Bilden als kulturelles Konzept

Gisela Brinker-Gabler nimmt einen neuen Aspekt im Schaffen Lou Andreas-Salomés in den Blick

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über das literarische, kulturwissenschaftliche und psychoanalytische Werke umfassende Œuvre Lou Andreas-Salomés sind in den letzten Jahrzehnten etliche Untersuchungen erschienen. Doch noch immer gibt es neue Aspekte zu entdecken und zu analysieren. Einen solchen Aspekt hat die renommierte Literaturwissenschaftlerin Gisela Brinker-Gabler bereits 2012 ausfindig gemacht und in ihrem Band Image in Outline: Reading Lou Andreas-Salomé vorgestellt und beleuchtet: Lou Andreas-Salomés „Bildepistemologie“. Nun ist ihr Buch unter dem Titel Lou Andreas-Salomé. Bild im Umriss. Eine Lektüre von Reiner Ansén, ebenfalls ein Kenner Andreas-Salomés, ins Deutsche übertragen worden. Nicht von Ungefähr ist der Untertitel nahezu wortgleich mit demjenigen von Andreas-Salomés „emblematisch komponiertem“ Essay Der Mensch als Weib. Ein Bild im Umriss. Dieser steht im Zentrum des Interesses von Brinker-Gabler. Hinzu treten zwei weitere Publikationen, die ebenfalls Andreas-Salomés „Denkform des Prozesses des Bildens“ verdeutlichen: Russland mit Rainer und „ihr spätes Erinnerungsbuch an Rilke“, das zwei Jahre nach dessen Tod erschien.

Ziel der vorliegenden Untersuchung ist „die Rekonstruktion von Andreas-Salomés spezifisch moderner Denk- und Schreibpraxis, mit der sie aus der Sicht einer kompromisslosen und kreativen Denkerin vielschichtige neue Sichtweisen auf Gender und Sexualität, Kultur, Religion und Kreativität eröffnet“. Hierzu rekonstruiert die Autorin zunächst anhand einer Lektüre der drei Texte „zentrale Themenstellungen und ‚Konzepte‘“ Andreas-Salomés, „um einen Rahmen für die Lektüre und kritische Einordnung ihres Denkens zu ermöglichen“. Sodann verortet sie deren Werk in zeitgenössischen „Feldern und Diskursen“ wie der Lebensphilosophie, der Hermeneutik, der Phänomenologie, der Erforschung des Gedächtnisses, der Psychoanalyse sowie schließlich der „imaginistischen Wende“ in bildender Kunst und Literatur. Sie alle „prägen“ der Autorin zufolge Andreas-Salomés Werk. „Bildlichkeit“ sei dabei stets „von vorrangiger Bedeutung“. Zuletzt beleuchtet die Autorin Andreas-Salomés Bildepistemologie vor dem „Hintergrund heutiger Theorien“.

Einen spezifischen Erkenntnisgewinn ermögliche Andreas-Salomés Bildepistemologie dadurch, dass sie im Unterschied zu „Vorstellungen“, „die allein auf der Basis rationaler Kenntnis von Objekten“ beruhen, „einen Raum für das Zusammenspiel“ eröffne, „der sich nicht einer einzigen alles erfassenden Macht unterordnen“ lasse. Auf diese Weise korrespondiere Andreas-Salomés Bildepistemologie mit einem zweiten „Schlüsselbegriff ihres Denkens“, dem „Konzept der Wechselwirkung“. Mit dessen Hilfe gelinge es ihr, „vertraute Dichotomien des westlichen Denkens in Verflechtungen zu verwickeln“, und damit dessen binär-hierarchisch organisiertes Ordnungsschema aufzubrechen.

Brinker-Gabler begreift Andreas-Salomés Bildepistemologie als „Ästhetik des ‚Bildens‘“, „in dem das Moment des Bildens im Sinne der Bilderweckung und das Moment des Bildens im Sinne der Gestaltung und der Hervorbringung zusammenkommen“. Ihr Begriff des Bildens bezeichne somit „sowohl den Prozess des Formierens (in der Sprache) wie auch des Transformierens des Umrisses in ein Bild im Umriss“. Diese Transformation führe zu einer „neuen ‚Form‘, die den (vorbegrifflichen) Umriss nicht vollständig erfasst, sondern vielmehr dem ganzen Prozess in seinem Werden Raum“ lasse.

Im ersten der insgesamt fünf Kapitel unternimmt es Brinker-Gabler, „Andreas-Salomés Beitrag zur damaligen Debatte um die ‚Frauenfrage‘“ zu analysieren und zugleich aufzuzeigen, dass sie „die klare Trennlinie zwischen Natur und Kultur oder biologischer und gesellschaftliche Geschlechtszugehörigkeit [verwarf] und die sexuelle Differenz [betonte]“. Zumindest letzteres ist keine ganz neue These.

Andreas-Salomés „Strategie der Einführung von Differenz in den Geschlechterdiskurs“ ist allerdings keineswegs so emanzipatorisch, wie sie in Brinker-Gablers Erörterung erscheint. Zwar hat die Autorin zweifellos ein durchaus emanzipiertes Leben geführt. Ihre Geschlechtertheorien und ihr Weiblichkeitsbild waren es aber mitnichten. Das Konservative, ja Reaktionäre an Andreas-Salomés Idealisierung von Mutterschaft etwa bleibt bei Brinker-Gabler stark unterbelichtet und wird schon gar nicht kritisiert. Viel mehr, als dass Andreas-Salomé „mithilfe der Gestalt der Mutter das Paradigma Aktivität-Passivität um[wertet]“, weiß sie nicht dazu zu sagen. Nicht ohne Grund hat schon Hedwig Dohm Andreas-Salomé den AntifeministInnen zugeschlagen. Immerhin räumt die Autorin ein, dass Andreas-Salomé „eine ganz schlichte Definition der ‚Frauen-Emanzipation‘“ hatte und die „unterschiedlichen Positionen innerhalb der zeitgenössischen Frauenbewegung“ nicht beachtet habe.

Andreas-Salomés – entgegen der Einschätzung Brinker-Gablers – doch sehr stark zu Biologismen neigende Geschlechtertheorie ist auch dadurch nicht zu retten, dass sie ‚die‘ Frau höher bewertet als ‚den‘ Mann. Brinker-Gabler konstatiert diese Höherbewertung allerdings nicht. Zwar finde Andreas-Salomé „im Weiblichen eine ‚größere Harmonie‘ und Selbstgenügsamkeit, während das Männliche durch Unruhe, stärkere Aktivität, Spaltung, Fragmentierung gekennzeichnet ist“, doch da „beide Modi gleichrangig“ seien, stelle „sich die Frage der Hierarchie oder des höheren Wertes nicht“. Vielmehr sei  gerade „die Verwischung der Trennlinie zwischen ‚der‘ Frau und ‚den‘ Frauen sowie zwischen den Extremtypen Mann und Frau“ ein wesentlicher „Teil ihres Projekts“. Diese Verwischung stehe im Zentrum eines „‚emblematischen Prozesses‘ der Zusammenführung von Visuellem und Textuellem, die ermöglichen soll, dass etwas anderes, etwas Dazwischenstehendes in Erscheinung treten kann“. Die Frau selbst bewege sich diesem Konzept gemäß „in einer Zwischensphäre, d.h. in einem transitorischen Seinsraum, in dem sie nicht mehr undifferenziert und noch nicht differenziert“ sei. Hieraus folge, „dass sich die Frau zugleich innerhalb und außerhalb der Normen der Individualität“ befinde.

So macht Brinker-Gabler bei Andreas-Salomé eine „Umwertung von Männlich und Weiblich“ aus, die „beide als gleichberechtigte Lebensformen einstufte“. Dies scheint etwas widersprüchlich. Denn wenn das Männliche und das Weibliche als gleichberechtigte Lebensformen gelten sollen, handelt es sich nicht um eine Um- sondern eine Neubewertung. Dann allerdings ginge die Anspielung auf Friedrich Nietzsche verloren. Die „Potentiale von Andreas-Salomés Projekt und damit einhergehende Probleme“ verdeutlicht die Autorin vor dem Hintergrund des von Luce Irigaray entwickelten „Konzepts der sexuellen Differenz“, zu dem sie „offensichtliche Parallelen“ ausmacht.

Im zweiten, sich der Ästhetik Andreas-Salomés widmenden Kapitel, geht Brinker-Gabler der Bedeutung des Sinnbildes (im Unterschied zur Allegorie und zum Symbol) bei Andreas-Salomé nach. Das „traditionelle Sinnbild“, erläutert die Autorin, wird aus drei Teilen gebildet: dem „Motto“, dem „(erzählten) Bild“ und der „Interpretation oder Deutung“. Die „Dynamik des sinnbildlichen Prozesses“ entfalte sich „im und durch das Zusammenspiel aller drei Elemente“. „Aus diesem Prozess heraus“ erzeuge das Sinnbild „etwas anderes, ein ‚Viertes‘, könnte man sagen, das an sich selbst undarstellbar bleibt“. Damit greift die Autorin – offenbar, ohne sich dessen bewusst zu sein – ein kulturgeschichtliches Ordnungsschema auf, das zuerst von Else Jerusalem entdeckt und später von Reinhard Brandt ausformuliert wurde.

Nicht nur Frauen werden gebildet, sondern auch Staaten, namentlich Russland, wie bereits der Titel des Abschnittes „Russland Bilden oder die kulturelle Differenz“ verdeutlicht. Beleuchtet die Autorin Andreas-Salomés Bildepistemologie im Abschnitt über deren Ästhetik als Sinnbild, so im Russland-Abschnitt als Ikone. In Andreas-Salomés Russland-Buch sei es „speziell die russische Ikone, die Andreas-Salomés Herangehensweise an Russland und die kulturelle Differenz prägt“. Da sich die Reisende dem Land „über die Ikone zuwendet“, so die zentrale These dieses Kapitels, „spaltet sie das Eine – den Westen als Zentrum der Modernität –, indem sie Russland bildet, und zwar ein im Werden begriffenes Russland“.

Ebenso wie bereits im Abschnitt über die sexuellen Differenz, konzentriert sich die Autorin auch in Andreas-Salomés Buch über ihre mit Rilke unternommene Reise nach Russland auf deren „Gedanken des Bildens und die Frage nach dessen Potenzial zur Unterminierung der ‚Gleichförmigkeit‘, was in diesem Kontext das herrschende Paradigma des ‚progressiven Westens‘ im Gegensatz zum ‚zurückgebliebenen Russland‘ bedeutet“. So will sie zeigen, ,,dass Andreas-Salomé in Russland eben das findet, was sie finden will; zugleich aber entwickelt sie ein ‚Sehen und Lesen‘ Russlands, das hellhörig und offen für die kulturelle Differenz ist“. Wieder schlägt die Autorin eine Brücke zu Theoremen Irigarays, diesmal aber auch zu Emmanuel Levinas und Julia Kristeva.

Im Zentrum des Abschnittes „Nachtrauer: Rilke Bilden oder die moderne Kreativität“ steht Andreas-Salomés Rilke-Buch, in dem die Autorin einen „bahnbrechenden Beitrag zur Beziehung von Literatur und Psychoanalyse“ sieht. Aus Andreas-Salomés „Nachtrauer“ erhebe sich in der Publikation „Rilkes Bild im Umriss“ und ermögliche der Trauernden „die Rückkehr in eine verlorene Welt“.

Ungeachtet einiger etwas dunkler Passagen und einer zu wohlwollenden Interpretation der Geschlechterdifferenz bei Andreas-Salomé bietet das vorliegende Buch eine neue, theoriegesättigte Deutung eines bislang wenig beachteten Aspektes in deren Schaffen. Somit bietet es einen wichtigen Beitrag zur Andreas-Salomé-Forschung.

Titelbild

Gisela Brinker-Gabler: Lou Andreas-Salomé. Bild im Umriss. Eine Lektüre.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Reiner Ansén.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2018.
169 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783826062988

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