Nachdenken unter dem Wildbirnenbaum

Der Band „Leni weint“ versammelt 30 Essays von Péter Nádas aus den Jahren 1989 bis 2014

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Péter Nádas ist ein brillanter Romancier, und er ist auch ein scharfsinniger Essayist. Letzteres wird durch einen neuen Band mit 30 Essays bezeugt. Darin verbindet Nádas beißende Zeitanalysen mit meditativer Nachdenklichkeit, die im allerletzten Text unmittelbar mit dem Gedanken an ein Lebensende konfrontiert wird. Unter dem Titel Der eigene Tod beschreibt er, wie er an einem heißen Sommerabend in den Straßen Budapests einen Herzinfarkt erleidet. Ein anfängliches Unwohlsein steigert sich zu innerer Beklemmung, bis er abstürzt – danach halten Todesangst und Überwachheit den wehrlosen Körper auf dem Weg zum Operationstisch im Klammergriff und setzen „die herkömmliche Auffassung von Zeit und Raum außer Kraft“. In sich gekehrt und zu gleicher Zeit ganz außer sich hält der Erzähler haarklein diesen disparaten Zustand zwischen Wachen und Wegdämmern fest und findet so eine Sprache für das Unaussprechliche.

Auf Deutsch ist dieser Text im Jahr 2002, zeitgleich mit dem ungarischen Original, in einer beeindruckend illustrierten Ausgabe erschienen. Rund 150 Fotografien eines prächtigen Wildbirnenbaumes begleiten die Krankengeschichte. Péter Nádas, der auch ein passionierter Fotograf ist, hat den Baum vor seinem Haus im Wandel der Jahreszeiten festgehalten.

Mit diesem Baum setzt der Essayband Leni weint ein. „Seit ich in der Nähe dieses gigantischen Wildbirnenbaumes lebe, brauche ich mich nicht mehr fortzubewegen, um in die Ferne zu sehen oder in die Zeit zurückzublicken“, beginnt der Eröffnungstext Behutsame Ortsbestimmung. Der Wildbirnenbaum ist nicht nur ein „arbor excelsa“, also ein Prachtexemplar seiner Gattung, sondern mit seiner Beständigkeit auch ein Symbol für das Werden und Vergehen, für den trägen Gang des Lebens im Dorf, in dem sich der Autor vor vier Jahrzehnten niedergelassen hat. Hier gelten eigene Gesetze. Der Einzelne ist eingebettet in ein kollektives Bewusstsein und in ein Dorfwissen, außerhalb dessen es kein Verstehen gibt. Die Menschen denken, wie Nádas festhält, „in prämodernen Begriffen“, die einzig dem Dorfkollektiv verpflichtet sind. Sie können einen übergeordneten Staat weder ernst nehmen noch wertschätzen.

Auf diesen ersten Seiten berichtet der Autor auch eine Anekdote, die sich vor Jahrhunderten im Umkreis seines Dorfs abgespielt hatte. In Erwartung des türkischen Heeres hätten sich Krieger aus den verschiedensten Nationen versammelt, „doch in der Nacht vor der Schlacht (wurden) sie von so heftigem Zorn ergriffen, dass sie mit ihren Waffen übereinander herfielen“. Hony soit, qui mal y pense – und dabei nicht das Europa von heute vor Augen hat.

Dieses dumpfe Übereinanderherfallen greift Nádas im zweiten Essay In der Körperwärme der Schriftlichkeit gleich nochmal auf. Dem „in seiner Bestialität dösenden, dummköpfigen Ungeheuer“ Europa, das sich im analphabetischen Reden genüge, hält er sein Schreiben entgegen. Eine Tätigkeit, die ihn täglich zwinge, sich aus „dem Urschleim der eigenen Dumpfheit“ herauszuarbeiten. Der Autor fordert von sich Konzentration, er macht sich frei, um „als praktizierender Romancier“ unbedingt naiv und, wie er gegen Ende des Buches im vorletzten Essay Ein zu weites Feld nochmals betont, offen zu bleiben für das, „was sich zwischen den Menschen zuträgt“.

So bildet das Nachdenken über das eigene Schreiben zusammen mit dem Wildbirnenbaum eine doppelte Klammer, innerhalb deren Nádas in dieser Essaysammlung zu einem vertieften Nachdenken über Europa, die Demokratie und die Würde des Menschen findet. Die bizarre Szenerie des „großen weihnächtlichen Mordens“ am Ehepaar Ceaușescu gibt dem Autor Anlass, die eigene moralische Festigkeit kritisch zu hinterfragen. Nádas schaute sich die dilettantisch gedrehten Filmbilder mehrmals ohne Mitleid, aber mit einem genießenden Schauder an. Er weiß nur zu gut, dass ein illegitimer Prozess wie der gegen die Ceaușescus keinen rechtsstaatlichen Normen entspricht und von ihm daher zu verurteilen ist. Indem wir aber dieser Schaulust willig nachgeben, schließt er, „tragen wir die Logik der Diktaturen ins nächste Jahrtausend hinüber“.

In seinen Essays schreibt Nádas über sein Leben und seine Epoche. Beides lässt sich nicht trennen. Der Zeitgenosse ist persönlich anwesend – auch im Vertrauen auf sein eigenes Schreiben. „Das Vertrauen ist fundamental, allgegenwärtig, urzeitlich“ – aber es reicht nicht, wenn es sich aufs eigene Kollektiv des Dorfs oder des Clans beschränkt. Vertrauen als demokratische Tugend ist schwieriger herzustellen und zu beweisen, genau hier ortet Nádas ein grundlegendes Problem der aktuellen Politik in Europa. Im Essay Streifzüge in den Quellgebieten des Vertrauens unterscheidet er gewinnbringend zwischen einem dissimulativen und einem simulativen Sprachgebrauch, der „alte und neue Demokratien“ voneinander trennt. Während in den westlichen Staaten die realen Probleme dissimulativ klein geredet und beruhigt werden, werden sie in den östlichen Staaten simulativ vergrößert und ins Diffuse, Phantasmagorische gesteigert. Letzteres habe auch den Effekt, dass damit das Kollektive gestärkt werde, wie es in seinem Dorf alte Gewohnheit sei. Diesen Essay hat Nádas 2008 geschrieben, doch die gegenwärtigen Verhältnisse in seiner ungarischen Heimat scheinen der Analyse Recht zu geben.

Zum Vertrauen tritt die Würde, sie ist die unabdingbare Begleiterin der Wahrheit, wie er sie sucht. Und beide haben Anteil an der Demokratie, mit der er sich in Dafür und Dagegen auseinandersetzt. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln versucht er den aktuellen Zustand der europäischen Demokratie im Spannungsfeld von Individuum und Kollektiv auszuloten. Die Demokratie hat wie die politische Freiheit „kein Maß und Grad“, beide gelten also ganz oder gar nicht, ihr Geist ist unteilbar. Diese Unteilbarkeit droht zurzeit aber gefährlich zu erodieren, indem Probleme verdrängt oder zugespitzt werden – je nach Interessenlage. Mit Blick darauf verrät Nádasʼ differenzierte Auseinandersetzung immer wieder einen bitteren Sarkasmus. Er fragt sich besorgt, ob die „geistige und mentale Regression“ angesichts der gegenwärtigen reaktionären, auch antisemitischen Stimmungen und der national-chauvinistischen Strömungen bereits unumgänglich geworden sei.

In der Titelgeschichte Leni weint in der Buchmitte erzählt er eine historische Anekdote, um dieses verhängnisvolle moralische wie politische Schlingern zu veranschaulichen. Am 8. September 1939 wurde „die wundervolle und charmante Leni Riefenstahl morgens Zeuge der tatsächlichen Abschlachtung realer Menschen“, worauf sie „in mädchenhaftes hysterisches Weinen“ ausgebrochen sei. Am selben Tag hielt Victor Klemperer in seinem Tagebuch fest: „es gibt eine Linie, über die hinaus Trennung von Moral und Politik unpolitisch ist und sich rächt. Früher oder später. Aber können wir das später abwarten?“ Wir sollten es nicht tun, gibt Nádas ausdrücklich zu bedenken.

Schicht um Schicht – vergleichbar den Jahresringen beim Wildbirnenbaum – arbeitet er sich in seinen Essays zu diesem Kern vor. Hier das bedächtige, scheinbar ewige Landleben mit seinem Konservativismus, der den Rattenfängern willfährig folgt, dort die vitalen wie schrecklichen Umbrüche im historischen Geschehen, zu beidem findet der Autor bedenkenswerte Zugänge, die eine Lektüre seiner Essays lohnen. Schneidende Analysen mischen sich mit einer intimen Selbstbefragung. „Kann es eine Selbsterkenntnis geben, die nicht Welterkenntnis wäre“, fragt er in Ein zu weites Feld, respektive: „kann es eine Welterkenntnis geben, die der Selbsterkenntnis ermangelt?“ Péter Nádas löst die Frage ein, ohne wohlfeile Antworten darauf zu geben.

Titelbild

Péter Nádas: Leni weint. Essays.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Akos Doma und Heinrich Eisterer.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018.
527 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783498046996

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