Ein unterschätztes Insekt

Warum Sie nach der Lektüre von Peter Geimers „Fliegen“ zweimal überlegen werden, bevor Sie die Fliegenklatsche holen

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der erste Reflex, wenn man das Buch öffnet: Zuschlagen. Auf einer Blankoseite thront das unbeliebte Insekt, und wenn man nicht genau hinsieht, dann hält man die kleine Zeichnung für lebendig – oder eben für ein zwischen den Buchseiten erschlagenes Tierchen. So oder so erregt es Ekel.

Peter Geimers Fliegenporträt möchte ebendiesen Reflex bekämpfen. Liebevoll schildert der Autor die unerwartet reiche Geschichte eines Insekts, das uns vor allem nervt. Allein der Gedanke an dieses Summen! Das klingt nach Tod, riecht nach Kot und erinnert uns an die vielen verlorenen Minuten, wenn wir wieder einmal einer Fliege hinterherjagen mussten, die partout nicht aus dem Fenster fliegen wollte, sondern lieber unzählige Male in Folge gegen die Scheibe prallte. Was manch einer Dummheit nennen würde, nennt Geimer „stoische Unbekümmertheit“.

Von der ersten berühmten Fliege mit Modelkarriere erzählt der Autor bereits zu Beginn. Sie war um 1870 in das Innere der Fotokamera des Architekturfotografen Antonio Beato gelangt und zierte dann so manche menschenleere Ruine, thronte auf den perfekt abgelichteten Zitadellen und setzte sich damit vorzüglich – und vor allem gigantisch neben den klein wirkenden Bauten – in Szene. Eines der ersten animalischen Selfies, wenn man so will. Natürlich ging es der Fliege weniger um Ruhm als vielmehr um die vorzüglich duftende Kollodiumschicht, aber das ist im Rückblick nebensächlich.

Wenn man einer Fliege ins Gesicht schaut, gibt Geimer zu, dann sieht man – wie bei allen Insekten – keinen mimischen Ausdruck, keine Emotionen. Dennoch durfte die Fliege in der langen Geschichte der Menschheit bereits als Filmschauspielerin auftreten, als Statistin in berühmten Vanitas-Gemälden erscheinen sowie als Werbung gegen sich selbst vermarktet werden: „Fliegen sind die schlimmsten Bazillenträger“, heißt es beispielsweise in einer Fliegenfänger-Werbung aus den 1930er Jahren. Darin fällt eine monströse Fliege über ein schlummerndes Baby her. Überhaupt ist das kleine, dünne Buch mit vielen anschaulichen Beispielen der „Fliegengeschichte“ gespickt – und auch, wenn es vor der Lektüre kaum zu glauben ist, dass man diese ekelerregenden Tiere irgendwie liebgewinnen kann, so muss man am Ende zugeben: Es funktioniert.

Die Fliege ist in der Tat seit Jahrhunderten ein Objekt magisch-märchenhafter bis herabwürdigender, schier hasserfüllter Zuschreibungen. Geimer zieht diese historische Linie nach und macht dabei am Beispiel der Fliege deutlich, dass der Fall des Insekts eine große Herausforderung für bisherige und zukünftige tierethische und tiertheoretische, philosophische Diskussionen ist. Jacques Derrida etwa machte stark, man solle den Blick des nicht-menschlichen Tieres endlich einmal erwidern. Allerdings meinte er damit zuvorderst seine Katze. Man kann Kühe, Schweine, Tiger, Gorillas, Fische und Vögel ansehen, und sie schauen zurück. Donna Haraway schloss sich mit Einschränkungen an. Wie aber erwidert man nun den Blick einer Fliege? Wie kommuniziert man mit einem Lebewesen, das sich nicht für einen interessiert? Trotz der riesigen, leistungsstarken Facettenaugen dieses winzigen Geschöpfs fühlen wir uns nicht angesehen – vielleicht zurecht. Doch was fangen wir damit an? Gehen uns Fliegen überhaupt etwas an, wenn wir ihnen so egal sind? Die Fliege stellt Tierphilosoph*innen jedenfalls vor schwierige Aufgaben.

Dabei haben wir den Fliegen viel zu verdanken, so etwa spielten sie, wie Geimer aufzeigt, eine wichtige Rolle bei der Erforschung der Gene. Natürlich stand die Fliege nicht im Kittel hinter dem Mikroskop, doch ohne sie als Forschungsobjekt, das sich nicht selten den Anforderungen des Betriebs widersetzte, hätte so manche Entdeckung auf sich warten lassen. Auch Kunstgeschichte wäre ohne die Fliegen nur halb so spaßig gewesen: So etwa zeigt uns der Autor das Bildnis der heiligen Katharina von Alexandrien und stellt ganz berechtigt die Frage nach dem ontologischen und ikonografischen Status des Insekts im Bild. Ob die Fliege auf dem Bild sitzt oder sich im Bild befinden soll, ist nicht endgültig entscheidbar. Gleiches gilt für das 1442 gemalte Porträt eines Karthäusers. Hier sitzt eine Fliege auf dem gemalten Rahmen des Bildes und ist zugleich Teil desselben. Mit etwas Glück ändert sich in Zukunft auch das Bild, das wir bisher von Fliegen zeichneten – nicht zuletzt aufgrund ihrer erstaunlich vielfältigen Erscheinungsformen, die im Buch dargestellt werden, und ihrer Bedeutung für Klima und Umwelt.

Titelbild

Peter Geimer: Fliegen. Ein Portrait.
Herausgegeben von Judith Schalansky.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018.
140 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783957576170

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