Wolfgang Koeppens verborgenes Leben

Seine „Gespräche und Interviews“ wirken wie Fragmente einer ungeschriebenen Autobiografie

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – ganz gleich, ob sie in Kultur, Wissenschaft und Kunst, in den Medien, im Sport oder in der Politik wirken – wecken Interesse. International bekannte Schriftsteller wie Thomas Mann, Günter Grass oder Heinrich Böll übten, auch ihrem jeweiligen Charisma entsprechend, zu ihrer Zeit eine öffentliche Rolle aus. Sie bedienten und genügten damit auch bestehenden Erwartungen. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki veröffentlichte 1966 erstmals einen Band mit kleinen polemischen, scharfsinnigen Schriften unter dem pointierten Titel Wer schreibt, provoziert. Ein Erzähler ist, lapidar gesagt, interessant. Nachfragen ergeben sich fast zwangsläufig. Der Literat lädt die Leserschaft ein, seinen Denkwegen und Erzählungen zu folgen, schon allein dadurch, dass er publiziert – und die Leser fragen zurück, gewöhnlich motiviert, interessiert und neugierig.

Wolfgang Koeppen indessen entzog sich gerne, ohne sich jedoch ganz entziehen zu können. Wie der von Hans-Ulrich Treichel sorgfältig edierte Band der Werkausgabe zeigt, stand der Schriftsteller Rede und Antwort. Koeppens Auskünfte über sich selbst und seine Zeit liegen nun gesammelt vor. Manchmal wirkt der Autor zögernd und ängstlich, manchmal überraschend mitteilungsfreudig. Er wurde 1906 in Greifswald geboren und starb 1996 fast neunzigjährig in München. Die Interviews in diesem Band verdeutlichen, dass Sorgen und Nöte – finanziell begründete Existenzängste – einen Künstler ausnehmend plagen können. Koeppen, schwermütig und oft depressiv, sah sich mit Erwartungen konfrontiert. Jahre und Jahrzehnte hindurch kündigte er einen Roman an, den er nicht abzuschließen vermochte.

In kurzer Abfolge hatte er in den 1950er-Jahren drei Romane publiziert: Tauben im Gras (1951), Der Tod in Rom (1953) und Das Treibhaus (1954). Er setzte die schriftstellerische Tätigkeit im Anschluss mit Reiseberichten und kleinen Prosastücken fort. Koeppen klagte über die „furchtbare Sklaverei“, die darin liege, „vom Schreiben leben zu müssen“. Er träumte davon, wie Marcel Proust, ein Erbe zu verzehren. So gern hätte er, materiell versorgt, in Ruhe seine Tage zugebracht, unbehelligt von der täglichen Sorge um Aufträge, die eine Fortsetzung der schriftstellerischen Lohnarbeit garantierten. Koeppen sagt in dem Gespräch Mein Tag ist ein großer Roman mit Christian Linder aus dem Jahr 1971: „Wer unglücklicherweise sein Brot verdienen muß, sollte keinen halbliterarischen Beruf wählen, nicht Redakteur, Dramaturg, Lektor werden, eher Börsenmakler, Bankangestellter oder Portier in einem Bordell, nichts, was an den Kräften zehrt.“ Ironisch verzweifelt und stilisiert, aber doch klarsichtig berichtet Koeppen oft von zermürbenden Engpässen finanzieller Art. Die Gegenwart sei zudem keine „lesende Zeit“. Er berichtet ernüchtert, auch hoffnungslos davon. Ein Schriftsteller gehöre zu den „Asozialen“, den „Bettlern“ und „Landstreichern“, ja zu den „Verrückten“. Weil er nie in Pension gehe, bleibe er aber jung. Auf den Vorschlag der Gesprächspartnerin Angelika Mechtel – 1972 –, ob ein Schriftsteller an eine „Umschulung“ denken solle, reagiert Koeppen empört und zornig. Er wolle lieber Bankier sein, als sich „trainieren“ zu lassen, um populäre „goldene Sachbücher“ schreiben zu können. Er sehe sich als „Mensch ohne Lebensplan“, der aber „weiterträumen“ wolle.

Dieser Wahrnehmungsweise bleibt er treu. 1985 besucht er Bonn, in seiner Erinnerung eine ehemalige „Provinzstadt“ mit Regierungssitz, in der es früher „kein einziges Kaffeehaus“ gegeben habe. Doch Bonn erblühte. Der Gast schwärmt von der „Jugend der Universität“, denkt an „die Studentinnen, die Studenten“: „Es ist alles ein sehr erfreulicher Anblick und der Anblick einer friedlichen Stadt, man glaubt im Augenblick, oder jedenfalls hatte ich den Eindruck, die Politik ist da, es ist ein bestimmtes Viertel, da spielt sie sich ab, aber sie ist eigentlich gleichgültig. Die leben ihr eigenes Leben, und wie ich jetzt diesmal fand: vergnügt. Das hat mir gefallen.“

Auch über eine Autobiografie in Episoden hat Koeppen im Alter nachgedacht. Mit dem nun vorgelegten Band, in dem über 50 Gespräche gesammelt sind, wird er als Person farbig koloriert und konturiert sichtbar. Im Gedächtnis bleibt besonders das Bild des schweigenden Autors haften. Sein Verleger Siegfried Unseld unterstützte ihn, gleichwohl sah sich Koeppen veranlasst, immer wieder die bevorstehende Fertigstellung eines Romanes anzukündigen. Einiges aus seinem Leben teilt der scheue Autor, der „geborene Junggeselle“, mit. Ungeachtet dessen war Wolfgang Koeppen verheiratet. Seine Frau Marion, eine Balletttänzerin, starb 1984: „Meine Arbeit und meine Liebe waren zwei. Ich schloß meine Frau von meiner Arbeit aus. Sie war Geliebte, Jugend, Lebensfreude, Schönheit. Ob ihr, was ich schrieb, gefiel oder nicht gefiel, ob sie das las oder nicht las, war für mein Schreiben überhaupt nicht entscheidend. Ich liebte sie. Das war mir genug.“ Sie seien ein „extremes Paar“ gewesen. Das schließe „echte, innige Liebe“ nicht aus.

Ein Jahr nach dem Tod der Ehefrau führte Reich-Ranicki ein längeres Gespräch mit Koeppen. Er fragte den Schriftsteller, der mit Klaus Mann gut bekannt gewesen ist, konkret nach „Männerfreundschaften“. Koeppen verneinte gleichgeschlechtliche sexuelle Kontakte, berichtete aber von aus heutiger Sicht höchst verstörenden Begenheiten. Freimütig erzählte er, dass sein Griechischlehrer „Päderast“ gewesen sei. Koeppen erinnerte sich in dem Fernsehinterview mit dem ZDF daran, wie er im Alter von 15 Jahren davon erfahren habe: „Er erklärte mir ganz deutlich, was mir sehr einleuchtete, daß ein großer Unterschied zwischen einem Päderasten und einem Homosexuellen bestehe. Er war keine Spur homosexuell. Er liebte Knaben in einer ästhetischen Weise, weil er Knaben schön fand“.

Koeppen unterscheidet hier die „absolut erotische“ von der „sexuellen Ebene“, offensichtlich auch an die hellenischen Lustbarkeiten denkend, die von Platon über Johann Joachim Winckelmann bis hin zum Kreis um Stefan George und von vielen Reformpädagogen im 20. Jahrhundert verklärt wurden. Man darf ihm durchaus ein gewisses Maß an Naivität zuerkennen. Die Dimensionen der Realitätsfremdheit in Bezug auf die Päderastie sind jedoch unverkennbar. Er selbst sei „empfänglich dafür in späteren Jahren“ gewesen, wenn er die „Bekanntschaft eines schönen Knaben“ gemacht und begonnen habe, diesen „als schön zu verehren“. Zugleich erklärt er: „Aber das ist auch alles. Homosexuell in dem Sinne, wie das heute verstanden wird, war ich nie und habe auch kein Verlangen danach gehabt.“ Er selbst sei „in entscheidenden Situationen“ vor allem „allein“ gewesen, offensichtlich auch Obsessionen ausgeliefert. Reich-Ranicki schien nach diesen Mitteilungen zu verstummen. Der Literaturkritiker wechselte das Thema.

1988, drei Jahre später also, schilderte Koeppen im Gespräch mit Volker Hage wiederum Fantasien. Der alte Schriftsteller war von Singapur nach Genua gereist und hatte sich auf dem Schiff anscheinend gelangweilt:

Der einzige Mensch, der mich an Bord interessierte, war eine junge Engländerin, ungefähr 16 Jahre alt. Die wurde aber von einem alten Engländer streng bewacht. Es gab noch ein sehr hübsches Mädchen, die den Gebrauch der Rettungsringe vorführte, eine Baltin vielleicht – ich dachte: Wie wäre das, mit der jetzt von Bord zu fliehen? Die könnte in Paris oder New York glatt als Mannequin arbeiten. Aber sie hat meinen Gruß nie erwidert.

Aus beiläufigen Beobachtungen entwickelt Koeppen im Gespräch Anekdoten und Episoden. So zeigt er – allgemein formuliert – seine Sympathie und zumindest geistige Neigung zum Schönen in menschlicher Gestalt auf. Oder werden nur bloße, biedere Klischees mitgeteilt? Soll ein hübsches Mädchen unbedingt ein Model werden müssen – und warum?

Der Alltag des Schriftstellers ist der Alltag des Schriftstellers. Ein Schriftsteller kommt dazu, mehr als Schriftsteller denn als Mensch zu leben. Es befriedigt ihn wohl. Unterliegt er der Liebe, wählt er einen Genossen, ist der das Opfer. Der Schriftsteller ist Proteus. Er braucht die Einsamkeit oder die Geselligkeit. Während der einen Arbeit spricht er mit Menschen, während der anderen meidet er jedes Gespräch. Er ist kontaktarm und kontaktsüchtig. Er ist ein Beobachter, ein Voyeur.

Koeppen, der „heitere Melancholiker“, begegnet uns in seinen Selbstauskünften als eine eigensinnige, facettenreiche und verträumte Gestalt. Der ängstliche Einzelgänger sagte von sich: „Ich bin kein handelnder, ich bin ein beobachtender Mensch.“ Die Beobachtungen, die er sammelte, deutete er – wie jedermann sonst – vor dem Horizont seiner Anschauungen, Erfahrungen und Fantasien. Dieser Band schenkt eine Fülle von Einsichten zu Koeppen.

Titelbild

Wolfgang Koeppen: Werke in 16 Bänden. Band 16: Gespräche und Interviews.
Herausgegeben von Hans-Ulrich Treichel.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
448 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783518423431

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