Was bleibt? Zeitgeschichtliche Jugendliteratur im Kontext postmemorialer Erinnerung

Britta C. Jungs Studie untersucht aktuelle jugendliterarische Darstellungen zu den Themen „Drittes Reich“ und „Holocaust“

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was weiß ein Angehöriger der sogenannten Generation Z, also der zwischen 2000 und 2015 geborenen Jugendlichen, von den für die deutsche und europäische Erinnerungskultur so wesentlichen Themen „Nationalsozialismus“, „Zweiter Weltkrieg“ und „Holocaust“? Was kann er nach dem allmählichen Wegfall der Zeitzeugen in Familie und Lebensumfeld überhaupt wissen? Welche Möglichkeiten des Erzählens haben aktuelle jugendliterarische Inszenierungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren gewählt, um der nachwachsenden Generation einen Einblick in die Schrecken und Verbrechen der 1930er und 1940er Jahre zu ermöglichen?

Mit diesen Fragen beschäftigt sich die – als Band 24 der von Carsten Gansel und Hermann Korte herausgegebenen Reihe Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien erschienene – Dissertation Komplexe Lebenswelten – multidirektionale Erinnerungsdiskurse von Britta Jung. Die Studie wurde an der Fakultät der Geisteswissenschaften der Reichsuniversität Groningen und der Fakultät der Geisteswissenschaften des Mary Immaculate College der Universität Limerick erarbeitet und behandelt die wichtige Fragestellung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, wie einleitend ausgeführt wird: Ziel der Studie sei es, „die Transnationalisierung der Erinnerung und die narrativen Strategien postmemorialer Erinnerungsgemeinschaften anhand der deutschen Erinnerungskultur nachzuzeichnen; zu fragen, wie sich Multidirektionalität und Anthropologisierung manifestieren und in welcher Form sie in narrativen Inszenierungen zum Ausdruck kommen.“

In dieser Themenbestimmung Jungs sind wesentliche Leitbegriffe der Studie formuliert: Es gebe gegenwärtig keine solitär nationalspezifische Erinnerungskultur an den entsprechenden Zeitraum mehr, vielmehr habe sich ein komplexer Fiktionalisierungsprozess entwickelt, der durch die Hinwendung zum „Menschen in seiner Lebenswelt“ und seiner alltags-, sozial- und kulturgeschichtlichen Existenzweise gekennzeichnet sei. Das Stichwort „Postmemorial“ verweist plausibel auf das Ende der Augenzeugenschaft, sodass nun Fragen danach im Zentrum stehen, „wie historische Entwicklungen und Ereignisse von den betroffenen Individuen und Gemeinschaften wahrgenommen und erfahren wurden“. In Anlehnung an literatursoziologische Konzeptionen Jürgen Links sieht die Autorin in methodologisch tragfähiger Weise Literatur als „Möglichkeit zur interdiskursiven Wissensvermittlung“, mit der Folge, dass Schriftstellerinnen und Schriftsteller explizit Texte für die dritte und vor allem vierte Generation nach dem Krieg verfassen. Erinnerung wird dabei verstanden als „ein diskursiver Prozess der Gegenwart, bei dem aus der jeweiligen Gegenwart heraus die Vergangenheit thematisiert und rekonstruiert wird“.

Wie Jung ausführt, seien nun eine Analyse und Interpretation der spezifischen Jugendliteratur zu diesem Bereich hinsichtlich ihrer Themenstellung ergiebig, die „erinnerungskulturell verhandelt und narrativ inszeniert“ sei. Insofern zeigt das Buch entsprechende literarische Darstellungsstrategien und literarästhetische Verfahren im Bereich der Jugendliteratur auf: Unter Bezug auf die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch interpretiert sie Erinnerung („memory“) als eine „ausschließlich durch symbolische Zeichen und Medien vermittelte Erinnerung, mit deren Hilfe sich die nachgeborenen Generationen zu den traumatischen Ereignissen ihrer familiären, generationellen und/oder nationalen Vergangenheit in Beziehung setzen.“

Einleitend reflektiert Jung sehr kenntnisreich den bisherigen Forschungsstand und referiert die einschlägigen Kontroversen – etwa die Shavit-Dahrendorf-Debatte über Verdrängungs- und Externalisierungsstrategien in der Kinder- und Jugendliteratur – in kompakter, terminologisch sehr präziser Weise.

Die Studie folgt einer vierschrittigen Darstellungsweise: Im ersten Kapitel wird in einem Parforceritt die jeweilige nationale Erinnerungskultur verschiedener Länder (unter anderem Deutschland, Großbritannien, Niederlande, Frankreich, Polen, Russland und USA) beschrieben. Im Detail zeigen sich bei einem solch ambitionierten Unternehmen naturgemäß Unschärfen und Typisierungen, die bisweilen Komplexität reduzieren, gerade dann, wenn es um schwierige Aspekte wie Täterschaft und Opfertum geht. Dies gilt bisweilen auch bei der Rekonstruktion des ost- beziehungsweise westdeutschen Erinnerungsdiskurses von 40 Jahren auf knapp 20 Seiten. Die These, dass es seit den 1990er Jahren zu einer Transnationalisierung der Erinnerung gekommen ist, wird mit dem Aufstieg der digitalen Medien und der Entwicklung des Internets als globalem Medienphänomen plausibel begründet und exemplifiziert.

Im zweiten Kapitel thematisiert die Autorin die Herausforderungen und Probleme mit der literarischen Darstellung beziehungsweise „narrativen Inszenierung der NS-Vergangenheit“ im Allgemeinen und mit Fokus auf die jugendliterarischen Spezifika im Speziellen: In den vergangenen sieben Jahrzehnten sei ein Repertoire an Themen, Motiven, Strategien und Narrativen nachweisbar, um sich der NS-Lebenswirklichkeit anzunähern. Es werden Topoi bestimmt wie „die Erlebnisse untergetauchter Kinder, die Figur des Zwangsarbeiters, das Leben im Ghetto und […] Konzentrationslager“. Ferner lassen sich erzähltechnische Veränderungen nachweisen wie „die Wahl einer retrospektiven Erzählsituation einer Ich-Stimme, eine Rahmenerzählung oder aber ein Paratext“.

Das – gleichfalls ambitionierte – dritte Kapitel intendiert, einerseits schlaglichtartig die jugendliterarische Textproduktion zwischen 1945 und 1989 unter der Überschrift „Von deutschen Flüchtlingen und antifaschistischen Helden zum Genozid an den Juden Europas“ zu umreißen, indem exemplarische Texte synchron vorgestellt und hinsichtlich relevanter Inszenierungsverfahren betrachtet werden. Anderseits werden die letzten zweieinhalb Jahrzehnte unter der Überschrift „Erzählte Vergangenheit“ einer genaueren Musterung unterzogen. So betont Jung:

Generell lassen sich in der Jugendliteratur inzwischen folgende literarische Vergangenheitszugänge finden und voneinander unterscheiden: Autobiographie, autobiographischer Roman, Biographie, biographischer Roman, historischer Roman und Gegenwartsroman mit zeithistorischem Bezug. In der Regel paratextuell erläutert und verortet, kommuniziert die Zuordnung mal mehr, mal weniger explizit den jeweiligen […] Wahrheits- und Authentizitätsanspruch der Bücher.

Einschlägige Texte wie Gudrun Pausewangs Erzählung Reise im August oder Mirjam Presslers Malka Mai werden in die allgemeine Gattungsentwicklung eingeordnet und als Meilensteine der zeitgeschichtlichen Jugendliteraturproduktion kontextualisiert, wobei vorrangig die Tendenzen zur Unmittelbarkeit und Erfahrungsorientierung sowie Generierung von Alltagserlebnissen hervorgehoben werden, ferner die Überwindung der klassischen Täter- und Opfernarrative durch eine Verortung innerhalb einer zunehmend komplexer gedachten Lebenswirklichkeit.

Das umfangreiche vierte Kapitel beinhaltet die narrative Detailanalyse von acht exemplarisch ausgewählten Texten der aktuellen Jugendliteratur, darunter sieben Romane und eine Erzählung, hinsichtlich spezifischer Inszenierungsweisen von Nationalsozialismus, Weltkrieg und Holocaust. Die Autorin kategorisiert die Texte dabei nach vier Themenkomplexen der Erinnerungskultur: „Verfolgung und Deportation“, „Alltag und NS-Erziehung“, „Bombenkrieg und Flucht“ sowie „Generationskonflikte und Spurensuche“. Repräsentative Jugendromane für die jeweiligen Themenkomplexe wie etwa Mirjam Presslers Ein Buch für Hannah für das Thema „Verfolgung und Deportation“ oder Gina Mayers Die verlorenen Schuhe für „Bombenkrieg und Flucht“ sowie Dagmar Chidolues Flugzeiten für „Alltag und NS-Erziehung“ werden detailliert analysiert, sodass ein stimmiges Panorama aktueller Inszenierungsweisen und ästhetischer Aspekte entsteht.

Abgerundet wird die Studie durch eine resümierende „Verortung“, die drei Tendenzen sehr deutlich werden lässt: Erstens verlangt die neuere zeitgeschichtliche Literatur kein vertieftes Wissen über die NS-Zeit von den jugendlichen Leserinnen und Lesern, da „es aufgrund der anthropologischen, auf emphatische Immersion abzielenden Konzeptualisierung der Texte nicht zwingend notwendig ist.“ Denn es komme durch diesen empathischen Zugang zum Dargestellten „auch hier zwangsläufig zu einer Vermittlung von Sachwissen – wenngleich diese insgesamt weniger systematisch erfolgt und auch Raum für Ambiguitäten lässt.“ Das verweist zweitens auf die Bedeutung der Innenperspektive für die narrative Gestaltung, die den subjektiven Gefühls- und Seelenzustand der Protagonisten ins Zentrum rückt. Drittens konstatiert Jung einen Wandel der nachweisbaren Topoi – das Verblassen von religiösen (Erlöser-)Motiven und der Präsentation antifaschistischer Helden gehe einher mit anthropologischen Perspektivierungen von Flucht- und Ghetto-Erlebnissen, auch durch eine wachsende Bedeutung von Emotion und Körper.

In diesem Kontext gelangt die Forscherin zu einem bemerkenswerten Ergebnis: „Der markanteste Topos mit Blick auf die Transnationalisierung ist der auf die literarische und psychologische Innenschau angelegte Initiationstopos, der sich in gleich sechs der besprochenen Werke wiederfindet und die jugendlich-adoleszente Identitätsfindung und Integration in die Welt der Erwachsenen und […] die gesellschaftlichen Strukturen thematisiert“. Daraus kann plausibel auf die erinnerungskulturelle Hinwendung zur Individualisierung und Subjektivierung geschlossen werden, die durchaus kritische Formen des Umgangs mit historischer und moralischer Schuld evoziert. Abgerundet wird der verdienstvolle und lesenswerte Band zu einer kulturellen Schlüsselfrage unserer Zeit durch den Hinweis auf Desiderata, die sich mit Blick auf die Transnationalisierungsthese und die Bedeutung von deklarativem sowie soziokulturellem Wissen über das NS-Regime bei der Rezeption durch Jugendliche stellen.

Titelbild

Britta C. Jung: Komplexe Lebenswelten – multidirektionale Erinnerungsdiskurse. Jugendliteratur zum Nationalsozialismus, Zweiten Weltkrieg und Holocaust im Spiegel des postmemorialen Wandels.
V&R unipress, Göttingen 2018.
310 Seiten, 55,00 EUR.
ISBN-13: 9783847108665

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