Ein Denkmal für die Toten, ein Denkmal für die Erinnerung

In „Nach dem Gedächtnis“ schreibt Maria Stepanova die Geschichte ihrer Familie

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es scheint mitunter, als blicke die zeitgenössische russische Literatur entweder zurück in die Geschichte oder nach vorne in die Zukunft. Nur mit der Aktualität will sie sich nicht so recht befassen. Richtet sich das Interesse auf das Künftige, so haben wir es meist mit – sozialen und politischen – Dystopien zu tun. Wendet sich der Blick hingegen der Vergangenheit zu, dann lassen sich zwei Tendenzen ausmachen, die freilich auch zusammenfinden können: Zum einen sind dies die historischen Romane, zum anderen die Familiengeschichten. Letztere können mehr oder weniger fiktionalisiert ausfallen, wie dies etwa die Romane Ljudmila Ulitzkajas beweisen.

Es gibt aber auch Familiengeschichten, die weniger einen literarischen, sondern vielmehr einen dokumentarischen Anspruch verfolgen. Hier handelt es sich dann um vorwiegend an Fakten ausgerichtete Spurensuchen nach den eigenen Wurzeln und Ahnen. Auch dies ist eine allgemein bekannte Gattung und bedarf daher keiner näheren Erläuterung. Als aktuelles Beispiel aus Russland mag an dieser Stelle Die Hände meines Vaters. Eine russische Familiengeschichte (2017) dienen. Darin berichtet die Germanistin und Menschenrechtsaktivistin Irina Scherbakowa, wie ihre Vorfahren das stürmische 20. Jahrhundert mit seinen Pogromen und Kriegen, mit der Revolution und dem Stalinschen Terror überlebt haben.

Maria Stepanova schreibt sich nun mit ihrem Buch Nach dem Gedächtnis (2018) in diese Tradition der Familiengeschichten ein, geht aber zugleich ihre eigenen Wege. Mit Scherbakowa hat sie die Herangehensweise gemein: Auch Stepanova setzt sich zunächst zum Ziel, die Geschichte ihrer jüdischen Vorfahren zu rekonstruieren und nachzuerzählen. Sie sind erstaunlicherweise ebenfalls fast alle den zahlreichen Katastrophen entkommen. Was Stepanovas Buch jedoch vor allem auszeichnet, ist seine zweite Stoßrichtung: Die Autorin reflektiert nämlich stets auch über das Erinnern an und für sich, über seine Möglichkeiten und Grenzen, seine Chancen und Gefahren. Das beginnt schon damit, dass viele von Stepanovas Vorfahren ganz bewusst im Halbschatten der großen Geschichte verblieben sind. Die Autorin nennt sie „Untermieter der Geschichte“ – sie waren eben nicht deren Protagonisten. Es war dies eine Strategie, um das überall drohende Unglück zu überstehen. Stepanova setzt hier an: Ist es überhaupt moralisch vertretbar, solche Menschen dem Vergessen zu entreißen? Haben die Toten noch irgendwelche Rechte? Wollen sie nicht lieber „unerinnert“ bleiben? Muss man in seinem Leben eigentlich Spuren hinterlassen? Solche und ähnliche Fragen werden von nun an Stepanovas Erinnerungsprojekt ständig begleiten.

Die Autorin begibt sich also auf mehrfache Reisen, um ihre Familiengeschichte zu erkunden und nach den Toten zu suchen. Sie streift über Friedhöfe, führt Gespräche, liest alte Briefwechsel, studiert Fotos und taucht in die Tiefen der Museen und Archive ein. Sie befragt Gegenstände wie Möbel oder Porzellanfiguren nach ihren Geschichten. All das führt sie durch halb Russland, nach Potschinki bei Nischni Nowgorod, nach Chabarowsk, Saratow, ins frühere Leningrad, aber auch ins Ausland, nach Montpellier, Paris, Venedig, Cherson, Odessa und in die Schweiz. Daneben versenkt sich Stepanova in philosophische Texte, analysiert Fotoprojekte von Künstlern, referiert ihre weitläufige Lektüre, betreibt eine Archäologie der Alltagsgegenstände.

Daher ist auch Stepanovas Buch vieles zugleich: Es ist in der Tat eine Familienchronik – soweit dies die nicht allzu üppig vorhandenen Quellen überhaupt zulassen. Es enthält überdies philosophische Überlegungen, Literatur- und Kulturkritik. Stellenweise verdichtet es sich zu kurzen Essays, dann wieder könnte man von „Mikrohistorie“ sprechen. Nach dem Gedächtnis changiert ständig zwischen den Gattungen wie auch zwischen verschiedenen Themen: Es nimmt hie und da einen Faden auf, um ihn gleich darauf fallen zu lassen. Ebenso tauchen Figuren auf, verschwinden wieder und gelangen bald erneut ins Blickfeld. Manchmal spitzt die Autorin ihre Gedankengänge aphoristisch zu, dann wieder entwickelt sie vor unseren Augen eine Allegorie. Alles in allem ist Nach dem Gedächtnis in erster Linie ein Buch, das nach den Möglichkeiten des Erinnerns fragt und dies im gleichen Atemzug in der Praxis überprüft. Es versteht sich womöglich von selbst, dass Stepanova dabei immer nur vorsichtig tastend und keineswegs chronologisch vorgeht. Sie wirft Fragen auf und prüft mögliche Antworten, die jedoch provisorisch bleiben müssen. Eine systematische Theorie des Erinnerns kann daraus nicht entstehen. Aber das entsprach wohl auch nicht Stepanovas Absicht.

Nur ein Roman, wie der Untertitel der deutschen Ausgabe und manche Kritiker glauben machen wollen, ist Nach dem Gedächtnis nicht. Im russischen Original hat die Autorin den Begriff „romans“ als Gattungsbezeichnung verwendet. Das meint eine Romanze im zweifachen Sinn: eine Liebesgeschichte, aber auch ein musikalisches Genre, das in Russland sehr populär ist. Beides öffnet einen breiten Spielraum für Interpretationen, was der Autorin durchaus entgegenkommen dürfte. So kann die Liebe auf die Familie bezogen werden wie auch auf das Erinnern oder die Historiografie. Das musikalische Element kann die Sprache in den Fokus des Interesses rücken. Es kann sich darüber hinaus auf die Struktur des Erinnerns und letztlich auf das Resultat beziehen, wie es schließlich zwischen zwei Buchdeckeln vor uns liegt. Der deutsche Klappentext spricht im Übrigen gar von einem neuen Genre, nämlich dem „Metaroman“. Das ist stark übertrieben. Stepanova wäre hier bei Weitem nicht die erste. Es reicht, in diesem Zusammenhang an Anna Achmatowas Poem ohne Held (1940–1962) zu erinnern: Die Dichterin hat in diesem epochalen Werk zugleich das Petersburg von 1913 vergegenwärtigt wie auch über den Prozess des Erinnerns an sich nachgedacht. Ihrem Text hatte Achmatowas ein Motto vorangestellt, das sich als Inschrift im Wappen des „Hauses an der Fontanka“ findet, wo sie viele Jahre gelebt hat: „Deus conservat omnia“ ­– „Gott bewahrt alles auf“. Es ist gewiss kein Zufall, dass Stepanova in ihrem Buch gerade diesen Wahlspruch zitiert.

Eine wichtige Dimension von Nach dem Gedächtnis könnte einem deutschsprachigen Publikum entgehen, wenn es mit den aktuellen Verhältnissen in Russland wenig vertraut ist: Das Erinnern ist in Russland derzeit ein höchst politisches Unterfangen. Von Seiten der Herrschenden wird der Versuch unternommen, staatlich zu verordnen, welche Ereignisse aus der eigenen nationalen Geschichte erinnert werden dürfen und wie dies zu geschehen hat. Damit soll die Gegenwart erklärt und legitimiert und die Zukunft vorgespurt werden. Das wirkt sich auf die Geschichtslehrbücher in den Schulen aus und hat Folgen bis hin zu Forschung und Lehre an den Hochschulen. Beim Thema Erinnerung ist also größte Vorsicht geboten: Nicht nur weil es gefährlich sein kann, sondern auch, weil „Geschichte“ zunehmend manipuliert wird. Maria Stepanova weiß selbstverständlich um diese Problematik. Gerade deshalb will und kann sie in ihrem Buch keine endgültigen Antworten auf die vielen Fragen geben. Wie eine Jägerin verfolgt sie ihre Beute, treibt sie in die Enge, tastet sich an sie heran, umkreist sie: Einfangen kann und will sie die Vergangenheit hingegen nicht.

Die Lektüre von Nach dem Gedächtnis lohnt sich, auch wenn sie nicht immer einfach ist. Bisweilen sind Maria Stepanovas Reflexionen erhellend und äußerst anregend, dann mitunter langatmig und ermüdend. Zuweilen ist man ein wenig ratlos und geneigt, ein paar Seiten zu überspringen. Manchmal bleibt man bei einem Gedankengang begeistert hängen, dann wieder ärgert man sich doch über die etwas dünne Faktenlage zur Familie: In so einem Moment entsteht der vielleicht ja unberechtigte Verdacht, dass hier mit Hilfe der zahlreichen Abschweifungen versucht wird, den Mangel an Dokumenten und Quellen zu den vorangegangenen Generationen zu überdecken.

Jemand hat einmal gesagt: „Nie sind wir kreativer, als wenn es um unsere eigene Biografie geht“. Wenn man es von dieser Seite betrachtet, dann muss man Maria Stepanovas essayistisches Projekt auf jeden Fall begrüßen: Die Autorin zeigt ja gerade auf, wie diese „Kreativität“ funktioniert und was sie bewirken kann, wo sie Potenzial hat, wo aber auch die Fallstricke liegen. Sie habe ein Denkmal für ihre Vorfahren errichten wollen, dafür sorgen wollen, „dass sie sich nicht auflösen, unerwähnt und unerinnert“, schreibt Stepanova. Doch sei es eben anders gekommen: Ihr Buch handle davon, „wie Erinnerung funktioniert und was sie von mir will.“ Stepanova bleibt dem Erinnern gegenüber skeptisch. Lesenswert ist daher vor allem, wie die Autorin ihren Argwohn wort- und gedankenreich zum Ausdruck bringt.

Titelbild

Maria Stepanova: Nach dem Gedächtnis.
Übersetzt aus dem Russischen von Olga Radetzkaja.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
527 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428290

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