Unbeirrt irre

„Die Schneiderin und der Wind“ und „Die Prinzessin Primavera“ sind typisch César Aira: unverschämt nüchterne Exzesse

Von Sarah MurrenhoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sarah Murrenhoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

César Aira. Zuerst kommt er ganz harmlos daher. Klare Sprache, wohl überlegte Wörter, wohlgeformte Sätze, Punkte, wo man Punkte erwartet. „Auf einer paradiesischen Insel vor der Küste Panamas lebte in einem prächtigen Palast aus weißem Marmor die Prinzessin Primavera (die man auch das Fräulein Frühling nannte).“ So beginnt der im Jahr 2000 verfasste Roman Die Prinzessin Primavera. Aha, denkt man sich: ein Märchen.

Doch da kennt man Aira schlecht. Diesen verrückten Argentinier, der als Person so schüchtern und introvertiert wirkt, der in seinem eigenen Land keine Interviews gibt, der bewusst kein Star sein will, der sich in Cafés in Buenos Aires setzt und schreibt und schreibt und schreibt. Ganz langsam, Satz für Satz, jeden Tag eine Seite. Bei seinen kurzen Romanen macht das drei Bücher pro Jahr. Im Alter von 69 Jahren kommt der Autor damit auf inzwischen sage und schreibe 100 veröffentlichte Titel.

Aira schreibt einfach vor sich hin. Unbeirrt. Beim Lesen hingegen sollte man sich besser anschnallen. Denn was als erwartbares Märchen daherkommt, mit genussvoll ausgeschmückten Detailbeschreibungen des Palastes, des Hofgartens, der Tüllkleider und der ewig frühlingshaften Insel, das nimmt schon bald eine zumindest verwunderliche Abzweigung. Bei genauerem Hinsehen ist die Prinzessin keine Prinzessin, wie sie im Buche steht. Nein, sie ist eigentlich sehr sparsam und von fast kleinbürgerlicher Gewissenhaftigkeit. Und sie verdient sich ihr Geld mit dem Übersetzen von Büchern, genauer gesagt, mit dem Übersetzen von Groschenromanen – für panamaische Piratenverlage, die das Urheberrecht missachten.

Ohne es zu gemerkt zu haben, befindet sich die Leserin plötzlich in einem seitenlangen Diskurs über die Wahrhaftigkeit von Lesern von Schundromanen im Gegensatz zu den Lesern von Klassikern und sogenannter „guter Literatur“. Über diejenigen, die aus purer Lust lesen und nicht zum Zweck, in irgendeiner Form zu glänzen. Während man noch an Airas Worten hängt und diesen Exkurs achselzuckend verschlingt, hat die Lektüre längst eine ganz andere, bizarre Wendung genommen.

Auf einmal folgt der Leser nicht mehr der Prinzessin, sondern Protagonisten wie dem General Winter, ihrem Erzfeind, oder dessen obersten Leutnant, einem aggressiven, aber feigen, umherrennenden Tannenbäumchen. Hatte man vorher noch Gelegenheit, sich zu wundern, ergibt man sich spätestens jetzt den Kapriolen des argentinischen Autors. Eine Klavier spielende batteriebetriebene Mumie, ein sprechendes Speiseeis, aus unerklärlichen Gründen lebensgefährlich. Ah ja. So schnell, wie es aufgetaucht ist, ist es auch schon wieder weg. Als Leserin befindet man sich da schon längst in einer anderen Realität.

Aber man ergibt sich. Denn wenn überhaupt etwas gewiss ist bei Aira, dann das: Er setzt immer noch einen oben drauf – selbst wenn man denkt, es geht nicht mehr. Und: Er kommt damit durch. Satz für Satz schraubt er sich in immer schwindelerregendere Absurditäten. Schamlos erschafft er Welten wie Seifenblasen, kostet sie genüsslich aus, immer bunter, immer größer – und wenn es ihm beliebt, lässt er sie platzen. Aber selbst dann steht Aira nicht vor dem Nichts: Es entsteht eine neue Blase und wieder eine neue. Er ist ein Meister der Improvisation, bei Aira gibt es nur die Flucht nach vorn.

Bei Die Schneiderin und der Wind, 1991 entstanden, und gleichzeitig mit Die Prinzessin Primavera in der „Bibliothek César Aira“ bei Matthes & Seitz auf Deutsch erschienen, nimmt die Lektüre von Anfang so viel Fahrt auf, dass man beim Lesen aufpassen muss, nicht aus der nächsten Kurve zu fliegen – und Kurven gibt es viele.

Die Handlung beginnt mit einem Kind, das wie aus dem Nichts beim Spielen von einem leeren Lastwagenanhänger verschluckt wird. Seine Mutter, eine „Näherin ohne Geschmack, aber von unendlicher Fingerfertigkeit“ glaubt es entführt und macht sich Hals über Kopf auf eine Reise in die patagonische Wildnis. Was sie nicht weiß, ist, welche halsbrecherischen Ausmaße die Geschichte noch nehmen wird, wie viele Figuren ihr hetzjagdartig folgen werden – womöglich, ohne ihr jemals wieder zu begegnen –, welche Monster, Labyrinthe und skurrilen Erfindungen geboren werden und dass plötzlich ein Wirbelwind auftaucht, der ihr zu allem Überfluss auch noch gesteht, dass er in sie verliebt ist.

Dabei sind es nicht die Charaktere, die weitertragen. Es ist dieser unfassbare Gegensatz zwischen abstrusester Handlung und einer ruhigen, bisweilen unverschämt distanzierten Sprache, bei der jedes Wort zu einer neuen Überraschung führen kann. Man hält es nicht für möglich, aber zack, plötzlich steht es da: ein mit einem Chrysler-Motor ausgestattetes Riesengürteltier, das fortan als „Paläomobil“ mit größter Selbstverständlichkeit ab und zu durch die Geschichte kreuzt. Als Leserin lässt man sich in dieses Universum saugen, springt lustvoll von einem Satz zum nächsten. Man erwartet die Überraschung und ist trotzdem immer wieder aufs Neue entgeistert. Denn dieser Aira ist irre. Irre gut.

Titelbild

César Aira: Die Schneiderin und der Wind. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Christian Hansen.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
144 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783957574541

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Titelbild

César Aira: Die Prinzessin Primavera. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Christian Hansen.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
128 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783957574558

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