Ein Multitalent, aber vor allem ein radikaler Theaterregisseur und Autor

Zum 75. Geburtstag von Einar Schleef

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es hat nur zwei Genies in Deutschland nach dem Krieg gegeben, im Westen Faßbinder, im Osten Schleef“. Mit diesen Worten hatte die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek den Regisseur, Bühnenbildner und Schriftsteller Einar Schleef kurz nach seinem frühen Tod am 21. Juli 2001 in einem Nachruf gewürdigt. „Er ist aus der DDR weggegangen, aber nicht hinausgekommen. Da hat ihm schon das Herz brechen müssen, damit er aus sich herauskommen konnte“, so Jelinek weiter. Und tatsächlich, Schleef war in der DDR lange Zeit nur Insidern bekannt. Selbst in seiner Geburtsstadt Sangerhausen wusste kaum jemand mit seinem Namen etwas anzufangen. Das änderte sich erst nach der politischen Wende von 1989/90, vor allem mit der Herausgabe seiner Werke im Suhrkamp Verlag. Doch soweit sind wir noch nicht.

Einar Wilhelm Heinrich Schleef wurde am 17. Januar 1944 als zweiter Sohn des Architekten Wilhelm Schleef in Sangerhausen geboren, eine Kreisstadt am Südrand des Harzes, die jahrhundertelang vom Kupferbergbau geprägt war, heute dagegen von einer der höchsten Arbeitslosenquoten in Deutschland. Über Schleefs Biografie sind wir bestens unterrichtet, schließlich führte er von 1953 bis an sein Lebensende ausführlich Tagebuch, das in fünf Bänden (2004 bis 2009) bei Suhrkamp erschien. Das Tagebuch ist kein überraschender Fund unter nachgelassenen Papieren, kein jugendliches Anfänger-Fragment, das nie für eine Veröffentlichung bestimmt war, nein, es ist eines der Hauptwerke des Multitalents Einar Schleef, der nicht nur Regisseur, Bühnenbildner und Schriftsteller, sondern auch Maler, Fotograf, Grafiker und Schauspieler war.

„Auf der Straße Panzer. Vor dem Gaswerk, auf dem Bahnhof, vor der Post, auf dem Marktplatz, an den Ausfallstraßen, vor der Maschinenfabrik, vor dem Fahrradwerk MIFA, auf dem Schacht. In unserer Straße. Überall Panzer.“ So beginnt der nicht einmal zehnjährige Einar Schleef sein Tagebuch. Es ist der 17. Juni 1953 und der Autor ist sich nicht sicher, ob er diese frühen Aufzeichnungen später noch einmal überarbeitet hat.

Einar ist Schüler der Sangerhäuser Erweiterten Oberschule „Geschwister Scholl“ („mit dem Eintreten begann die Front“), geht häufig ins Kino, hört heimlich den Freiheitssender, macht keine Hausaufgaben, erzählt mit den Mädchen dummes Zeug – also eigentlich ein ganz normaler Pennäler. Doch daneben findet er in der Literatur Zuflucht, liest Bertolt Brecht und heftet Gedichte unter falschem Namen an die Wandzeitung. Die Eltern spionieren ihm nach, aber er bringt zu deren Besänftigung gute Zeugnisse nach Hause: „Ich habe solche Angst vor dem Morgen und der Wahrheit. Es ist so schrecklich ständig zu lügen … du darfst nie dem anderen alles sagen, von der Hälfte ein Viertel, von dem Viertel nur den leisesten Anhauch.“ Die Mutter, der Schleef später seinen zweibändigen Mammut-Roman Gertrud widmet, ist die zentrale Person in seinem Leben und obwohl mit dem Sohn ständig im Streit, wird sie später seine Werke vor staatlichem Zugriff im Kohlenkeller verstecken.

Wie im späteren Leben ist Schleef schon als Jugendlicher ein Außenseiter. Er malt, er stottert, er ignoriert die Schule – er ist einfach „Der Schleef“. Es ist die alte Geschichte: Ein begabtes Kind formt sich selbst gegen den Widerstand der Eltern und Lehrer zum Künstler. In seinen Tagebuchaufzeichnungen legt er Schicht für Schicht seine eigenwillige Jugendzeit frei: den Schulalltag, den familiären Terror, die Mühen der 1950er Jahre in einer Kreisstadt und die Zweifel an sich selbst: „Was ist das Leben? Ich weiß es nicht.“

Im Sommer 1964 legt er das Abitur ab, im Zeugnis steht: „Einar ist fleißig. Er zeigt ein ausgeprägtes Maltalent“. Danach beginnt er an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee Malerei zu studieren. Bereits nach einem halben Jahr wird er wegen einer angeblichen Professorenbeleidigung exmatrikuliert. Zweieinhalb Jahre muss er sich nun „in der Produktion bewähren“, unter anderem beim Fernsehfunk und der Comic-Zeitschrift Mosaik. Im Herbst 1967 erhält er wieder eine Zulassung zum Studium, dieses Mal im Fach Bühnenbild.

Im Februar 1971 wird er als Meisterschüler bei Karl Appen an der Deutschen Akademie zu Berlin aufgenommen. Appen galt als einer der Stammväter der Bühnenbildnerarbeit in der DDR, er entwickelte das Bühnenbild zu einer eigenen Kunstgattung. Es entstehen erste Theaterarbeiten und zwei Jahre später schließt Schleef das Studium mit Diplom ab. In den folgenden Jahren entstehen in Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller und Regisseur B.K. Tragelehn drei Inszenierungen am Berliner Ensemble; dabei wird August Strindbergs Fräulein Julie nach zehn Aufführungen von offizieller Stelle wieder vom Spielplan genommen.

Einen Arbeitsaufenthalt am Wiener Burgtheater im Oktober 1976 nutzt Schleef schließlich zur Flucht aus der DDR, zum Absprung in den Westen: „Ich verließ die DDR am Tage, an dem ich zusichern sollte, dass ich dort nicht mehr arbeiten würde. […] Nicht mehr in der DDR arbeiten zu dürfen, das glich einem Arbeitsverbot. Was sollte noch kommen?“ Der Aufenthalt in Wien gestaltet sich durch die Einsamkeit und Hilflosigkeit des 32-Jährigen zunächst recht schwierig („Ich bin in wenigen Wochen 5-8 Jahre gealtert“), ehe er von einer jüdischen Familie außerordentlich gut aufgenommen wird. Doch die Verhandlungen mit dem Burgtheater über mögliche Inszenierungen verlaufen ergebnislos. Im Frühjahr 1977 hält er sich vorwiegend in Frankfurt a.M. auf, pendelte aber zwischen verschiedenen Städten auf der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten.

Im November siedelt Schleef schließlich nach Westberlin über. In seinem Tagebuch hält er fest: „Wovor bin ich weggelaufen? Ich bin zurückgekehrt. Hier ist die Mauer. Hier bin ich zu Hause. Brandenburger Tor von der anderen Seite“. In den folgenden Jahren sollte nun der Roman Gertrud (1984) über das Leben seiner Mutter im Vordergrund seines Schaffens stehen.

Eine einfache Frau versucht ihr Leben zu beschreiben, in Worte zu fassen. 1909 geboren, also Kindheit im Kaiserreich, eine Sportlerinnenkarriere in der Weimarer Republik, Familie und Ehe in der Hitlerzeit und schließlich das Alter in der DDR – vier deutsche Staaten erlebt, wahrlich keine glänzende Biografie. Ihr Mann, von Beruf Architekt, ist bereits gestorben. Die beiden Söhne haben das Haus verlassen. Der erste, Hans-Reiner (geb. 1937), von den Freunden James Dean genannt, war 1957 in den Westen geflohen, Einar folgte ihm 20 Jahre später. Mit 64 Jahren alleingelassen und völlig abgeschnitten spricht die Mutter zu sich selbst. Zusätzlich drohen ihr staatliche Sanktionen. Ihr Leben war nie auf Rosen gebettet, doch mit der Einsamkeit geht es weiter bergab, und sie spürt, auch ihre Lebenszeit ist bald abgelaufen, der körperliche Verfall nicht zu übersehen. Sie geht Beziehungen zu verheirateten Männern ein, will dreimal heiraten, ja Sangerhausen verlassen, doch die Männer bleiben in ihren Ehen.

In ihren stillen Selbstgesprächen sucht die verhärmte Frau weniger nach Worten für ihre Hoffnungen, vielmehr sind es ihre Ängste, die ans Tageslicht kommen. Nein, es geht Schleef nicht um Erinnerungen seiner Mutter, die „bekloppt vor sich hinbrütet“, es geht ums Überleben in einer alltäglichen Tristesse.

Die Angst klebt an mir, obwohl ich putze, mache, schufte, als ob irgendwo der Richter steht, der abwägt, mahnt, mich vergisst, abgelegt zu den Akten. Irgendein Regal. Irgendein Deckel. Vielleicht stürzt der Keller ein oder es brennt der zu trockene Boden. Den Richter erreicht das nicht, er wiegt schon die neuen Opfer. […] Wer richtet mich, auf dem Friedhof bin ich schuldig, beuge mich, wer schlägt auf mich ein.

Doch die Mutter setzt sich zur Wehr, schließlich ist man hier im ‚Lutherland‘ – „Sangerhausen du verstocktes Ketzernest“. Es sind vor allem die Frauen wie beispielsweise Gertrud, Oma Lydia oder ihre Schwestern Ella und Gretel, die zwischen Ziegenmilch und Schürzenbändern die Familiengeschichte (oder Familientragödie?) prägen. Der Schauplatz beschränkt sich auf zwei Sangerhäuser Straßen mit Kopfsteinpflaster: die Mogkstraße mit Schleefs Geburtshaus und die Katharinenstraße.

Der zweibändige Gertrud-Roman, häufig mit der Danziger Trilogie von Günter Grass verglichen, ist keine leichte Lektüre. Er passt in keine der herkömmlichen literarischen Schubladen und verlangt konzentriertes Lesen, Seite für Seite. Es ist eine wuchtige Sprache, die sich in kurzen Stakkatosätzen Gehör schafft. Schleef hat in dem exemplarischen Lebenslauf seiner Mutter, die 1993 starb, fast ein Jahrhundert deutscher Geschichte dargestellt. Vor dem Hintergrund einer Provinzstadt legt ein sprechender Mensch die Summe seines Lebens offen dar. „Ich habe meiner Mutter eine Pyramide gebaut. Einfach Schotter übereinander für eine deutsche Familientragödie“, sagte Schleef selbst über seinen dickbändigen Prosatext, den er später zu einer Theaterfassung verkürzte. Gertrud ist sein literarisches Hauptwerk und wohl ein Stück von ihm selbst: „Wenn Mutter etwas passiert, muss das Buch fertig sein, passieren heißt tot sein. Wenn sie tot ist, muss das Buch da sein, sie muss es mit runter nehmen. Oder wenn ich sterbe, ich will ja nicht mehr, nur dieses Buch Ich.“

Im September 1978 beginnt Schleef schließlich ein Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie, wo er bis 1986 eingeschrieben bleibt. Frankfurt a.M. und Westberlin sind in den 1980er und 1990er Jahren seine Wohn- und Arbeitsorte. In diesem Zeitraum führt er kaum Tagebuch. Nur die wenigsten Notizen führen ein Tagesdatum, es sind Erinnerungen, Gedanken und Interviews. Erst in den letzten Jahren seines Lebens füllt Schleef diese Lücken seines Tagebuchs aus. Jetzt stehen andere künstlerische Arbeiten im Vordergrund. 1983 wird sein erstes eigenes Stück Berlin ein Meer des Friedens in Heidelberg uraufgeführt, eine Groteske über Spießigkeit und Verlogenheit, in der die deutsche Wiedervereinigung als Katastrophe vorweggenommen wird. Schleef betätigt sich als Regisseur am Schauspiel Frankfurt, wo er mit Inszenierungen wie seinem Antiken-Projekt Mütter (1986, nach Aischylos und Euripides), seiner Version von Johann Wolfgang von Goethes Götz von Berlichingen (1989) oder der Bearbeitung von Lion Feuchtwangers Neunzehnhundertachtzehn (1990) für einige Skandale und kontroverse Diskussionen sorgt. In Frankfurt wird unter seiner Regie auch seine „Komödie“ Die Schauspieler (1988) uraufgeführt. 1993 kehrt Schleef ans Berliner Ensemble zurück, wo er Rolf Hochhuths Wessis in Weimar uraufführt, wobei es zwischen Autor („Ich habe ein Stück geschrieben, das Täter und Opfer in Deutschland zeigt. Einar Schleef hat Wessis in Weimar zertrümmert und verfälscht.“) und Regisseur zu heftigen Konfrontationen kommt. Gleichzeitig übernimmt Schleef im Schillertheater die Regie zu Goethes Faust (Teil 1 und 2), doch wegen der Schließung des Theaters kommt es nicht mehr zur Premiere.

Schleef ist mit diesen Projekten über all die Jahre so intensiv beschäftigt, dass es selbst zu den historischen Ereignissen im Wendeherbst 1989 nur wenige zeitnahe Tagebucheintragungen gibt. „Man glotzt verdattert in den Fernseher, aus dem Leute kreischen“. Ein höchst emotionales Erlebnis ist 1990 die Heimkehr nach Sangerhausen. Nach 14 Jahren Abwesenheit kehrt er in das Haus seiner Eltern zurück – „Trümmer vom Keller bis zum Boden“. Die Mutter wartet wie früher hinter der Gardine auf ihn: „Wie du aussiehst, steck dein Hemd rein.“

In seiner fast 500-seitigen Programmschrift Droge Faust Parsifal (1997), ein theatertheoretisches Arbeitsjournal, gibt Schleef über seine Arbeit als Regisseur, Bühnenbildner, Maler und Schriftsteller Auskunft. Ein selbstquälerischer Monolog als Großessay mit dramaturgischen Analysen, autobiografischen Berichten, kunstphilosophischen Betrachtungen und persönlichen Schreibberichten – gewissermaßen „Schleef erklärt Schleef“. Im Mittelpunkt seiner niedergelegten Gedanken stehen jedoch die chorischen Theaterformen, mit denen er Kritik am bürgerlichen Theater übt und zur griechischen Tragödie (oder noch davor) zurückkehren will.

Die Aufspaltung des antiken Chores durch Shakespeare, seine Individualisierung, ist nicht bloßer schauspielerfreundlicher Zugewinn, sondern ein bedeutender inhaltlicher Verlust, den kein Protagonist wettmachen kann. Der Gesamtzusammenhang der auf der Bühne agierenden Figuren ist zerstört. Damit ist jede Figur auf eigenes Leid zurückgeworfen, auch befreit von Verantwortung füreinander.

Schleef inszenierte den Chor als Sprachkörper, als kraftvolle Sprechmacht. Der Chor als Protagonist, der von der „Individuierung“ befreit ist – oder zugespitzt: Theater ist Chor. Außerdem äußert Schleef Kritik an der Theaterkultur im nun geeinten Deutschland:

Dass heute, 7 Jahre nach der Wiedervereinigung, der Theatertrott in Ost und West weitergeht, so als habe die wichtigste Veränderung für uns nach dem 2. Weltkrieg nicht stattgefunden, ist ein Fehlverhalten, dessen Folgen für das Theater, für die gesamte kulturelle Entwicklung nicht abzusehen sind. [   ] Es wird einem doch mulmig, steht man vor dem Berliner Spielplan. Das betrifft sowohl etablierte als auch alternative Theater, die alternativ, außer Jubel-Trubel-Heiterkeit in szenetypischer Verpackung, nichts bieten.

Ende der 1990er Jahre tippt Schleef seine handschriftlichen Tagebuchaufzeichnungen, die die Mutter vor der Stasi gerettet hatte, in den Computer. Dabei begibt er sich gewissermaßen „untertage“, denn mit seinen Erinnerungen vervollständigt er seine Tagebücher. Dabei achtet er penibel darauf, die nachträglichen „Zutaten“ von den Originalen zu trennen. So entsteht ein Nebeneinander von Primär- und Sekundäreinträgen und in diesen Schichtungen tritt die Persönlichkeit Schleef mit all ihren Zweifeln und Kämpfen hervor:

[…] denn eines wusste ich, dass kein deutscher Autor sich je wieder hinsetzen kann, um Provinzleben der DDR bis ins Detail aufzuzeichnen. Deshalb empfand ich es als Verpflichtung, gegen mein eigenes Vergessen anzuschreiben, wie ich jetzt gegen mein Wegsehen, gegen mein Vergessenwollen anschreibe. Der fortschreitenden, unaufhaltsamen Verrohung der Sprache und aller mit ihr verbundenen Äußerungen ist durch eine weitere Flucht nicht zu entkommen.

Noch in seinem Nachlass fand sich eine große Anzahl von Computer-Text-Dateien zu diesem Projekt, das mit seiner Intensität, seiner Leidenschaft und seiner kraftvollen Sprache seinesgleichen in der deutschen Literatur sucht. Die Tagebücher dokumentieren das geistige Innenleben und die ungeschönte Rechenschaft eines außergewöhnlichen Künstlers im geteilten Deutschland und wollen als Literatur gelesen werden. Sie sind nicht nur Ausdrucksformen des Erinnerns, sondern auch des Suchens und Findens, ja sie sind ein Bücher des Leidens. In seiner letzten Eintragung resümiert er abschließend:

Wo das Ich zu niedrig ist, setzt als Höhenflug die Literatur, die Lüge ein.
Die Lüge, auch die Liebe.
Dies ist auch ein Text über die Liebe.
In meinen Texten steht für vieles der eigene Lebenslauf, das fortlaufende Datum, den erst der Exitus fixiert. Dem gilt es zuzustreben.

Die letzten Lebensjahre Schleefs sind geprägt von zahlreichen Theaterprojekten, so am Düsseldorfer Schauspielhaus (Salome), am Wiener Burgtheater (Sportstück von Elfriede Jelinek, die sich ausdrücklich Schleef als Regisseur wünscht) oder am Deutschen Theater in Berlin (Verratenes Volk, eine Collage nach Texten von Alfred Döblin, John Milton, Friedrich Nietzsche und Edwin Erich Dwinger). Als Claus Peymann mit Beginn der Spielzeit 2000/2001 Intendant des Berliner Ensembles wird, bittet er Schleef mit Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes drei kurze Jelinek-Stücke zu inszenieren. Schleef hielt Jelinek für „seine Autorin“ und Jelinek Schleef für „ihren Regisseur“.

Doch die Uraufführung im Januar 2001 muss wegen Schleefs kritischem Gesundheitszustand (Herzattacke) verschoben werden. Auch die beiden für Mai und Juni bei den Wiener Festwochen geplanten Premieren müssen abgesagt werden. Im Mai kann Schleef noch seine Tagebücher dem Suhrkamp Verlag übergeben, der jedoch zunächst eine Veröffentlichung ablehnt. Am 21. Juli 2001 erliegt Schleef im Berliner Paulinenkrankenhaus schließlich seinem Herzleiden. Es ist ein einsamer Tod, denn das Krankenhaus hat Schwierigkeiten, Angehörige oder Freunde zu informieren und schaltet sogar Schleefs Anwalt ein. So gelangt die Nachricht von seinem Tod erst elf Tage danach an die Öffentlichkeit. Am 15. August 2001 wird Schleef schließlich in seiner Heimatstadt Sangerhausen beerdigt.

In Künstlerkreisen sind Trauer und Bestürzung groß, so zeigt sich Peymann betroffen: „Ein unbeugsames Genie hat die Szene verlassen. […] Das deutsche, das europäische Theater hält den Atem an“. Selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Schleef über Jahre hinweg stets aufs Schärfste kritisiert hatte, schreibt anlässlich seines Todes: „Mit Schleef starb ein von der eigenen Biografie und der Geschichte seines geteilten Landes umgetriebener Erinnerungs- und Trauerarbeiter des Theaters. […] Der im thüringischen Sangerhausen geborene Schleef, der 1976 aus der DDR in den Westen ging, war ein genialer Berserker des Regietheaters, aber auch ein besessener Autor“.

Das Verhältnis von Einar Schleef und Sangerhausen mit „zwei Paar linke Schuhe“ zu umschreiben, käme sicher einer Beschönigung gleich. Schleef verband mit seiner provinziellen Heimatstadt eine Art krankhafter Hassliebe, die er sogar auf die Mutter übertrug. Und die Sangerhäuser? Entweder war er ihnen unbekannt oder sie waren auf den Autor nicht gut zu sprechen, hatte er doch in seinen beiden Gertrud-Romanen kein gutes Haar an ihrer Stadt gelassen. Jahrelang verstand man nicht, dass der Skandalumwitterte im Westen so bekannt ist. Erst nach seinem Tod kommt es zur Annäherung an den „verlorenen Sohn“. 2002 gründete sich der Einar-Schleef-Arbeitskreis Sangerhausen e.V., der sich seitdem redlich bemüht, das Andenken an den Künstler dauerhaft zu bewahren, wobei die Sangerhäuser erst einmal mit Schleef bekannt gemacht werden mussten. In Kooperation mit der Akademie der Künste Berlin hat der Verein im Spenglermuseum (Heimatmuseum der Stadt) das „Einar-Schleef-Zentrum“ (eher ein Raum) gestaltet, in dem seit 2011 in einer Dauerausstellung über Leben und Werk Schleefs informiert wird. Vor Jahren unterbreitete der Arbeitskreis den Vorschlag, den Bahnhofsvorplatz (in unmittelbarer Nähe des Museums) in „Einar-Schleef-Platz“ umzubenennen, doch dazu konnten sich die Stadtväter bisher nicht durchringen. Immerhin will der Arbeitskreis zum diesjährigen Jubiläumsjahr am Geburtshaus des Künstlers eine Tafel anbringen.

Schleefs künstlerischer Nachlass wird heute an zwei Orten bewahrt: Die Akademie der Künste verwaltet im Schleef-Archiv sein gesamtes literarisches Œuvre (Tagebücher, Manuskripten, Entwürfe sowie Dokumente zu Leben und Werk), außerdem Fotografien und Filme. Das Kunstmuseum Moritzburg in Halle dagegen beherbergt den bildkünstlerischen Nachlass – immerhin fast 6000 Zeichnungen und 157 Gemälde.

Der 75. Geburtstag war für den Suhrkamp Verlag Anlass, den Auswahlband Vor dem Palast vorzulegen. Die Herausgeberin Corinne Orlowski befragte dazu zahlreiche Künstler und Freunde zu den unterschiedlichsten Themen (über den Maler, Fotografen, Autor und Filmer Schleef), wobei die Gespräche sämtlich 2018 geführt wurden. Im Mittelpunkt standen Fragen wie „Was macht Einar Schleef aus?“, „Welche Entdeckungen sind in seinem Werk heute noch zu machen?“, „Wo steht das Theater nach Schleef?“ oder „Wie geht es weiter?“

So berichtet der Schauspieler Jürgen Holtz, wie Schleef ihm ein anderes Bewusstsein, ein anderes Gefühl für Sprache vermittelt hat. Claus Peymann dagegen erinnert an die Zusammenarbeit mit Schleef am Berliner Ensemble und am Wiener Burgtheater: „Die Palette seiner Katastrophen war unvorstellbar, und sie passierten täglich, immer mit ultimativen Forderungen. […] Wenn Schleef brüllte, habe ich zurückgebrüllt, manchmal lauter als er – was gar nicht so einfach war. Er war verblüfft, dass ich ihn nicht gebeten habe weiterzumachen – oder kompromissbereit war –, sondern zum sofortigen Gegenangriff ansetzte. Das hat ihn dann wiederum in den „Gegenangriff“ geführt – und er hat weitergearbeitet. Die Inszenierung war gerettet – bis zum nächsten Krach!“ Der Kunsthistoriker Michael Freitag und die Theaterwissenschaftlerin Regine Herrmann geben Auskunft zum Formenreichtum von Schleefs Malerei und über seine fotografischen Projekte. Insgesamt 22 Interviews (weitere Gesprächspartner/innen vom Kameramann bis zur Kostümdesignerin sind u.a. Carl Hegemann, Martin Wuttke, Elfriede Jelinek oder Wolfram Koch) versammelt die Neuerscheinung.

Abschließend sei noch erwähnt, dass die Berliner Bühne „HAU Hebbel am Ufer“ zu Beginn des Jahres (10.-15.Januar) unter dem Titel Tarzan rettet Berlin ein Chorprojekt nach den Tagebüchern von Schleef inszenierte. Außerdem erschien die HAU-Publikation Einar Schleef – Erinnern ist Arbeit, die man als pdf-Datei unter https://m.hebbel-am-ufer.de/download/23598/schleef75_zeitung.pdf herunterladen kann.

Titelbild

Corinne Orlowski (Hg.): Vor dem Palast. Gespräche über Einar Schleef.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
370 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428719

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