Der große Mexiko-Roman?

Der Drehbuchautor Guillermo Arriaga versucht sich mit „Der Wilde“ an einem mexikanischen Epos

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Guillermo Arriaga gelangte zu internationalem Ruhm als Drehbuchautor der erfolgreichen Filmtrilogie Alejandro Iñarritús, bestehend aus Amores Perros, 21 Gramm sowie Babel, mit der Iñarritú wiederum seinen Ruf als Ausnahmeregisseur erlangte. Doch längst reüssiert Arriaga auch als Schriftsteller; drei Romane hat er bereits publiziert, sein vierter, Der Wilde, wird vom deutschen Verlag als der „große Mexiko-Roman“, auf den offensichtlich alle gewartet haben, vermarktet. Dies verleitet natürlich Journalisten dazu, sich genau diese Frage zu stellen: Ist dies der „große Mexiko-Roman“, der uns versprochen wird? Während die Süddeutsche Zeitung diese im Grunde alberne Frage mit „eher ja“ beantwortet, sollte man sich lieber zwei Dinge fragen. Erstens: Wie können wir Deutschen ohne große Kenntnisse (in Ermangelung von genügend Übersetzungen) der mexikanischen Gegenwartsliteratur der letzten Jahrzehnte überhaupt mitreden? Und zweitens: Ist dieser „große Mexiko-Roman“ nicht bereits von einem exilierten Chilenen vor mittlerweile genau 20 Jahren geschrieben worden?

Der weiteren Spurensuche hilft der gütige Zufall, dass zeitgleich zum Erscheinen von Arriagas epischem Roman, der die späten 60er und frühen 70er Jahre in Mexico D.F. behandelt, der Film des anderen berühmten mexikanischen Regisseurs, Alfonso Cuarón, erscheint, welcher den Titel Roma trägt und zwar erst wenig später, 1970, einsetzt, aber im Großen und Ganzen den gleichen Zeitraum abdeckt. Das gleichzeitige Lesen und Schauen ergänzt sich im Übrigen insofern perfekt, als dass viele bewusst gesetzte Lücken bei Cuarón von der Lektüre des deutlich geschwätzigeren Romans Arriagas gefüllt werden; vor allem der in beiden Werken zentrale Konflikt der Protagonisten mit rechten paramilitärischen Vereinigungen.

Während aber Roma ein äußerst kunstvoll gestricktes Schwarz-Weiß-Porträt einer verlorenen Kindheit ist, setzt Der Wilde auf zahlreiche Knalleffekte und die in Arriagas Drehbüchern bewährte Form des Erzählens verschiedener zunächst unvereinbarer Geschichten sowie des Ineinandergreifens verschiedener zeitlicher Ebenen, das zunächst den Anschein von Komplexität vermittelt, doch im Laufe des Plots immer kongruenter und damit leider auch banaler wird.

Der Wilde handelt in erster Linie von Juan Guillermo, dessen Bruder Carlos – ein immens erfolgreicher Drogendealer – von einer Vereinigung radikaler katholischer Jugendlicher ermordet wird, weil er ‚die Jugend vergiftet‘. Die korrupte Polizei und überhaupt der ganze Staatsapparat haben nicht nur zugeschaut, sondern tatkräftig mitgeholfen. Der 16-jährige Juan Guillermo sinnt nun auf Rache, zumal seine Eltern wenige Jahre nach Carlos‘ Tod voller Trauer Selbstmord begangen haben.

Gleichzeitig bekommen wir die Geschichte eines Wolfs erzählt, der von einem Inuit zunächst gejagt, dann aber doch nicht getötet, sondern gesundgepflegt wird. Im letzten Drittel des Buchs werden sich diese beiden Plots immer mehr aufeinander zubewegen, bis sie sich auf den letzten, ermüdenden 200 Seiten miteinander verbinden. Zugegeben: Die Geschichte um Carlos‘ Drogendeals und Juan Guillermos Jugenderlebnisse sind spannend und rasant erzählt. Nicht nur jagt ein Erlebnis das nächste – wie in jedem guten Kino-Thriller –, sondern Arriaga setzt auf den ersten rund 300 Seiten geschickt das Puzzle um Carlos‘ Tod, die (wahrlich angsteinflößenden) radikalen Katholiken, seine Geliebte Chelo und auch den Tod seiner Eltern zusammen. Die manchmal zwischen die kurzen Kapitel gewobenen Sprachspiele sind etwas mühsam, weil in ihrer Bedeutung durchschaubar, doch letztlich funktioniert das erste Drittel sehr gut.

Leider nimmt die Geschichte um die Wolfsjagd im Norden Kanadas immer mehr Raum ein und wird auch immer unglaubwürdiger. Gut, wahrscheinlich soll diese eine Art archaisches Märchen darstellen, das dem Zuschauer den Hauptplot noch einmal auf einer symbolischen Ebene serviert, aber letztlich verliert sich Arriaga hier zunehmend in Redundanzen und absurden Wendungen. Das Schwächste am Roman ist jedoch das Ende, das sich, wie erwähnt, auf 200 Seiten dahinschleppt; vielleicht ist man dann doch zu sehr die Filmästhetik gewöhnt und erwartet eine letzte überraschende Wendung statt dem nicht enden wollenden Beschwören einer heil gewordenen Welt, die all den zuvor erlebten Schmerz Juan Guillermos ablösen wird.

Der große Mexiko-Roman ist Der Wilde jedenfalls nicht. Man achte nur einmal auf die Subtilität, mit der Alfonso Cuarón in Roma wie nebenbei den Subplot um die paramilitärischen Gruppierungen einfließen lässt, indem er stoisch auf der Perspektive seiner unaufgeklärten Hauptfigur beharrt, während der Ich-Erzähler Juan Guillermo zwar auch erst nicht weiß, was die sogenannten „guten Jungs“ im Schilde führen, aber dank der zurückschauenden Erzählweise dem Leser nach und nach alles erklären kann – und dabei zunehmend plakativ wird. So lernt man sicherlich ein paar Dinge über diese für Mexiko prägende Zeit, aber im Grunde sind sie angesichts des rasanten Plots (und der seltsamen Wolfs-Symbolik) eher zweitrangig. Wie gesagt: Wer wirklich ein episches Porträt jener Zeit in D.F. gewinnen möchte, der lese Roberto Bolaños Die wilden Detektive, den wahrhaft großen Mexiko-Roman.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Guillermo Arriaga: Der Wilde. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Matthias Strobel.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018.
746 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783608961775

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch