Die Neunziger hautnah

In „Erfolgsroman“ erzählt Gerhard Henschel detailreich und unterhaltsam vom Weg Martin Schlossers von der friesischen Provinz nach Berlin

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Erfolgsroman legt Gerhard Henschel nun bereits den achten Teil seiner Martin-Schlosser-Chronik vor. Vor 14 Jahren hatte er das autobiografische Mammutprojekt mit dem Kindheitsroman begonnen, in dem er sein Geburtsjahr 1962 beschrieb. Inzwischen ist er, nach Jugend-, Liebes-, Abenteuer-, Bildungs-, Künstler- und Arbeiterroman, beim besagten Erfolgsroman angekommen – und es ist noch lange kein Ende in Sicht, denn damit ist er gerade mal in den 1990er Jahren angelangt.

Im jüngsten Teil der Chronik begleitet der Leser erneut Henschels Alter Ego Martin Schlosser auf seinem Lebensweg, diesmal geht es von der friesischen Provinz in die Hauptstadt Berlin. Für jemanden, der Henschel nicht kennt, mag es auf den ersten Blick verwundern, dass der 600-Seiten-Wälzer gerade einmal eine erzählte Zeit von anderthalb Jahren, nämlich von 1990 bis zum 28.4.1992, dem 30. Geburtstag Marin Schlossers, umfasst. Doch wer bereits Henschel-affin ist, weiß, dass kein Ereignis zu klein, keine Lektüre zu unbedeutend und keine Korrespondenz zu profan ist, um nicht mit viel Ironie, politischem Scharfblick und Spaß am alltäglichen Wahnsinn minutiös erzählt zu werden. So gelingt es dem Autor in geradezu unnachahmlicher Manier, das Geschehen der Zeitgeschichte auf das Engste mit dem Alltag seines Protagonisten zu verweben, sodass man sich in einem schillernden Kaleidoskop der 1990er Jahre wiederzufinden glaubt. Die Hintergrundmusik zu all den großen und kleinen Ereignissen wie Mauerfall und Wiedervereinigung, Putsch in Moskau oder Jugoslawienkrieg liefert natürlich Bob Dylan, schließlich ist Martin Schlosser bekennender Fan, der stets auf der Suche nach neuen abgedrehten Bootlegs des Meisters ist.

Während es Truman Capote in Die Grasharfe vermag, einen ganze Entwicklungsphase seines Protagonisten in einem brillanten Satz zusammenzufassen – „Ich war elf, und später wurde ich sechzehn. Verdienste erwarb ich mir keine, aber das waren die wunderbaren Jahre“ –, schwelgt Henschel förmlich in Details aus dem Leben seines fiktiven Alter Ego. Das reicht vom Malefizspiel mit der Oma, den Aldi-Einkäufen für den gesundheitlich wie seelisch angeschlagenen Vater bis hin zu absurden Recherche-Reisen auf Jonglierfestivals und Atheistenkongresse. Schlosser wohnt 1990 immer noch immer in Heidmühle und kümmert sich liebevoll um „Oma Jever“. Natürlich muss er weiterhin kellnern, um die Miete zahlen zu können. Doch gleichwohl tun sich große Dinge in seinem Leben: Nicht nur, dass die Auftragslage besser wird und die moderne Technik in Form eines Computers Einzug in sein Leben hält – auch in Liebesdingen betritt er Neuland. Nach einem belanglosen Tantra-Intermezzo lernt Schlosser durch ein selbstverfasstes Preisausschreiben die ebenso lustige wie blitzgescheite Anglistikstudentin Kathrin Passig kennen.

Wem der Name bekannt vorkommt, der irrt nicht. Es handelt sich um die spätere Trägerin des Ingeborg-Bachmann-Preises, mit der Henschel gemeinsam Bob Dylans Autobiografie Chronicles übersetzt hat. Dass Passig, wie viele andere Weggefährten, Kollegen und Freunde von Henschel, so etwa Kurt Scheel, Wiglaf Droste oder Michael und Katharina Rutschky mit Klarnamen in die Geschichte aufgenommen werden, mag den Eindruck aufkommen lassen, dass Henschel einfach eins zu eins eigenes Erlebtes niedergeschrieben hat. Das würde dem Autor aber nicht gerecht werden, denn bei aller tagebuchartigen Unverbundenheit der Texte ist es doch gerade seine eulenspiegelhaft überspitzte Verknüpfung von Weltgeschehen und Alltagserlebnissen, die neben seinem sensiblen Umgang mit Sprache sein Können als Romancier ausmacht.

Dabei lässt er Schlosser oft treffgenau den Finger in die Wunden von Zeitgeist und Politik der 1990er legen und deckt quasi im Vorübergehen die heuchlerische Haltung auf, die sich mitunter hinter Gutmenschentum und Political Correctness verbirgt. Dennoch nerven die reichlich selbstgefälligen, in ihrer Rigorosität pubertär anmutenden Urteile des Jungautors Schlosser, so etwa zu „Dissidentenkitsch“ von Wolf Biermann und Bärbel Bohley, in ihrer Borniertheit zeitweise ein wenig. Da bleibt nur die Hoffnung, dass Schlosser im Lauf seiner Entwicklung zu etwas differenzierteren Ansichten gelangt.

Nichtdestotrotz macht das Buch Spaß, denn es ist gleichzeitig übervoll, detailversessen und nervig – aber eben auch humorig, geistreich und sprachlich virtuos geschrieben. Das Praktische an der chronologischen Erzählweise des Wälzers ist dabei, dass man jederzeit, wenn man sich über Schlosser ärgert oder bei seiner Korrespondenz mit Redaktionen langweilt, ein paar Seiten vorblättern kann, ohne etwas zu verpassen oder gar den Faden zu verlieren.

Minutiös erleben wir also mit, was Schlossers Oma kocht, wann er neue Schuhe braucht und wie die Besuche bei seinem Vater ablaufen. Aber auch die emotionalen Enttäuschungen, die sein Liebesleben für ihn bereithält und die zahlreichen Probleme bei der Wohnungssuche in Berlin erfahren wir so genau, als wären wir selbst dabei gewesen. Am Ende der prall gefüllten 600 Seiten – so viel sei schon vorweggenommen – lässt es Schlosser an seinem 30. Geburtstag in Berlin gewaltig krachen. Wie es danach weitergeht? Das werden wir wohl bald in Band 9 hören.

Titelbild

Gerhard Henschel: Erfolgsroman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2018.
602 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783455003772

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