Die Scham schreiben

Vom Makel einer anpassenden Analyse – Zu Agnieszka Komorowska: „Scham und Schrift“

Von Klaus BonnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Bonn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Beginn der 2010 erschienenen teils autobiografischen, teils biografischen Studie Mourir de dire la honte des Psychiaters Boris Cyrulnik zum Phänomen der Scham heißt es:

Le honteux aspire à parler, il voudrait bien dire qu’il est prisonnier de son langage muet, du récit qu’il se raconte dans son monde intérieur, mais qu’il ne peut vous dire tant il craint votre regard. Il croit qu’il va mourir de dire. Alors il raconte l’histoire d’un autre qui, comme lui, a connu un fracas incroyable.

Das Streben des Beschämten danach, sein stummes Sprechen zur Sprache zu bringen; die Angst vor dem Blick des Anderen; das Gefühl, sterben zu müssen, wenn denn die Scham zur Sprache gebracht wird, und schließlich eine Verschiebung des Bestrebens auf die Geschichte eines Anderen – Autobiografie oder Autofiktion könnte diese Erzählung des Anderen heißen. Cyrulniks Titel wandelt Jacques Lacans Diktum ab, dass es unmöglich sei, vor Scham zu sterben. Das Subjekt schämt sich nicht, weil es in der Gefangenschaft der Signifikantenkette hin und her gleitet, vielmehr ist die Verschiebung auf die Geschichte eines Anderen eine Hilfe, jenes Gefühl abzumildern, bei allem Theater, das dabei zum Einsatz kommen mag.

In Agnieszka Komorowskas Dissertation Scham und Schrift zur Subjektkonstitution bei Marguerite Duras, Georges-Arthur Goldschmidt und Annie Ernaux findet Cyrulnik keine Erwähnung. Das erstaunt, da sich Komorowska erklärtermaßen mit Beispielen aus der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts befasst und auch die von ihr herangezogene Forschungsliteratur vorrangig dem französischsprachigen Raum entstammt.

Bevor Komorowska je drei Texte von Duras, Goldschmidt und Ernaux einer detaillierten Analyse unterzieht, konkretisiert sie in der Einleitung die Zielsetzung ihrer Arbeit und skizziert im ersten Kapitel verschiedene Schamtheorien und Schreibweisen einer „hontologie“, einen Term, den sie sich bei Lacan borgt. Sie spricht in der Folge von dem Genre einer „hontofiction“: „Unter diesem Begriff werden zwei Schreibweisen verbunden, die die Literatur der Scham kennzeichnen: theatralisches und autobiographisches Schreiben.“ Als Paradigma für ersteres gilt ihr Jean Racines Phèdre, für letzteres Jean-Jacques Rousseaus Confessions. Eine „Semantik der Leiblichkeit der Gefühle“ soll dabei ebenso thematisiert werden wie die Räumlichkeit und Zeitlichkeit der Scham. Im Sinne ihrer Leitthese weist die Autorin das „Auseinandertreten von Sprache und Subjekt“ als „Kennzeichen der écriture der drei Autoren“ aus. Die Theorien, die Komorowska zu Rate zieht, sind in den Disziplinen der Philosophie (Emmanuel Levinas, Jean Paul Sartre, Giorgio Agamben), der Psychoanalyse (Sigmund Freud, Jacques Lacan, Léon Wurmser) und der Soziologie (Norbert Elias, Michel Foucault, Pierre Bourdieu) verortet.

Ausgangspunkt für die Studie ist die so genannte Wiederkehr des Subjekts in den neuen autobiografischen Schreibweisen der 1970er Jahre in Frankreich. Komorowska konstatiert, dass in den von ihr zu untersuchenden Texten das Subjekt in „seiner eigenen Brüchigkeit“ reflektiert werde, und zwar „über das Gefühl der Scham“. Ernaux’ Les Années ist der einzige Text, der ins 21. Jahrhundert hineinreicht. Die ausgewählten Cahiers de la guerre von Duras sind zwar erst posthum erschienen, datieren aber zurück auf Notate aus den Jahren 1943 bis 1949. Insoweit weicht Komorowska von ihrer eigenen Vorgabe ab. Das wäre nicht weiter von Belang, wenn sie zwei andere Werke der Autorin, nämlich den frühen Roman Les impudents (1943) und die späte Schrift Écrire (1993) berücksichtigt hätte, zwei Texte, die schon im Titel das Thema Komorowskas austragen: Scham und Schrift.

Bei allem Respekt für die Fülle des Forschungsmaterials, das Komorowska aufbietet, den für Dissertationen so zweckdienlichen Beleg für Kenntnisreichtum und Belesenheit, bleibt nach der Lektüre doch ein Unbehagen zurück. Der Eindruck entsteht, dass die Autorin nach der Erstellung ihres theoretischen Koordinatensystems aus Philosophie, Psychoanalyse und Soziologie die ausgewählten Texte darin entsprechend ausgelotet und verortet hat. Fragwürdig ist Komorowskas Vorgehensweise einer anpassenden Analyse. Im Goldschmidt gewidmeten Teil heißt es etwa: „Die autoerotische Lust des Kindes an dem eigenen Körper lässt sich vor dem Hintergrund der Psychoanalyse Freuds und Lacans, mit der Goldschmidt bestens vertraut ist, als Variante des Spiegelstadiums (Lacan) bzw. des primären Narzissmus (Freud) lesen.“ Mitnichten wäre der Text als bloßes Vehikel psychoanalytischer Implikationen zu lesen, auch wenn sich sein Autor in der Materie auskennt, so wenig wie der Masochismus der „Schlüssel zur authentischen Ich-Konstitution“ ist. Die Ähnlichkeiten, Analogien, denen Komorowska in ihrer Studie nachspürt, können nicht über die Unterschiede hinwegtäuschen.

Die selbstverständliche Setzung, dass Sprache im Allgemeinen, die Sprache der Literatur Darstellung von Wirklichkeit sei, führt Komorowska dazu, dass Gefühle, zuvorderst das Gefühl der Scham, in Texten „dargestellt“ werde. Dadurch haftet der zur Sprache gekommenen Scham etwas objekthaft Äußerliches an. Nicht aber das Subjekt konstituiert sich, indem es über die Scham schreibt, vielmehr konstituiert die Scham über das Subjekt die Sprache. Mag sein, dass das Szenische des Theaters der Scham bei Racine, von dem eingangs die Rede war, die Analyse der Darstellung durchwirkt und grundiert hat. Die Ausführungen geraten mancherorts vage, wenn Phrasen wie „auf spezifische Weise“, „in gewissem Sinne“ oder Bemerkungen wie die über Ernaux’ Debütroman auftauchen, dass „das Verhältnis von wissenschaftlichem Hintergrund und literarischer Darstellung ähnlich angespannt wie bei Zola“ sei. Ein eigentümlich mechanistisches Vokabular – „Verschaltung von Blick und Begehren“ oder „Scham und Schuld“ werden „verklammert“ – ist Teil eines Philologen-Jargons, der hin und wieder nur noch im eigenen Sud badet.

Im Kapitel über Blick, Scham und Begehren in Duras’ L’Amant kann man lesen: „Das Auftauchen des Dritten initiiert eine Auslöschung. Die Position des Liebhabers wird durchgestrichen und sein Körper, Quelle des Begehrens und der ‘jouissance’, zum Nicht-Ort (‚endroit brulé‘) sowie zur Quelle der Scham.“ Wenig später heißt es: „Die Mutter hingegen wird zum Träger der Scham. Sie muss symbolisch getötet werden, ihre Position wird durchgestrichen und an ihre Stelle die écriture gesetzt.“ Oder in den Schlussbetrachtungen: „Blicksequenzen zwischen zwei oder mehreren Protagonisten werden zurückgeführt auf und eingebettet in Blickdispositive auf makrosozialer Ebene.“

Auffällig sind die zahlreichen Passivkonstruktionen, die sonst stilbildend für Arbeiten aus den Naturwissenschaften sind. Gelegentliche Gallizismen, Grammatikfehler, bei einer Arbeit, die immerhin mit dem Preis für Sprache und Wissenschaft der Universität Mannheim ausgezeichnet worden ist, und die vielen Kommafehler trüben das Lesevergnügen ein. Dass der Name des englischen Autors Richard Swinburne durchweg mit „Swineburne“ wiedergegeben wird, mag als nebensächlich gelten, ist aber doch peinlich.

Ein Fazit könnte lauten: Wer sich einen Überblick über diverse Schamtheorien verschaffen möchte, der lese den ersten Teil des Buches. Wer sich näher mit den Autoren Duras, Goldschmidt und Ernaux beschäftigen möchte, der greife zu den Texten selbst, und wer eine nicht philologische, autobiografisch durchsetzte, erzählerische Studie zum Thema lesen möchte, der versuche es mit Cyrulniks Buch, das auch in deutscher Übersetzung erhältlich ist.

Titelbild

Agnieszka Komorowska: Scham und Schrift. Strategien literarischer Subjektkonstitution bei Duras, Goldschmidt und Ernaux.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2017.
285 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783825363970

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch