Die gefährliche Lust auf Knopfdruck

Die Münchner Paar- und Sexualtherapeutin Heike Melzer warnt vor den Risiken und Nebenwirkungen einer digital beschleunigten und entfesselten Sexualität

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Heike Melzer recht hat, dann haben der australische Prachtkäfer und der Mensch eine Gemeinsamkeit: Beide werden heute Opfer einer fatalen Mischung aus evolutionärer Programmierung und technischem Fortschritt. So treffen Käfermännchen, die ein Weibchen suchen, immer häufiger auf weggeworfene Bierflaschen. Weil diese aber zufällig bestimmten Schlüsselreizen in überdimensionierter Form entsprechen, kopulieren sich die armen Käfermännchen mit den Flaschen buchstäblich zu Tode.

Was das mit uns Menschen zu tun hat? Eine ganze Menge, behauptet die Autorin in Scharfstellung. Die neue sexuelle Revolution – Eine Sexualtherapeutin spricht Klartext. Denn wie die Münchner Paar- und Sexualtherapeutin in ihrem Praxisalltag seit einigen Jahren beobachtet, wird auch in menschlichen Beziehungen der Sex zunehmend zur Rarität. Stattdessen fließe die Lust in andere, vorzugweise digitale Kanäle. Um sich dort auf eine Weise auszutoben, die Betroffene um Beziehung, Familie, Karriere und Gesundheit bringen kann: „Durch die technischen Fortschritte haben sich […] viele Bereiche vor allem in der Sexualität enorm beschleunigt. Die Reizintensität und die Vielzahl an möglichen sexuellen Verlockungen sind in den letzten Jahrzehnten explodiert.“

Man muss nur an die Entwicklung der Pornografie denken: Frühere Generationen erfreuten sich an Beate-Uhse-Heftchen, anderen genügten schon die Wäscheseiten der Versandhauskataloge. Heute gibt es dagegen nicht nur Internet-Portale mit unzähligen Videoclips für jede erdenkliche Vorliebe; längst werden auch Virtual-Reality-Filme produziert, bei denen man völlig ins Geschehen eintauchen kann. Nur dass ein solches stundenlanges Sich-Verlieren in virtuellen Sex-Welten laut Melzer unser Lustzentrum zwangsläufig überfordert, weshalb die Zahl der Pornosüchtigen stark ansteige. Wie bei der Abhängigkeit von Drogen werde dann immer mehr und immer stärkerer Stoff konsumiert. Einer von Melzers Patienten bezeichnet seinen zwanghaften Pornokonsum drastisch als „eine Art tägliche Selbstvergewaltigung“.

In ihrer Alarmschrift beschreibt Melzer noch zahlreiche andere bedenkliche Entwicklungen. So weisen beispielsweise auch die immer raffinierteren Sexspielzeuge für Erwachsene, insbesondere für Frauen, inzwischen ein enormes Suchtpotenzial auf. Wozu noch ein realer Partner, wozu frustrierende Diskussionen im Ehebett, wenn man sich den garantierten Höhepunkt doch auf Knopfdruck verschaffen kann? Und wer dennoch ein lebendiges Gegenüber möchte, für den gibt es Seitensprung-Apps wie „Tinder“.

Mit den Folgen dieser Entwicklungen hat Melzer täglich in ihrer Praxis zu tun: „Obwohl ich als Paar- und Sexualtherapeutin mein Brot weiterhin mit Lustlosigkeit, sexuellen Funktionsstörungen, Affären, Eifersucht und Streitigkeiten verdiene, hat sich in den letzten zehn Jahren meiner Tätigkeit die Tonalität und Intensität der Themen maßgeblich verändert.“

Eine steigende Anzahl ihrer Klienten war zum Beispiel noch nie mit einem anderen Menschen im Bett, andere dagegen suchen zwanghaft immer neuen, unverbindlichen Gelegenheitssex. Oder leiden darunter, dass sie für die Berührungen eines lebendigen Gegenübers nach allzu viel Selbstverwöhnung mit Hochfrequenzvibrationen unempfindlich geworden sind. Auch steigt die Zahl jener, so Melzer, die so skurrile sexuelle Vorlieben entwickeln, dass sie kaum noch einen kompatiblen Partner finden können. Während heute oft schon junge Männer unter Erektionsstörungen leiden, jonglieren sich andere mit Seitensprüngen hemmungslos um Ehe und Familie.

Zu Beginn meiner Praxiszeit haben mich bereits Klienten mit mehr als zwei Geliebten ins Staunen versetzt. Heute passiert das nur noch, wenn Klienten neben anspruchsvollem Job, Lebenspartner und Kindern mit mehr als fünf parallelen Liebschaften aufwarten oder fünfstellige Beträge pro Monat für käuflichen Sex und Affären ausgeben.

Doch Melzer verteufelt in ihrem mit einer gehörigen Portion Humor und Sarkasmus geschriebenen Buch diese neuen sexuellen Optionen nicht einseitig. Schließlich könne ein guter Porno ein eingeschlafenes Liebesleben ebenso wieder in Schwung bringen wie ein neues Spielzeug. Es sind vielmehr die genannten Risiken und Nebenwirkungen der neuen erotischen Möglichkeiten, auf die sie aufmerksam macht. Zum Glück verrät sie aber auch Auswege, um dem Schicksal des australischen Prachtkäfers zu entgehen: Für leichtere Fälle genüge bereits die Rückbesinnung auf eher klassische Spielzeuge wie eine Feder, für schwere sei dann aber doch eine digitale Fasten- oder Entziehungskur nötig, so die Therapeutin. Keine Frage: Mit Scharfstellung hat Melzer ein provokantes Buch vorgelegt, das für so manche Diskussionen sorgen dürfte.

Titelbild

Heike Melzer: Scharfstellung. Die neue sexuelle Revolution – Eine Sexualtherapeutin spricht Klartext.
Tropen Verlag, Stuttgart 2018.
240 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783608503562

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch