Die eine Minute

Annette Steinsiek und Ursula A. Schneider haben Paula Schliers düsteren Roman über eine Jugend in den 1920er Jahren neu aufgelegt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bis vor nicht allzu langer Zeit lasen das Publikum und mehr noch die Fachgelehrten literarische Werke von Schriftstellerinnen in aller Regel autobiografisch. Denn, so die misogyne Annahme, Frauen könnten nicht schöpferisch tätig sein, sondern allenfalls aufschreiben, was sie erlebt haben. Glücklicherweise ist wenigstens dieses frauenfeindliche Vorurteil inzwischen Geschichte.

Nun gibt es bekanntlich tatsächlich Romane von Frauen – und selbstverständlich ebenso von Männern –, die einen starken autobiografischen Charakter haben. Es kann sogar sein, dass es ebendieser ist, der ein Werk interessant macht. So ist es etwa im Falle von Paula Schliers Roman Petras Aufzeichnungen. Dass die Autorin zugleich eine große schöpferische Kraft besitzt und fiktionale Szenen schaffen kann, zeigt Schlier schon zu Beginn des Romans, dessen irritierenderweise mit Vorwort betitelter erster Abschnitt eine traumartig-surreale Sequenz entwirft. Wenn sich die Autorin dabei eines ungelenk erscheinenden Stils bedient, könnte dies ein Kunstkniff sein, da sie die Alptraumwelt so in die Sprache eindringen lässt. Wie sehr der Roman durchkomponiert ist, wird etwa im letzten Abschnitt deutlich, der ebenfalls mit einer ähnlich traumhaften Sequenz endet. Oder wenn die Autorin in der Mitte des Romans das „helle Lachen der Festbesucher“ auf dem Oktoberfestes mit dem traurigen Dasein armer Waisenkinder, die in „langen Holzbaracken“ ihr junges Leben fristen, kontrastiert.

Die neun Kapitel des Romans schildern zumeist einzelne ‚Episoden‘ im Leben der 1899 geborenen und somit in der von 1916 bis 1924 spielenden Handlungszeit heranwachsenden Protagonistin. Schon der Untertitel Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit spricht diese Jugendlichkeit Petras an und weist dabei zugleich auf die zeitgeschichtlich bedingte Unfreiheit ihrer Lebensumstände hin. Neben den Stationen von Petras Jugend stellen einige Kapitel Orte und deren BewohnerInnen vor, die im Leben der Ich-Erzählerin einmal eine wichtige Rolle inne hatten, wie etwa die „sehnsüchtigen Jahre“ in einer „kleinen toten Stadt“ oder ein „altes Haus in Frankfurt“, in dem ihre „fünf wunderlichen Großtanten“ lebten. Namentlich ihre herzensgute Tante Anna und ihr sich qualvoll hinziehendes Sterben faszinierten die Protagonistin in ihrer „Kinderzeit“.

Petra selbst würde zwar gerne Medizin und Philosophie studieren, wählt dann aber die Fächer Nationalökonomie, Geschichte und Literatur, denn es sei „schließlich gleichgültig, was ich lernte, wenn ich nur ‚hindurchkam‘, ‚hinaufkam‘“. Das mag karriereorientiert klingen, zielt aber doch eher auf die schlichte Sicherung des Lebensunterhaltes. Dabei hat sie ihre ursprünglichen Überlegungen zur Studienwahl noch damit begründet, sie wolle ihre „Arbeit ‚im Dienste einer Sache‘“ leisten, denn dies sei „das Beseligendste auf der Erde“. In dieser schwärmerischen Begründung scheint von Ferne das Richard Wagner zugeschriebene Wort anzuklingen „Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun“. Das in dieser bekannten Form verkürzte ‚Zitat‘ geht auf Wagners 1867 veröffentlichten Aufsatz Deutsche Kunst und deutsche Politik zurück, in dem er schreibt: „deutsch sei […], die Sache, die man treibt, um ihrer selbst und der Freude an ihr willen treiben“. Dem entsprechen Petras Überlegungen sogar noch stärker. Wie sich zeigt, hält sie jedoch nicht an ihnen fest.

Die Romanhandlung beginnt 1916, also mitten im Ersten Weltkrieg, in dem die zu diesem Zeitpunkt 17-Jährige in einem Lazarett verwundete und sterbende Soldaten pflegt, womit sie sich zugleich als Pflegerin am Krankenbett der falschen Verhältnisse erweist, werden die Patienten doch, kaum halb genesen, wieder an die Front geschickt. Ein Dilemma, aus dem es schwerlich ein Entrinnen gibt und das sich im Roman auf verschiedene Weise wiederholt. Die nach dem Vorwort nun noch stärker zurückgenommene, schon früh als neusachlich identifizierte Sprache lässt das alltägliche Grauen in der Einrichtung fühlbarer werden, als es womöglich ein expressiver, expressionistischer Stil vermögen würde. Gelegentlich wird dieser Stil allerdings mit Wendungen wie beispielsweise von „in den Tod versunkenen“ Sterbenden durchbrochen. Oder mit der Ahnung, dass man an den Betten eines Toten nicht weinen darf, denn „der Tote spürt alles“. Auch Petras Reflektionen etwa über das „wahre Leben“, „dessen Ausdruck in Übereinstimmung mit dem inneren Anspruch stehen“ müsse, oder über „das reine Leben“, „dessen Bild dem Ton des Lebens entnommen“ sei, klingen nicht eben neusachlich. Ebenso wenig eine stimmungsvolle Wendung, die den „Wind den Horizont blau fegen“ lässt. Insgesamt aber ist der Stil durch eine lakonische Erzählweise geprägt, die nicht frei von Ironie ist, und kann somit durchaus als neusachlich durchgehen.

Petras Weg führt sie in zwei Redaktionen, in denen sie sich als „Schreibmaschinenmädchen“ verdingt. Zunächst arbeitet sie bei einem eher liberalen Blatt. Dort erfährt sie, dass die Journalisten zwar „in ihren Artikeln Demokraten“ sind, in „ihren privaten Äußerungen jedoch nicht“. Später nimmt sie eine ähnliche Stelle „in der Redaktion der Patrioten“ an – und nun wird der autobiografische Gehalt des Romans bedeutend. Denn bei dieser Redaktion handelt es sich um die des Völkischen Beobachters, in dem die Autorin selbst tatsächlich einige Monate arbeitete. Das diese Episode erzählende Kapitel bildet somit nicht von Ungefähr das Zentrum des Buches. In seinem Mittelpunkt wiederum stehen über einige Dutzend Seiten hinweg reichende tagebuchartige Aufzeichnung vom 24. September bis zum 8. Dezember 1923, also gerade die Monate vor und nach Hitlers gescheitertem Versuch der Machtergreifung am 9. November. Als Antifaschistin treiben Petra und wohl auch ihre Erfinderin in der Redaktion ein gewagtes Spiel, in dem zumindest Petra nicht immer das Richtige tut, oder genauer gesagt: Sie unterlässt nicht immer das Falsche. So bewahrt sie etwa Alfred Rosenberg vor der Verhaftung. Ob dies auch auf Schlier selbst zutraf, ist unbekannt. Jedenfalls erkennt Petra während ihrer Zeit bei den ‚Patrioten‘, dass „Aufregung“ das „Wesen der Bewegung“ ist, nicht etwa „Leidenschaft“. Denn die Bewegung „kennt nur Lautsein. Leidenschaft wäre leise“, urteilt die Ich-Erzählerin.

Allein dieses Kapitel macht das Buch lesenswert und auch heute noch wichtig. Weniger wegen der historischen Darstellung der Zeit, sondern vielmehr aufgrund der politischen Psychogramme – oder „Mentalitätsstudien“, wie die Herausgeberinnen Annette Steinsiek und Ursula A. Schneider im Nachwort sagen –, welche die Autorin in dem Kapitel von bekannten und weniger bekannten Nationalsozialisten zeichnet. Überhaupt besitzt Schlier das Vermögen, den Lesenden Personen, ihr Wesen und ihre Lebensumstände mit nur einem Satz über eine scheinbare Belanglosigkeit deutlich vor Augen zu stellen.

Bildet die Kritik an der faschistischen Redaktion und somit am faschistischen Wesen respektive dem Wesen des Faschismus auch den Kern des Romans, so reicht seine kritische Haltung doch weit über dieses Thema hinaus. Die den Roman durchdringende Sozial- und Gesellschaftskritik zielt nicht zuletzt auf die herrschenden patriarchalischen Geschlechterverhältnisse. Sowohl im privaten als auch im öffentliche Bereich lässt Schlier sie ein ums andere Mal hervortreten. Gerade auch am Arbeitsplatz, an dem die demokratischen Redakteure die „Schreibmaschinenmädchen“ belästigen, die einer trostlosen Zukunft eines „von vorneherein todgeborenen Lebens“ entgegenarbeiten.

Der männliche Blick auf die Frau wiederum wird in einer Szene auf der Rutschbahn des Münchner Oktoberfestes bloßgestellt. Die herunterrutschende „Dame erschrickt“ beim plötzlichen Start, „sieht oben in der Dunkelheit nichts, ist jedoch von dem grellfarbigen Licht unter sich geblendet und weiß nicht, was mit ihr geschieht. Gerade darin besteht der Humor. Der untenstehende Herr kann ganz genau sehen, wie sich die Dame oben benimmt, wie sie sich ängstigt, wie sie abfährt und welche Unterwäsche sie trägt.“ Eben um dieses Anblicks willen ist er als erster hinuntergerutscht.

Angesichts solcher und anderer Kritik an den patriarchalen Verhältnissen und sexistischen Verhaltensweisen verwundert eine Passage über eine eher beiläufig erwähnte Ehe umso mehr:

Der Mann war syphilitisch, und Frau und Kinder hatten die Folgen zu tragen. Die ältesten Söhne waren Trinker und gewalttätig, sie schlugen die Mutter. Für die Kleinsten, die mit Ausschlägen bedeckt waren, fehlten die Windeln, und die schulpflichtigen Kinder mußten betteln gehen. Trotz dieser Schatten war das Familienleben der Menschen ein schönes, weil die Frau nicht aufhörte, Mann und Kinder zu lieben.

Das klingt zynisch, scheint aber völlig ernst gemeint. Doch kann es das im Kontext des Romans wohl kaum sein. Zumal die im Text geschilderten Verhältnisse insgesamt denkbar düster, ja von Hoffnungs- und Ausweglosigkeit geprägt sind; vom Kriegslazarett zu seinem Beginn bis hin zu einer Eisenbahnfahrt zu seinem Ende hin. Entsprechend freudlos ist Petras Alltag. „Wir kommen den ganzen Tag nicht zu uns. Allein vor dem Einschlafen, zwischen Betäubung und Schlaf ist eine Minute, eine einzige, die uns wach findet“, räsoniert sie. „Um ihretwillen muss alles ertragen werden, jede Qual, jeder Beruf, der keiner ist, denn sie ist es ja, die uns nicht heimisch werden läßt in diesem fremden Leben.“

Annette Steinsiek und Ursula A. Schneider haben einen umfangreichen Anhang erstellt. Ein Stellenkommentar unternimmt es, eventuelle „Verständnisschwierigkeiten zu vermindern“. Vor allem aber entschlüsselt er die Namen des Romans, was insbesondere im Abschnitt über Petras Arbeit in der Redaktion der ‚Patrioten‘ wichtig ist. In einem kenntnisreichen und darum instruktiven Nachwort folgen die Herausgeberinnen zudem manchen bisher unbekannten „Lebensspuren“ der Autorin und gehen den Verschränkungen von Roman und Schliers autobiografischen Aufzeichnungen nach. Schließlich schlüsselt der Anhang „Textzeugen und Entstehungsgeschichte“ detailliert auf und zeichnet die Rezeptionsgeschichte des Romans nach.

Mit ihrer Neuausgabe von Petras Aufzeichnungen wollen Steinsiek und Schneider einen Beitrag zu der von Evelin Polt-Heinzl geforderten „‚Kanonrevision‘ in der Literaturwissenschaft“ leisten. Ob dies gelingen wird, bleibt abzuwarten. Völlig unverdient wäre sie im vorliegenden Fall jedenfalls nicht.

Titelbild

Paula Schlier: Petras Aufzeichnungen oder Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit.
Herausgegeben von Ursula Schneider und Annette Steinsiek.
Otto Müller Verlag, Salzburg 2018.
206 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783701312566

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