Wir sind Menschen

Und weil das noch nichts aussagt, hat Wolfgang Welsch nun – wider den Anthropozentrismus – „Wer sind wir?“ vorgelegt

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits in vorangegangenen Publikationen wie Homo mundanus, aber auch Mensch und Welt. Eine evolutionäre Perspektive der Philosophie und Immer nur der Mensch? Entwürfe zu einer anderen Anthropologie legte Wolfgang Welsch eindrucksvoll und folgerichtig ein nicht wegzudenkendes Problem anthropozentrischer Denktraditionen dar. Beide Arbeiten vollziehen ein Dogma nach, das Welsch die „anthropische Denkform“ nennt. Diese beschreibt nicht nur eine starre Position, nach der „all unser Erkennen, das gegenwärtige wie das zukünftige, menschlich gebunden ist und nichts anderes als menschlich bedingte und bloß menschlich gültige Einsichten hervorbringen wird“ (Mensch und Welt), sondern erfasst zudem eine fundamentale Bewegung des Denkens, die nicht die zentrale epistemische Stellung des Menschen als Problem in den Vordergrund rückt, sondern die Gerichtetheit dieser Stellung in Relation zu sonstigen Entitäten: Es gehtin der anthropischen Denkform nicht nur primär um den Menschen, sondern alles Denken geht vom Menschen für den Menschen aus. Dabei sei, so lernt man von Welsch, weniger wichtig, dass der Mensch im Zentrum steht, sondern mehr eine dieser Denkform inhärente Bewegungs- und Argumentationsfigur, innerhalb derer das Nicht-Menschliche von vornherein als unzugänglich objektiviert und verfremdet wird. Mit anderen Worten: Die in der westlichen Philosophiegeschichte so häufig wiedergekäute Idee, man könne in die Welt nicht anders schauen als anthropomorphisierend, hält Welsch für ziemlich voreilig. Denn sie präsupponiert, dass Mensch und Welt grundsätzlich disparat seien, dass der Mensch gewissermaßen also als Erdenfremdling auf den Planeten gekommen sei, mit allen anderen Organismen auf der Erde tatsächlich eher weniger als mehr gemein habe und über diese Wesensverschiedenheit nicht hinwegdenken könne.

Diese fundamentale Kritik Welschs zieht sich auch durch sein neues Werk Wer sind wir?. Seit Anbeginn versuchen die Menschen, sich selbst in der Welt zu verorten. Am liebsten tun sie das, indem sie behaupten, sie seien nicht Tier, aber auch nicht Gott, sondern irgendetwas dazwischen. Sie seien nicht ganz von Instinkten geleitet, aber auch nicht vollkommen vernünftig. Sie mögen Geschlechtsverkehr, aber auch höhere Mathematik. Und so weiter. Diese aus dem Dualismus von Geist und Materie rührende Dichotomie ist seit Jahrtausenden dieselbe. Auch heutzutage vertritt die Mehrheit der Menschen die Auffassung, Mensch und Tier seien grundverschiedene Wesen, das eine herrlich, das andere dämlich, jenes rational, dieses instinktgesteuert. Jemandem tierliche Eigenschaften zuzuschreiben, das ist in diesem Denkmuster meist immer noch beleidigend (außer natürlich, man ist elegant wie eine Katze oder süß wie ein Hamster). Welsch langweilen derartige Weltanschauungen. Immer wieder versuchte er in vergangenen Publikationen, die anthropologischen Konstanten der Philosophie neu zu denken. Wo der Glaube, der Mensch habe sich eines Tages vom Stammbaum „entkoppelt“ und habe dann zur „Kultur“ gefunden, erschreckende Persistenz beweist, ist Welschs Baustelle. Diese ist besonders gigantisch dort, wo es um Kunst geht. Denn auch unter Tierliebhaber*innen gilt es als ausgemachte Sache, dass Kunst Menschensache sei.

Wer sind wir? setzt einen neuen Fokus auf ästhetische Fragestellungen, die mit Welschs bisherigen Erkenntnissen verknüpft werden. Hatte die Moderne es trotz Darwin meisterhaft geleistet, anthropozentrische Denkformen zu befördern, so setzt Welsch dieser Bewegung die evolutionäre Anthropologie entgegen, ohne die es überhaupt nicht möglich sei, über „den“ Menschen zu sprechen:

Heute kann man den Menschen nicht mehr als ein Sonderwesen angesehen, das mit einer supranaturalen Kraft namens Rationalität begabt ist. Ja man kann den Menschen gar nicht verstehen, indem man nur auf den Menschen blickt. Man muss vielmehr auf die Gemeinsamkeit und Kontinuität mit anderen Tieren schauen und der Tatsache Rechnung tragen, dass sich der Mensch ebenso wie sie im langen Zug der Evolution entwickelt hat.

Vernunftgläubige Positivist*innen tendieren nach dieser Erkenntnis dazu, vor allem das „Böse“ im Menschen aus dem Tierreich abzuleiten, dem die mit der menschlichen Kultur hinzugekommene Vernunft nun kontrollierend, moralisierend oder besänftigend gegenüberstehe. Das „Gute“ käme damit weiterhin vom Menschen, ja, am besten bauen wir so etwas wie ethische Roboter, und die sind dann perfekt. Künstliche Intelligenz scheint vielen bereits die Antwort auf alles zu sein. In dieser Perspektive aber ist die tierliche Existenz jene, die hinter uns liegt. Zahlreiche kanonisierte Philosoph*innen porträtierten das menschliche Dasein in dieser Weise als eine Zwischenstufe zwischen animalischen und technischen oder gar göttlichen Welten. Welsch wehrt diese immer beliebter werdende, oft noch populärwissenschaftlich zementierte Position ab.

Doch nicht nur das. Diesmal geht er einen Schritt zurück und damit zugleich weiter: Auch ästhetische Betrachtungen, etwa unsere ästhetischen Präferenzen, Wahrnehmungsmuster, unsere Kreativität, unser Sinn für Musik und sogar kulturelle Sprünge müssen „nicht-anthropisch“ gelesen werden. Welsch appelliert damit insbesondere an Geisteswissenschaftler*innen, sich nicht nur einfach an das evolutionsbiologische Erbe des Menschen zu erinnern, sondern es als konstitutive Voraussetzung allen Denkens, Wahrnehmens und Handelns ernst zu nehmen. Eine seiner Thesen ist beispielsweise, dass das menschliche Design gegenüber dem wirklichkeitsimmanenten nicht kategorial anderes sei, so wie beispielsweise auch die intellektuellen Fähigkeiten des Menschen sich nicht kategorial von denen anderer Tiere unterscheiden, sondern graduell. Gerade deshalb sind Menschen nicht „nur“ Wesen der Evolution, sondern auch – wie so viele andere handelnde Wesen – des Übergangs. Welsch möchte in Wer sind wir? aufzeigen, dass es deshalb keinen Sinn hat, „den“ Menschen auf eine oder mehrere Eigenschaften festzulegen, denn dies sei nicht möglich.

Zwar wurde dem Autor in der Vergangenheit zu Recht vorgeworfen, sich zuweilen in mystische, quasireligiöse Vorstellungen zu verlieren, die keinen analytischen Boden mehr haben. Welsch selbst weiß, dass er Ernst Haeckels Geschichte im Grunde nur fortschreibt. Zudem wiederholt er in jedem seiner Bücher im Grunde dieselbe These. Dennoch sollte das Grundbestreben des Autors nicht schon deshalb ins Abseits gedrängt werden. Wir können, auch wenn einige Passagen etwas großspurig wirken, immer noch einiges von ihm lernen. Auch dann, wenn seine Begriffe sehr unscharf werden und der Autor – manchmal ganz plötzlich – den philosophisch-analytischen Pfad zugunsten träumerischer Fantasien über die von ihm sogenannte Evolution des Kosmos verlässt, ist Welsch ein nennenswerter Denker. Zwar ist er nicht der erste Philosoph, der das cartesianische Bild von Mensch und Tier ausführlich kritisiert – auch, wenn er sich selbst so darstellt. Doch er mag einer der wenigen sein, die sich trauen, ganze Denksysteme und -traditionen von sich zu weisen, wenn ihre Prämissen nicht stimmen.

Besonders spannend sind seine Exkurse in die moderne Kunstgeschichte, so bezeichnet er Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat als ein Beispiel für Kunst, die das anthropische Prinzip überschritten habe. Auch Arbeiten von Jean Dubuffet und James Turrell ordnet er dieser im positiven Sinne enthumanisierenden ästhetischen Bewegung zu. Man muss diese Ansichten nicht teilen, aber sie bringen immerhin frischen Wind in die kunsthistorische Diskussion. Dann wieder übernimmt sich Welsch ein wenig, wenn er gleich in Annahmen über ein musikalisches Universum abdriftet – aber das alles ist durchaus sympathisch geschrieben und sollte immerhin ein rudimentäres Nachdenken über musikalische Strukturen anregen. Insbesondere das Kapitel, in dem er sich mit der Frage auseinandersetzt, inwiefern bereits Wahrnehmungsstrukturen wirklichkeitsverändernd wirken, ist lesenswert. Die Komplexität der Querbezüge und Verweise, die der belesene Autor dabei vornimmt, spricht für sich. Das dünne Buch platzt indes vor darwinistischer Begeisterung. Eine der wichtigsten Erkenntnisse, die man aus Wer sind wir? mitnehmen kann, ist deshalb wohl die, dass eine Ästhetik, die zeitgenössischen Anforderungen einer wachsenden, globalisierten, ökologisch betrachtet sogar selbstzerstörerischen Welt gerecht werden möchte, trotz ihrer vermeintlich sterilen Geisteswissenschaftlichkeit nicht vergessen darf, dass der Mensch erst einmal nichts anderes ist als ein ziemlich gewitzter Affe, der sich noch nicht ganz im Griff hat – und abgefahrene Kunstwerke erschaffen hat. Vor dieser Idee, zeigt uns Welsch letztlich, müssen wir keine Angst mehr haben. Aber das – um ganz ehrlich zu sein – wussten auch schon andere, wenn auch wenige Philosoph*innen. Vielleicht hatte Welsch einfach, wie so viele, das Pech der späten Geburt.

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Wolfgang Welsch: Wer sind wir?
nap - new academic press, Wien 2018.
166 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783700320777

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