft die Geisteswissenschaften und das intellektuelle Bewusstsein insgesamt als Möglichkeitsfelder, auf die offen zutage tretenden Identitätskrisen einer dem Jetzt unterworfenen Gesellschaft produktiv zu reagieren. Sie rückt außerdem eine Perspektive auf den Menschen als kritisches und im wahrsten Sinne selbst-bewusstes (und damit historisches) Wesen ins Zentrum, die im Sog eines affirmativen Konsumkapitalismus verschüttet scheint.

Titelbild

Gerhard Poppenberg: Herbst der Theorie. Erinnerungen an die alte Gelehrtenrepublik Deutschland.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018.
240 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783957573865

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch