Garten und Gralsburg, Magnetberg und Minnegrotte

Ein von Tilo Renz, Monika Hanauska und Mathias Herweg herausgegebenes Handbuch versammelt literarische Orte in deutschsprachigen Erzählungen des Mittelalters

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michel Foucault bestimmte in seinem richtungsweisenden Text „Von anderen Räumen“ (1967) sein Zeitalter als ein solches des Raums. Nach einer Lektüre des von Tilo Renz, Monika Hanauska und Mathias Herweg herausgegebenen Handbuchs mag es scheinen, dass schon das Mittelalter als ein Zeitalter des Raums begriffen werden kann. Oder, wie Foucault bemerkte: Der Raum, der „heute den Horizont unserer Bemühungen, Theorien und Systeme bildet“, stelle keine Neuerung dar. Vielmehr habe in der abendländischen Erfahrung der Raum selbst eine Geschichte: Im Mittelalter könne „Raum“ als eine hierarchisierte Menge von heiligen und profanen, städtischen und ländlichen, geschützten oder schutzlosen Orten begriffen werden. Für die kosmologische Theologie habe es Orte oberhalb des Himmels und solche im Himmel gegeben, denen wiederum die irdischen Orte gegenübergestellt wurden. Diese Hierarchie, diesen Gegensatz unterschiedlicher Orte könne man als den mittelalterlichen Raum bezeichnen, der einen Raum der Lokalisierung darstelle und sich mit Galilei geöffnet und schließlich aufgelöst habe in die Konstitution eines unendlichen Raums hinein. Seit Galileo Galilei und seit dem 17. Jahrhundert sei sodann „Ausdehnung“ an die Stelle von „Lokalisierung“ getreten, im 20. Jahrhundert wiederum „Lage“ an die Stelle von „Ausdehnung“, welche die „Lokalisierung“ ersetzte.

Spatial oder topographical turn: Die Diskurse zum Raum-Begriff sind vielfältig und umfassen philosophisches und naturwissenschaftliches, technisches und mediales, soziales und politisches, psychologisches und ästhetisches Denken. Nach Aleida Assmann sieht sich das „neue Interesse am Raum“ durch verschiedene Impulse angestoßen, zu denen die wirtschaftliche Relevanz des ‚Standortfaktors‘ ebenso gehöre wie die zunehmende touristische Bedeutung kultureller Orte und historischer Stätten. Jenseits geographischer Räume eröffnen sich zudem virtuelle Räume und mit ihnen neue Welten. Für Zeit und Raum gilt Assmann zufolge, dass die grundsätzlichen Kategorien der Wahrnehmung anthropologische sind und vom menschlichen Körper ausgehen.

Hanauska, Herweg und Renz versammeln in ihrem mehr als 700 Seiten starken Handbuch 43 Orte, die in der deutschsprachigen Erzählliteratur des Mittelalters eine bedeutungstragende Rolle spielen. Dabei werden sowohl die Arten der sprachlichen Erzeugung der Orte wie ihre Funktion für den Gang und die Deutung der Handlung, des Weiteren literarhistorische und gattungsspezifische Bezüge, in den Blick genommen. Anspruch des Bandes ist es, sowohl die Ergebnisse der jüngeren raumanalytischen Forschung zusammenzuführen als auch eigenständige Untersuchungen vorzustellen.

Die Beiträge sind alphabetisch geordnet, ein vorangestellter Index verzeichnet eine systematische Liste der Lemmata, die von „vorgefundenen Orten“ wie Fluss, Tal, Höhle und Wüste, „geschaffenen Orten“ wie Bad, Gefängnis, Klause hin zu „geographischen Orten“ wie Babylon und Indien, „Verortungen fremder Welten“ wie Ferne-Utopien sowie schließlich zu „Orten des Übergangs“ wie Brücke, Grenze oder Pfad reicht. Somit bietet das Handbuch ein weit gespanntes, fülliges und in sich ausdifferenziertes Panorama literarischer Orte. Konkrete Orte und anschaulich gestaltete räumliche Konstellationen werden aus motivgeschichtlicher und erzähltheoretischer Perspektive erfasst. Dabei präsentieren die Beiträge ihre Beobachtungen stets nah an den Primärtexten. Im Sinne einer Motivgeschichte behandelt der Band literarische Orte zugleich als anschauliche wie inhaltlich bedeutsame Elemente der erzählten Welt(en). Er verfolgt, wie die Herausgeber im Vorwort bemerken, die historischen und kontextspezifischen Veränderungen durch die verschiedenen Genres hindurch und beleuchtet entstehungs- und herkunftsgeschichtliche Aspekte. Die Beiträge rekonstruieren die historische Auffassung des jeweiligen Ortes, indem sie nach den besonderen Verfahren und Formen fragen, durch die Orte sprachlich hervorgebracht werden. Somit leistet das Handbuch auch einen Beitrag zur Erforschung historischer Erzählformen des Raums. Die Art der Erschaffung von Orten in der erzählten Welt literarischer Texte stellt, neben der Tradierung und Funktionalisierung von Orten, einen Schwerpunkt der Beiträge dar. So gewährt der Band Einblicke in den Bau beziehungsweise die Beschaffenheit fiktionaler, sprachlich geschaffener Welten. Wie Umberto Eco in seiner „Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘“ dargelegt hat, ist es, um eine Geschichte zu erzählen, vonnöten, zuallererst eine „Welt“ zu konstruieren, so reich wie möglich ausgestattet bis hin zu den kleinsten Details: „Das erste Jahr der Arbeit an meinem Roman verging mit dem Aufbau der Welt. Lange Listen der Bücher, die in einer mittelalterlichen Bibliothek stehen konnten (…) ausgedehnte architektonische Studien, anhand von Bildern, Fotos und Grundrissen in der Enzyklopädie der Architektur, um den Plan der Abtei festzulegen, die Entfernungen, ja selbst die Anzahl der Stufen einer Wendeltreppe.“ Der Ortsbegriff des Handbuchs, bemerken Renz et al., zeichne sich dadurch aus, dass räumliche Konstellationen „in ihrer Konkretheit, Materialität und sinnlichen Wahrnehmbarkeit“, mithin in ihrer Plastizität, betrachtet würden.

Räume werden in literarischen Texten dargestellt (Abbildung oder mimesis) und beschrieben. Zugleich werden sie (im Sinne von poiesis) sprachlich erzeugt. Literarische Texte generieren Räume, fiktionale Welten. Orte entstehen in Texten — und als Texte. Sie entstehen in der Wahrnehmung von Figuren und durch deren Bewegungen und Handlungen in Räumen. Dass und auf welche Weise Räume durch Bewegung erzeugt würden, konstatieren die Herausgeber, habe nicht nur mit grundlegenden Eigenschaften des Erzählens zu tun, sondern auch mit den jeweiligen Erzählkonventionen eines kulturellen Zusammenhangs. Im Handbuch wird den unterschiedlichen Verfasstheiten von Räumen in der Literatur Rechnung getragen, wobei der Begriff des „konkreten Ortes“ einen Ausgangspunkt der Beiträge bildet. Dabei umfasst der Begriff des Ortes im Handbuch ein weites semantisches Spektrum. Auch Dynamiken zwischen unterschiedlichen räumlichen Konstellationen geraten in den Blick der analytischen Betrachtung. Die Beiträge sind dreigliedrig strukturiert: Auf Beobachtungen zur Wort- und Begriffsgeschichte eines Ortes folgen Überlegungen zu dessen formalen Eigenheiten (Darstellungsmerkmale). Sodann wird untersucht, wie und mit welchen Effekten die Orts-Entwürfe in narrative Zusammenhänge eingebettet sind. Der Schwerpunkt des ausgewählten Textkorpus liegt bei Texten der Zeit um 1200.

Es ist ein großes Vergnügen, sich durch die einzelnen Beiträge hindurch zu lesen: Mit und in der Lektüre eines jeden Beitrags entsteht imaginär ein neuer Raum. Man reist an fiktionale Orte, bewegt sich durch erzählte Landschaften und Figur-Raum-Verhältnisse. (Ästhetische) Nähe und (historische) Ferne treten in ein dynamisches Wechselspiel und erzeugen ein auratisches Gefüge: Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag, und Erscheinung einer Nähe, so fern sie sein mag … Die narrativen Räume zeichnen sich durch ihren Inszenierungscharakter und ihre Sinnlichkeit aus, verschmelzen Materialität und Medialität, zeigen sich als Räume einer (visuellen, auditiven, synästhetischen) Wahrnehmung, Performanz und Imagination, als „andersartige“ Räume. Raum und Landschaft sind, wie Uta Störmer-Caysa schreibt, nicht ontologisch früher als der Held, nicht schon als vorhanden gedacht, ehe der Protagonist überhaupt auftaucht, sondern vielmehr gleichrangig mit ihm und mit seiner Bewegung verwandlungsfähig — was, so sei angemerkt, „innere“ und „äußere“ Räume miteinander verschaltet. Björn Reich bemerkt in seinem Beitrag zum „Saal“, dass dieser als Bilderraum bisweilen parallelisiert werde mit dem mentalen Innenraum der imaginatio/Einbildungskraft — eine Parallelisierung, die durch die Doppeldeutigkeit des mittelhochdeutschen bilde-Begriffs forciert werde, der sich, wie das lateinische imago, sowohl auf äußere als auch auf innere Bilder/imagines beziehen lasse. Die figurative Bedeutung von „Raum“ lässt einen bestimmten Ort in ein unauflösliches Wechsel- und Verweis-Spiel mit der Identität einer Figur treten.

Aus der Fülle der Beiträge soll derjenige von Silvan Wagner: „Spur, Fährte“ herausgegriffen werden, ein Glanzstück nicht allein in textanalytischer, sondern vor allem in philosophisch-gedanklicher Hinsicht. Das Begriffsfeld „Spur, Fährte“, schreibt Wagner, sei im Mittelhochdeutschen geradezu ein Paradigma für narrative Raumgenese, auch wenn es bislang in der Forschung weitgehend marginal behandelt worden sei. Die mittelhochdeutschen Begrifflichkeiten für „Spur“ bezeichneten zum Großteil sowohl die Handlung, die die Spur erzeuge, als auch das Ergebnis dieser Handlung. Diese Verschränkung von Verlauf und Ort, von Zeit und Raum im Phänomen der Spur sei dem mittelhochdeutschen Diskurs weitaus bewusster als dem neuzeitlichen und stehe in engster Verbindung mit Narrativität: Die Spur verbinde stets je zwei unterschiedliche Zeit- und Raumpunkte miteinander und erfordere die Verfolgung der Spur als Handlungsverlauf beliebiger Dauer und Erstreckung. Der Verursacher der Spur teile nicht mehr das Hier und Jetzt des Verfolgers, und dennoch bestehe eine mittelbare Verbindung zwischen Verfolger und Verursacher: „In der Zukunft (und am Ende der Spur) werden sich beide im künftigen Hier und Jetzt treffen“. Die Spur als konkreter Ort eröffne immer auch einen virtuellen Raum, der Realität zu werden verspreche: „In der Spur ist der Verursacher damit paradoxerweise anwesend und abwesend zugleich“, was die Spur zu einem Zeichen beziehungsweise einer Zeichenkette mache. Wagner sieht die Spur insofern als ein Paradigma für narrative Raumgenese, als sie als literarischer Ort zugleich Bewegung, Handlung und Interaktion erzwinge, wodurch der erzählte Raum seinerseits erst entstehe.

Zinne und Kemenate als Orte der Frauen, Wüste als Fremde und Gegenort, Minnegrotte als Ort der Liebeserfüllung und einer vollendet artifiziellen Architektur … die Herausgeber schaffen mit dem Handbuch ein Kompendium, das man jederzeit gerne als Nachschlagewerk greifbar haben möchte. Ein Standardwerk für Studierende und Forschende aus dem Bereich der Mediävistik wie auch für alle an literarischen Räumen und kulturwissenschaftlichen Raumtheorien Interessierte. Das Buch eignet sich sowohl als Lexikon wie auch als Lese-Buch, da man, über die Orte, zentrale Einblicke in die Erzählungen selbst, die Figuren und Handlungsverläufe, erhält. Auch ist es lesbar als eine Einführung in deutschsprachige Erzählungen des Mittelalters, somit ein Studienbuch im besten Sinne. Sein Umfang und sein (nicht allein materielles) Gewicht lassen einen in Zeiten der Verflüchtigung und Virtualisierung einmal mehr die Präsenz eines gut und satt in den Händen liegenden Buchs genießen. Allein der stolze Preis (198 Euro) ist als Bürde zu betrachten: Welches Budget — ganz gleich, ob das eines Studenten, einer Universitätsbibliothek oder einer Deutsch-Fachschaft — lässt die überaus wünschenswerte Anschaffung dieses Bands zu?    

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Tilo Renz / Mathias Herweg / Monika Hanauska (Hg.): Handbuch literarischer Orte in der deutschen Literatur des Mittelalters. Ein Handbuch.
De Gruyter, Berlin 2018.
712 Seiten, 198,00 EUR.
ISBN-13: 9783050058559

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