Haschisch, Huren und gekürzte Homosexualität

Friedrich Glausers genialer Kolonialroman „Gourrama“ in einer obsoleten Fassung

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Friedrich Glauser kannte sich aus mit den abseitigen Welten, in denen seine Romane spielen. Das gilt für die Schweizer Bundesstadt Bern, in der sein berühmter Wachtmeister Studer Kriminalfälle löst und dabei ein Herz für Außenseiter zeigt, jedoch vor allem für Milieus wie die psychiatrische Anstalt, die ein zentraler Schauplatz seines Studer-Krimis Matto regiert ist und wo Glauser selbst wegen seiner Morphiumsucht und seiner Entmündigung aufgrund liederlichen Lebenswandels einige Zeit verbringen musste. Und das gilt insbesondere für die Fremdenlegion, zu der er 1921 von seinem Vater gedrängt wurde; nachdem er sich in der Schweiz wegen unbeglichener Schulden und Drogendelikten unmöglich gemacht hatte.

Bis zu seiner Ausmusterung wegen eines Herzleidens verbrachte der Autor, der sich anfangs vor allem als Lyriker in der Nachfolge Stéphane Mallarmés und im Kontext des Expressionismus à la Georg Trakl verstand, knapp zwei Jahre in der international rekrutierten französischen Kolonialtruppe, vor allem im Süden Marokkos. Aufgrund seiner schwachen Gesundheit arbeitete er dort meist in der Verwaltung der Nahrungs- und Genussmittel – einer notorisch korruptionsanfälligen Abteilung, sodass die Arbeit mit ständiger Angst vor Entdeckung und harter Bestrafung der Gefälligkeiten und Bestechlichkeit einherging.

Diese Schlüsselrolle der Essens- und Alkoholbeschaffung hat auch der Protagonist des Romans Gourrama inne. Mitten im fremden, tendenziell feindlichen Land, auf einem Posten in der Wüste, verschafft der Zugang zu den Nahrungs- und Betäubungsmitteln einen exponierten Status im Beziehungsgefüge der Kompanie. Deren wenig heroischen Alltag kennzeichnen grauenhafte Langeweile, stupides Exerzieren und ständiger Streit zwischen diversen Typen und Grüppchen innerhalb der Legionärstruppe. Ihre Mitglieder stammen nicht nur aus verschiedenen Ländern, vielmehr bringen sie meist auch geheim gehaltene und durch Decklegenden camouflierte Lebensbrüche und Delinquenzerfahrungen mit. In Glauser finden sie, wie auch die französischen Karriere-Offiziere, einen versierten Charakterschilderer, der die Macken, Nöte und Wünsche der so staubigen wie bunten Wüstentruppe mit viel Verständnis und wenigen Worten vermittelt.

Die Nüchternheit und Präzision, mit der Glauser in Gourrama den klimatisch wie psychologisch ruppigen Alltag beschreibt, macht diesen Roman zu einem besonderen. Der Schweizer Sprachkünstler, der gegen Ende seines kurzen Lebens als Erfinder (und herausragender Stilist) des deutschsprachigen Kriminalromans endlich Aufmerksamkeit und kleinen Ruhm fand, setzte hier im Romanerstling neue Themen: Haschischrausch (wie er auch in Glausers Erzählung Der Hellseherkorporal von 1931 sowie im 1935 erschienenen Wachtmeister Studer-Roman Die Fieberkurve verarbeitet wurde, die, wie eine Reihe weiterer in Zeitschriften veröffentlichte Erzählungen, ebenfalls auf Glausers Erlebnisse in der Fremdenlegion zurückgreifen) – und eine gewissermaßen selbstverständliche Homosexualität in weiten Kreisen der Truppe. Offen ausgelebte Männerbeziehungen, die aber gelegentlich, wenn sie im Verbund mit Machtgefällen und Abhängigkeiten operierten, auch zu wüsten Disputen führten. Und er findet einen Ton für die Sehnsucht jener vermeintlich harten Soldaten, für ihr verzweifeltes Begehren nach Intimität oder Freundschaft: zu Kameraden, männlichen oder weiblichen Geliebten und Gespielinnen innerhalb wie außerhalb der Garnison, oder auch zum treuen, geliebten Hund. Zwar ereignet sich irgendwann im Laufe des Romans ein Gefecht mit Räubern – plötzlich gibt es statt ewiger Schießübungen Kampf, Verletzte und Tote –, doch das Abenteuer, das man von der Fremdenlegion erwarten mag, weicht hier einer desillusionierten Darstellung menschlicher Einsamkeit, Hinfälligkeit und Hilfsbedürftigkeit.

Glauser war, was sich in einigen expliziten Anspielungen im Roman äußert, seinerzeit von Marcel Prousts Erinnerungspoetik der Recherche du temps perdu fasziniert. Nicht zuletzt wohl, weil er selbst einige Jahre nach dem Erlebten und in ganz andere Lebensumstände verstrickt, versuchte, eine Art Essenz seiner vergangenen Legionärs-Zeit und der für ihn prägenden Erfahrungen erzählerisch zu vergegenwärtigen. Allerdings wirkt sein Kolonialroman viel eher wie ein Vorläufer und Verwandter von Albert Camus’ Romanen. Diese Nähe gilt im Hinblick auf seine erzählten Orte (den französisch kolonialisierten Maghreb) und seine deklassierten, ganz unproustschen Menschen. Die freilich nicht selten gebildete, doch gefallene Bürgersöhne waren – wie ihr Autor. Eine Verwandtschaft mit Camus drängt sich insbesondere wegen Glausers durch Nüchternheit berauschende Sprache auf. Gut zehn Jahre vor Camus’ Der Fremde geschrieben, als Zeitschriftenabdruck (1937 in der politischen Schweizer Wochenzeitschrift ABC, die bald eingestellt wurde, wodurch dieser Erstabdruck Fragment blieb) fünf Jahre, als Buchausgabe zwei Jahre vor dessen Roman erschienen, kann man die beiden Bücher in manchen Punkten gewinnbringend vergleichen – und keineswegs zum Nachteil von Glausers weit weniger kanonisiertem Kolonialroman. Die Buchausgabe erschien 1940 schon postum, die erste Auflage von 6.000 Büchern war schnell vergriffen. 1941 folgte eine zweite Auflage, weiterhin in der stark gekürzten, verstümmelten Fassung.

Das war (die Schreibzeit betreffend, nicht die verspätete Publikation) der erste Romanversuch Glausers. Mit Gourrama bemühte sich der unpublizierte Lyriker, der schon in den Zürcher Dada-Kreisen des Ersten Weltkriegs verkehrte, Ende der 1920er Jahre, dem zerstörerischen Karrusell von Drogensucht, Gefängnis, Psychiatrie und Gelegenheitsjobs zu entkommen. Vor allem sein Arzt, Max Müller (dem der Roman gewidmet ist) motivierte ihn trotz aller Selbstzweifel und Manuskriptablehnungen an dem Schreibprojekt festzuhalten. Erst nach dem Erfolg seiner Detektivromane um Wachtmeister Studer, die später auch verfilmt wurden, wurde auch Gourrama allmählich zum Kultbuch. Als ein solches wird es auf dem Pappeinband der aktuell (erstmals 1989) vertriebenen Taschenbuchausgabe des Diogenes Verlags angepriesen. Doch sollte man mit einem Kultbuch, um dessen Niederschrift sein Autor so lange ringen musste wie um seine Veröffentlichung – lange wollte sich kein Verlag des heiklen Werks in den prekären 1930er Jahren annehmen – nicht so bedenkenlos umgehen, wie es der renommierte Zürcher Verlag hier tut.

Denn leider erhält man, wie bei Diogenes üblich, auf den letzten Seiten des Buches anstelle eines Nachwortes, das diesen Roman, seine Entstehung und seine historischen Kontexte situieren könnte, bloß werbende Hinweise auf weitere Bücher des Verlags. Wobei dieser Verlag Glauser offenbar, wie die Hinweise auf Werke ausschließlich Schweizer Autoren (Urs Widmer, Friedrich Dürrenmatt und Hugo Loetscher) indizieren, als einen vor allem ebensolchen Autor begreift. Dabei ist Glauser doch fraglos mehr als der Erfinder eines Berner Kriminalkommissars, der lokale wie international verstrickte Mordfälle aufklärt und dabei selten betretene Milieus mit Sympathie erkundet. Glauser verfügt in seinen Krimis wie im Kolonialroman über einen eigenen Erzählton, den man vielleicht am besten als neusachliche Lakonie begreift.

Gourrama ist zweifelllos einer der bedeutendsten deutschsprachigen Romane über das Kolonialgeschehen. Das Buch ragt heraus aus jener seinerzeit gar nicht so raren Belletristik über die mythenumwobene Fremdenlegion, in der meist die Abenteuerlust ungebrochen viriler Kerle inszeniert wird. Glauser hingegen ist ein Erzähler, dessen unter Sachlichkeit versteckte Empathie und Menschenkenntnis es mit existenzialistischem Erzählen aufnehmen kann. Glausers Roman wird in der 3. Person erzählt, wobei über weite Strecken Dialoge die Denk- und Sprechwelten der Figuren direkter darstellen. Hierin unterscheidet sich der Text von Camus’ raffiniertem Kunstgriff eines entfremdeten wie befremdlichen Ich-Erzählers in L’Étranger. Gleichfalls im Gegensatz zum provokativen Atheismus des Camus’schen Antihelden durchziehen religiöse Momente den Kosmos von Gourrama. Dabei zeigt sich gerade in Glausers virtuos inszenierten Dialogszenen seine Sprachkunst. Ärgerlicherweise unterschlägt die Diogenes Buchausgabe wiederum (wie die Buchausgabe von 1940, die den Zeitumständen der 1930er und -40er Jahren angepasst wurde) den wohl epochochalsten Dialog: das lange Gespräch über Homosexualität zwischen Todd und Schilasky. Diese doch wohl längst unnötige, ja ärgerliche Kürzung des ursprünglichen Textes kann man kaum anders als obsolet finden.

Abhilfe für ein in der Diogenes Ausgabe fehlendes Nachwort schafft die zweibändige Glauser-Biografie und Werkschau von Gerhard Saner. Maßgeblich für ernsthafte Glauser-Lektüren (oder einen informierten Glauser-Kult) ist die Ausgabe des Limmat-Verlags von 1997. Die Taschenbuchausgabe des gleichfalls in Zürich beheimateten Unionsverlags brachte ebenfalls diesen vollständigen Text und ein umsichtiges Nachwort des Glauser-Kenners Bernhard Echte. Es ist unverständlich, dass Diogenes nun eine solch lieb- und orientierungslose Fassung, die nur kleingedruckt ihre Druckvorlage, nämlich die gekürzte Buchausgabe von 1940 erwähnt, erneut publiziert.

Zwar möchte man sich über jeden Leser dieses thematisch wichtigen und sprachkünstlerisch beeindruckenden Romans freuen, doch sollten von Glauser Begeisterte, vom Kommissar Studer Angefixte oder an gehaltvollen, kritischen Kolonialromanen Interessierte unbedingt die von Echte erstellte, reich kommentierte und mit aufschlussreichen Materialien versehene Ausgabe lesen. Diese ist als Taschenbuch im Unionsverlag weiterhin erhältlich. Echtes Edition ist der gleichsam nackt und verstümmelt daher kommenden Diogenes-Ausgabe zweifellos vorziehen. Eine derart lieb- und gedankenlos gemachte Buchedition konkurriert nun, ebenso wie andere Neuausgaben des nach 70 Jahren rechtefrei neudruckbaren Romans, mit jenen besten verfügbaren Editionen. Dass die Diogenes-Ausgabe der verdienstvollen Edition im Limmat- und Unionsverlag Leser abjagen wird, ist bedauerlich.

Titelbild

Friedrich Glauser: Gourrama. Ein Roman aus der Fremdenlegion.
Diogenes Verlag, Zürich 2018.
358 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-13: 9783257217391

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