Der rheinische Weltfreund aus Karlsruhe

Peter Sloterdijk setzt sein Notizen-Werk mit drei weiteren Jahrgängen fort und bestreitet in „Polyloquien“ eine Zitat-Konferenz

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Religionen, das sind Schuldgefühle mit verschiedenen Feiertagen“ – dieses Bonmot aus dem Netz fand sich bereits in Peter Sloterdijks erstem Notizen-Band Zeilen und Tage. Notizen 2008–2011 (2012). Um eine Gesamtcharakteristik der Sammlung von Notizen aus den Jahren 2011 bis 2013 zu geben, könnte man in Analogie dazu formulieren: Die Neuen Zeilen und Tage, das ist ein Weltkaleidoskop mit Kalender. Wie bereits im Vorgängerband will der Autor diese Notate weder als „Tagebuch im eigentlichen Sinn des Worts“ verstanden wissen, aber auch nicht als „Denk-Tagebuch“ oder „Arbeitsjournal“. Wenn er sich dafür selbst ganz unbescheiden in der Nähe von Paul Valérys „Cahiers“ verortet, sollte das niemanden abschrecken. Die Notizenjahrgänge Sloterdijks sind nicht nur nicht thematisch, sondern rein chronologisch-kalendarisch geordnet und vor allem ungleich unterhaltsamer zu lesen. Das liegt daran, dass die Einträge – nachträgliche Umstellungen, Auslassungen und Nachbesserungen einmal beiseitegelassen – äußerst heterogen sind. Das kontingente Nacheinander des spontan Notierten sorgt gleichsam von selbst für Abwechslung.

Man findet in den Notizen auf Reisen und Exkursionen notierte Beobachtungen von scheinbar Banalem – ein Schwan, der auf dem Wasser landet, eine Mutter mit Kind in einem Zugabteil, eine Naturstimmung –, die in ihrer Genauigkeit beeindrucken, in der sarkastischen Pointierung über sich hinausweisen oder aber durch skurrile Bildfantasie überraschen („Reiher in goldgrünen Feldern, gebogen wie aristokratische Büroklammern“). Hier und da lassen manche Notizen wie etwa anlässlich einer Diätkur oder melancholische Betrachtungen über Vergänglichkeit und Tod das Bewusstsein des Autors von seinem vorgerückten Alter aufscheinen. Sloterdijk weist bereits in seiner Vorbemerkung darauf hin, dass das Notizenmachen und Wiederlesen von früheren Notizen für ihn nun auch der Orientierung in einem immer kürzer werdenden Leben dient: „Zur Ironie des Älterwerdens gehört, daß man sich fragt, wieviel Vergangenheit einem noch bleibt“. Große Vortragsreisen nach Abu Dhabi, Sankt Petersburg und Irvine/Kalifornien zeigen in verknappter Form das Talent des Autors als Reiseschriftsteller, wenn er unter anderem festhält, was ihm in der fremden Kultur bemerkenswert erscheint.

Weitaus größeren Raum nehmen Kommentare zu Zeitereignissen ein, sei es die Tötung des Terroristen Osama Bin Laden, deren Rechtfertigung durch einen US-amerikanischen Juristen in einer Zeitschrift Sloterdijk zu einer neunseitigen empörten Replik herausfordert, sei es die Affäre Strauss-Kahn, das Kölner Beschneidungsurteil oder das Massaker von Anders Breivik in Norwegen: Das vermeintlich sattsam Bekannte, von den Medien seinerzeit erschöpfend Traktierte erscheint im Lichte von Sloterdijks Kommentaren neu fokussiert, aufgefrischt und vertieft zum Exemplarischen.

Wer tagebuchartige Notizen verfasst, ist von Begründungspflicht entbunden und kann schreiben, was ihm durch den Kopf geht. So ertappt man sich als Leser bei einem „Endlich sagt’s mal jemand!“, wenn der Autor, von einer Fernsehsendung angeregt, sich in einem Trommelfeuer von Spitzen über den schon lange vor seinem Nobelpreis zum Intellektuellen-Hype gewordenen Sänger Bob Dylan auslässt: „Mit Dylan wurde das Singen, ohne es zu können, zur Klanggestalt einer Ära“, „er wirkt heute ein wenig wie eine Lagerhalle, in der alle Arten von kunstähnlichen Produkten aufbewahrt werden“. Ebenso garstig wird etwa der ergraute Altmarxist Wolfgang Fritz Haug als exemplarisch für das „Elend der alternden Intellektuellen“ abgefertigt: „Das alt-linke Gerede wirkt jetzt so abgenutzt wie ein Che-Guevara-Foto auf einem Ein-Euro-Feuerzeug“. Das sind herrlich bissige Sottisen von funkelnder Karl-Kraus’scher Boshaftigkeit – oder vielleicht besser noch: „Slottisen“; wie der Autor einmal in einem Interview bekannte, wurde er als Schüler „Sloti“ gerufen. Aber wir begegnen auch Habermas wieder, dem alten Gegenspieler Sloterdijks, dessen Referendums-Option in der Griechenlandkrise dieser als „typische Habermasiade“ aufspießt.

Doch so oft man sich die unzähligen Bonmots und Aphorismen anstreichen möchte (auch originelle Schöpfungen wie „eingebettete Rezensenten“ oder „Europa der zwei Befindlichkeiten“ zählen dazu) – seien sie aus des Autors eigener Feder oder von ihm zitiert –  so oft wird man auf Autoren und Werke neugierig, die in den zahlreichen Kommentaren zu Lesefrüchten erwähnt werden. Sloterdijks gesamtes Werk ist ja ein einziger Lesefruchtgroßhandel. In einem Interview verrät er einmal: „Materialreichtum ist eines meiner Markenzeichen. Ich schreibe immer im Zwiegespräch mit einer Bibliothek. Hierin bin ich mit Hans Blumenberg verwandt“. Die Spanne dieser Lesefrüchte reicht von zeitgenössischen US-Publizisten wie Malcolm Gladwell über den halbvergessenen Soziologen Eugen Rosenstock-Huessy über Menander-Komödien und apokryphe Tagebücher des Ancien Régime bis hin zu Forschungsliteratur im Zusammenhang mit der Arbeit am Buch Die schrecklichen Kinder der Neuzeit oder am Libretto zur Babylon-Oper Jörg Widmanns. Der geistige Einzugsbereich Sloterdijks macht an keiner Grenze halt, auch nicht an der zum Fernsehen und zur populären Kultur. So wie einem König Midas alles zu Gold wurde, was er anfasste, scheint dem philosophischen Schriftsteller jede Trouvaille zum Ausgangspunkt einer kultur- oder ideengeschichtlichen Deutung oder zum Baustein in einem bereits skizzierten Gedankengang zu werden. Von der Seite des Lesers erscheint der Autor in dieser Notizensammlung als Flaneur durch die Ideengeschichte, aber sie gibt auch einen Einblick in dessen Arbeitsweise und Denkstil, was seine Hauptwerke betrifft. Das rezipierte Gedankengut ist nichts, dem er sich distanziert und argumentativ näherte wie andere Philosophen, sondern unzählige Fundstellen aus Kultur- und Ideengeschichte werden zum Ferment seiner Gedankengänge, die in seinen Werken mit überbordender theoretischer Fantasie und sprachschöpferischem Einfallsreichtum auf Hunderten, ja Tausenden (wie in der Sphären-Trilogie) von Seiten entfaltet werden. Die Notizbücher sind eine Art erstes Auffangnetz oder Sammelbecken für dieses Gedankenmaterial.

Da die Lesefrüchte aber nur einen Typus neben anderen in diesem Ideen-Kaleidoskop von Notizen sind, ist das abwechslungsreicher zu lesen als etwa die vergleichbaren Notizhefte des Publizisten und Ideengeschichtlers Henning Ritter (2010), die seinerzeit ebenfalls ein Publikumserfolg waren. Doch dieser Gelehrte und Kenner des 18. Jahrhunderts hätte sich wohl keine saloppen Umspielungen klassischer Zitat-Topoi erlaubt wie die folgenden: „Der gestirnte Himmel über mir und der Schweinehund in mir“, „Ein Kantianer im Hotel: Der Rauchmelder über mir und der Rauch der Doppeldeckblatt-Havanna in mir“.

Bleibt am Schluss die Frage: Wird es einen dritten Band von Sloterdijk-Notizen geben? Man könnte den Autor beim Wort nehmen und ihm das Lebensprojekt seines französischen Vorbilds Paul Valéry vor Augen halten: Allein die zwei Dekaden von 1894 bis 1914 der Cahiers füllen dreizehn Bände, es folgten bis zum Lebensende noch drei weitere. Allein das wäre wohl unangemessen und motivationspsychologisch unklug. Eine literaturgeschichtliche (und nur scheinbar abwegige) Parallele mag da weiterführen.

Vor rund 200 Jahren hat ein anderer Schriftsteller aus Karlsruhe mit einer Gebrauchsform Literaturgeschichte geschrieben: der Theologe Johann Peter Hebel. Der von ihm herausgegebene Kalender Der rheinische Hausfreund war der publikatorische Rahmen für längst kanonisch gewordene, das Genre prägende Kalendergeschichten. Bei dem Philosophen Peter Sloterdijk, der, trotz einiger Romane, kein begnadeter Erzähler ist, der aber auch ein kalendarisches Genre betreibt, als privates Gedanken-Tagebuch nämlich, wird im subjektiven Fokus eine Weltfülle beleuchtet, wie sie dem Aufklärer Hebel in seiner Zeit mit einem in volkspädagogischer Absicht gestalteten eigentlichen „Kalender“ mit ebenfalls heterogenen Textelementen vorschwebte. Die Kalendergeschichten und der spätaufklärerische Geist Hebels haben die provinziell-bodenständige Bindung des „Hausfreundes“ und seinen pragmatischen Zweck transzendiert, die Notizen-Jahrgänge des Karlsruher Philosophen bilden eine Art retrospektiven Kalender der globalen Diskurse und intellektuellen Stimmen, an die Stelle der Volkspädagogik ist die (säkulare) Zeitdiagnostik getreten: Johann Peter Sloterdijk – unser Kalendermann und rheinischer Welt-(statt Haus-)freund für die kommenden Jahre.

Wer nun Lust bekommen hat, die Hauptwerke des Philosophen näher kennenzulernen, mag zu dem von seinem Lektor Raimund Fellinger zusammengestellten Brevier Polyloquien greifen. Es ist, obwohl gerade 80 Seiten kurz, keine der populären Sammlungen mit nach Themen geordneten Zitaten aus den Werken berühmter Schriftsteller, sondern stellt ein imaginäres Kolloquium von vier Fachleuten dar, die alle thematische Dimensionen von Sloterdijks Schaffen abdecken und denen entsprechende Passagen in den Mund gelegt sind. (Der Kunstbegriff „Polyloquien“ ist ein Hybrid aus „Kolloquien“ und „Soliloquien“.) So halten ein Makrohistoriker, ein Literaturkritiker, ein Theologe sowie ein Opiniater (Facharzt für Erkrankungen des Meinungsapparats) zunächst ein Impulsreferat und äußern sich darauf in weiteren „Szenen“ zu Themen aus ihren Fachgebieten. Diese sind, wie zu erwarten, äußerst weitgespannt: vom „zivilisationsdynamischen Hauptsatz“ über die Geschichte der päpstlichen Kopfbedeckung (ein brillantes Kabinettstück!) über aphoristisch dargebotene „Fragmente über Gott und die Welt“ bis hin zu Auslassungen über den heutigen Kapitalismus. Manche längeren Auszüge wie eben die „Anekdote über die Tiara“ (aus Sphären II) sind in sich abgeschlossen und gut verständlich, andere wie der anderthalbseitige Auszug aus dem Werk Zorn und Zeit geben in ihrer Verknappung nur eine vage Ahnung von dem, was dort auf 350 Seiten entfaltet wird.

Alles in allem: Dieses Brevier bietet eine launige, facettenreiche Einführung in Sloterdijks Denken. Sein Karlsruher Freund und Kollege Peter Weibel, der die Idee zu den Polyloquien hatte, wollte damit die Fähigkeit Sloterdijks würdigen, „in kurzen Sätzen oder in Kapitellänge blitzartig einschlagende Einsichten zu formulieren, die ihre illuminierende Kraft der sprachlichen Form verdanken“. Das ist vollauf gelungen.

Titelbild

Peter Sloterdijk: Neue Zeilen und Tage. Notizen 2011-2013.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
540 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428443

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Peter Sloterdijk: Polyloquien. Ein Sloterdijk-Brevier.
Herausgegeben von Raimund Fellinger.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
86 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518427750

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch